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Synchron im Geiste: Die neuronale Grundlage des Schwarmverhaltens

Ein Schwarm wilder Schneetauben
Ein Schwarm wilder Schneetauben in der Nähe von Trongsa, Bhutan. Copyright: Christian Ziegler

Wenn Tiere in Schwärmen, Herden oder Gruppen gemeinsam unterwegs sind, passiert etwas im Gehirn der Tiere: Ihre Gehirn-Aktivitäten synchronisieren sich in Form einer geteilten mentalen Repräsentation des Raums. Dies legt eine neue Studie nahe, die Ergebnisse stellen gängige Theorien darüber infrage, wie kollektive Bewegung in der Natur entsteht. 

Wenn hunderte Vögel als riesiger Schwarm über den Himmel ziehen, bietet sich uns ein faszinierendes Naturschauspiel. Doch wie entsteht dieses kollektive Bewegungsverhalten, das nicht nur Schwärme von Vögeln, sondern zum Beispiel auch Heuschrecken, Fische und viele andere Arten an den Tag legen?

Mohammad Salahshour und Iain Couzin vom Exzellenzcluster Kollektives Verhalten (CASCB) der Universität Konstanz und dem Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie haben ein theoretisches Modell entwickelt, das neurobiologische Prinzipien integriert und bestehende Annahmen über die Entstehung von Schwarmverhalten infrage stellt. In ihrem aktuellen Artikel in Nature Communications zeigen sie, dass Schwarmverhalten auf natürliche Weise aus einer einfachen und im Tierreich weit verbreiteten neuronalen Architektur entstehen kann – dem sogenannten Ring-Attraktor-Netzwerk. Anders als seit Jahrzehnten angenommen, wären die Tiere eines Kollektivs also während des Schwarmverhaltens nicht auf das Befolgen starrer Verhaltensregeln angewiesen. 

Ein Paradigmenwechsel in der Schwarmforschung
Zu Schwarmverhalten kommt es, so das neue Modell, weil sich die Gehirnprozesse der einzelnen Tiere über ihre Wahrnehmung miteinander verknüpfen. Dabei verarbeitet jedes Individuum seine Umgebung mithilfe eines Ring-Attraktors: Wir können uns dies wie eine Art kreisförmiges neuronales Netzwerk vorstellen, das Richtungen zu wahrgenommenen Objekten im Raum verfolgt. Auf diese Weise kann ein Tier seine Peilung zu den anderen Tieren der Gruppe im Verhältnis zu stabilen Umgebungsmerkmalen aufrechterhalten. Sobald viele Individuen miteinander interagieren, synchronisieren sich ihre neuronalen Aktivitäten, wie die Forschenden nun herausfanden. Dies führt wiederum dazu, dass die Tiere sich aneinander ausrichten, wodurch eine kollektive Bewegung entsteht.

Das bedeutet, dass koordinierte Gruppenbewegungen – anders als in bestehenden Theorien angenommen – direkt aus Navigations-Prozessen im Gehirn entstehen können. Seit den 1970er-Jahren ging man davon aus, dass die synchronisierten Bewegungen von Tiergruppen auf einfachen Verhaltensregeln beruhen – etwa sich an direkten Nachbarn auszurichten, Kollisionen zu vermeiden oder nahe beisammenzubleiben. Zwar konnten solche Regeln in Computermodellen schwarmähnliches Verhalten nachbilden, doch sie berücksichtigten nicht, wie Tiere ihre Umgebung tatsächlich wahrnehmen und verarbeiten. Wie das neue Modell zeigt, entsteht kollektive Bewegung, wenn Individuen die Richtungen anderer in Bezug auf stabile Umgebungsmerkmale repräsentieren und somit eine umgebungsbezogene, als „allozentrisch“ bezeichnete Perspektive einnehmen. Die Forschenden sprechen daher von „allozentrischem Schwarmverhalten“.

