Ergebnisse der biowissenschaftlichen Forschung können zum Nutzen des Einzelnen, der Gesellschaft oder der Umwelt verwendet werden. Einige Ergebnisse bergen aber auch das Potential, von weniger wohlmeinenden Zeitgenossen missbraucht werden, um bewusst Schäden herbeizuführen und von diesen, bzw. von deren Folgen zu profitieren. Vor dieser „Zweifachen Nutzung“ (Dual Use) sind selbst Ergebnisse der Grundlagenforschung nicht vollständig gefeit.
Besorgniserregende biosicherheitsrelevante Forschung (Dual Use Research of Concern, kurz DURC) umfasst Arbeiten, die das Potential haben, Wissen, Produkte oder Technologien hervorzubringen, die direkt von Dritten missbraucht werden können, um das Leben oder die Gesundheit von Menschen, die Umwelt oder andere Rechtsgüter zu schädigen.
Ein bekanntes Beispiel ist die Rekonstruktion des Influenzavirus der Spanischen Grippe, die zwischen und 1920 in einer Pandemie bis zu 50 Millionen Todesopfer gefordert hat. Menschen zum Opfer gefallen waren. Im Jahre 2005 wollten Forscher in den USA diesen hoch virulenten Stamm rekonstruieren, um die hohe Pathogenität dieses Virus zu verstehen. Dadurch hofften sie, bessere Medikamente für Vorbeugung und Therapie entwickeln zu können. Die Forscher statteten daher einen relativ harmlosen Influenzavirus mit den kompletten kodierenden Sequenzen aller acht viralen Gensegmente des Virusstammes von 1918 aus – und schufen damit zugleich einen Bauplan für die Konstruktion eines für Menschen hochgefährlichen Mikroorganismus. Was, wenn dieser in die falschen Hände geraten würde? Dürfen derartige Ergebnisse überhaupt veröffentlicht werden? Müssen Sie es vielleicht sogar, damit die Allgemeinheit im Fall der Fälle mehr Chancen hat, adäquat zu reagieren? Schwierige Fragen, die heiß diskutiert wurde. Und kein Einzelfall: Inzwischen stehen mit dem Pockenvirus (2010) und dem Pest-Erreger Yersinia pestis weitere Gensequenzen von gefährlichen Krankheitserregern öffentlich zur Verfügung.
Große Diskussionen lösten 2012 zwei Arbeitsgruppen aus, die Varianten des Vogelgrippevirus H5N1 hergestellt hatten, die im Unterschied zum Wildtyp auch zwischen Säugetieren auf dem Luftweg übertragen werden. Damit wurde ein Virus, der relativ schlecht zu übertragen, dafür umso tödlicher ist, zu einem leichter zu übertragende, tödlichen Virus. Die Idee hinter diesem experimentellen Ansatz war die Befürchtung, dass eine entsprechende Mutation auch in der Natur jederzeit auftauchen kann – und darauf wollte man vorbereitet sein.
Auch die Anwendung von Forschungsergebnissen in anderen Kontexten oder auf andere Arten kann eine Gefahr darstellen. So wurde beispielsweise 2001 in Australien ein „Killer“-Mauspockenvirus entwickelt, um einer Mausplage Herr zu werden. Es besteht allerdings die Befürchtung, dass auf dieser Basis auch ein humanpathogenes Pockenvirus manipuliert werden könnte, um sein letales Wirkspektrum zu erweitern.
Dual Use ist nicht auf die Mikrobiologie und die Virologie beschränkt. Auch in den Bereichen Bioinformatik, Genomforschung, Systembiologie, Synthetische Biologie und Neurobiologie ist Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse vorstellbar. Auch das Wissen um gezielte Ausbringungssysteme (targeted-Delivery-Technologien) kann gezielt missbraucht werden. Hierbei handelt es sich nicht selten um Erkenntnisse, die gar nicht aus den Biowissenschaften, sondern beispielsweise aus Nanotechnologie oder Mikrofluidik stammen.
Ein an sich harmloses Forschungsergebnis könnte dann in Kombination mit relevanten Erkenntnissen oder Techniken aus anderen Bereichen ("konvergierdende Technologien") missbraucht werden und zu Gefährdungen führen. Diese Verknüpfung macht es für Einzelpersonen immer schwieriger, das Gefahrenpotenzial biowissenschaftlicher Erkenntnisse vollumfänglich zu erkennen.