Ein Mechanismus, unzählige kollektive Verhaltensweisen
Entscheidend dabei ist, dass das Ring-Attraktor-Netzwerk nicht nur einfache Schwarmbildung ermöglicht, sondern eine Vielzahl kollektiver Verhaltensweisen hervorrufen kann – von plötzlichen Ausdehnungen des Schwarms bis zu reibungslosen, koordinierten Richtungswechseln. Empirische Studien, die an Fischen und Heuschrecken untersuchten, wie Tiergruppen scheinbar mühelos auf ihre Umgebung reagieren, unterstützen die Annahmen des neuen Modells. „Es ist eine elegante Lösung“, erklärt Salahshour. „Statt für jedes Verhalten neue Regeln zu benötigen, nutzen Tiere ein flexibles, integriertes System, das aus Einfachheit Komplexität schafft.“

Tiere müssen sich jedoch nicht auf eine einzige Art der Raumwahrnehmung verlassen. Sie können zwischen einer allozentrischen (umweltbezogenen) und einer egozentrischen (körperbezogenen) Perspektive wechseln – also zwischen der Repräsentation von Richtungen relativ zu stabilen, externen Umweltmerkmalen bzw. relativ zur Ausrichtung des eigenen Körpers. Ein schneller Wechsel zwischen diesen beiden Perspektiven verbesserte in Simulationen des Modells die Koordination und Stabilität des Schwarms, denn die Vorteile beider Systeme werden kombiniert: Die allozentrische Perspektive fördert die globale Ausrichtung der Schwarmmitglieder, während die egozentrische Sicht es den Tieren erlaubt, auf direkte Nachbarn zu reagieren und Kollisionen zu vermeiden.

„Diese Flexibilität ist das Geheimnis ihrer Anpassungsfähigkeit“, betont Couzin. „Das Gehirn bevorzugt nicht das eine oder das andere System – es nutzt beide, um in der Dynamik eines sich bewegenden Schwarms zu navigieren.“

Neue Perspektiven für die Schwarmrobotik
Komplexe Gruppenbewegungen können aus grundlegenden Navigationsfähigkeiten entstehen, die im Ring-Attraktor-Netzwerk des Gehirns kodiert sind. Diese Erkenntnis der Forschenden deutet darauf hin, dass für Schwarmverhalten keine spezialisierten neuronalen Schaltkreise erforderlich sind. Dies wiederum legt nahe, dass sich kollektives Verhalten möglicherweise mühelos aus einem universellen neuronalen Mechanismus entwickelt hat, der bereits bei solitär lebenden Vorfahren vorhanden war. Allozentrisches Schwarmverhalten schließt die Lücke zwischen Gehirn und Verhalten. Es zeigt, wie individuelle Kognition kollektive Intelligenz hervorbringt – und wie Ordnung aus Interaktion entstehen kann. Über das Tierreich hinaus kann dies künftig für die Robotik und künstliche Systeme relevant werden.

Das Modell eröffnet beispielsweise Perspektiven für die Schwarmrobotik, indem biologische und künstliche neuronale Netzwerke zusammengedacht werden. Roboter könnten sich so zum Beispiel dynamisch koordinieren – ohne GPS oder zentrale Steuerung –, indem sie das duale Navigationssystem des Gehirns nachahmen. Flexibel erlaubt es das Modell zudem, Funktionen wie Lernen, kollektive Wahrnehmung und Entscheidungsfindung zu integrieren. Vor allem jedoch, so die Forschenden, bietet es eine neue Perspektive auf die Ursprünge kollektiver Bewegung: als natürliches Ergebnis einer gemeinsamen räumlichen Wahrnehmungsperspektive im Gehirn.
 

Universität Konstanz


Originalpublikation:

Salahshour, M., Couzin, I.D. Allocentric flocking. Nat Commun16, 9051 (2025). doi.org/10.1038/s41467-025-64676-5

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