Unter dem Titel "Bioverteidigung in der Ära der Synthetischen Biologie" haben die drei nationalen Akademien für Wissenschaft, Ingenieurwesen und Medizin der USA 2018 einen gemeinsamen Bericht veröffentlicht. Dieser evaluiert das Bedrohungspotenzial, das in Zukunft von der Synthetischen Biologie im Zusammenhang mit anderen (konvergierenden) Technologien ausgehen kann. Eine Zusammenfassung und Bewertung aus Sicht der GASB (German Association of Synthetic Biology) finden Sie hier.
Wie soll man also mit „Dual Use“ Forschung und ihren Ergebnissen umgehen, die zu gesellschaftlich wichtigen Zielen beitragen, gleichzeitig aber auch von Bioterroristen oder anderen Straftätern missbraucht werden können?
Der Deutsche Ethikrat hat dazu 2014 eine Stellungnahme vorgelegt, in der er zu der Bewertung kommt, dass zwar viele Regelungen existieren, aber für eine angemessene Risikovorsorgestrategie weitere bewusstseinsbildende und Maßnahmen sowie zusätzliche rechtliche Regelungen notwendig sind. Er empfiehlt, das Bewusstsein für Missbrauchsgefahren zu schärfen und einen bundesweit gültigen Forschungskodex. Darüber hinaus sieht die Stellungnahme des Ethikrates die Einsetzung einer DURC-Kommission sowie eine Beratunsgpflicht vor. Außerdem forderte der Ethikrat Wissenschaftler und Bundesregierung auf, sich auch in der Europäischen Union und international für die Entwicklung vergleichbarer Standards einzusetzen,
Die Dual Use Problematik und die daraus erwachsenden Risiken sind nach Einschätzung von Deutscher Forschungsgemeinschaft (DFG) und Nationaler Akademie Leopoldina durch rechtliche Regelungen nur begrenzt erfassbar. Wissenschaftler haben vielmehr aufgrund ihres Wissens, ihrer Erfahrung, insbesondere aber aufgrund der grundgesetzlich garantierten Forschungsfreiheit eine besondere persönliche ethische Verantwortung, die über die rechtliche Verpflichtung hinausgeht.
DFG und Leopoldina haben daher ebenfalls 2014 (aktualisiert 2022) Empfehlungen herausgegeben zu erforderlichen Abwägungen im Hinblick auf Risikoanalyse, Maßnahmen der Risikominderung, Prüfung der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen sowie den Verzicht auf Forschung als letztes Mittel.
Darüber hinaus sollen Forschungsinstitutionen die Rahmenbedingungen für ethisch verantwortbare Forschung schaffen. Große Bedeutung haben dabei die Instrumente der Selbstregulierung der Wissenschaft.
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Kommissionen für Ethik der Forschung und gemeinsamer Ausschuss
DFG und Leopoldina hatten in ihren Empfehlungen die Einsetzung von Kommissionen für Ethik der Forschung (KEF) empfohlen. Bis 2022 haben mehr als 120 deutsche Forschungseinrichtungen und -organisationen solche Kommissionen bzw. Beauftragte etabliert, die für die ethische Bewertung sicherheitsrelevanter Forschung zuständig sind und Forschende bei Bedarf beraten.
Ein Gemeinsamer Ausschuss von DFG und Leopoldina zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung (GA) hat 2015 seine Arbeit aufgenommen. Er verfolgt den Stand der Umsetzung der Empfehlungen an den Forschungseinrichtungen verfolgen (Monitoring) untreibt diese proaktiv voran. Er unterstützt die Institutionen bei der sachgerechten Implementierung der Empfehlungen, insbesondere der Etablierung der in den Empfehlungen vorgesehenen Kommissionen für Ethik sicherheitsrelevanter Forschung (KEFs). Der Gemeinsame Ausschuss soll für die KEF als Ansprechpartner für Fragen und als Plattform für den gebündelten Erfahrungsaustausch dienen.
Biowissenschaftliche Erkenntnisse können missbraucht werden – selbst dann, wenn sie in guter Absicht erbracht wurden. Der VBIO sieht die Dual Use-Problematik mit großer Sorge. Es muss daher alles getan werden, um Einzelpersonen, Gesellschaft und Umwelt vor dem Missbrauch biowissenschaftlicher Erkenntnisse zu schützen. Allerdings gilt auch hier die allgemeine Erkenntnis, dass sich Böser Wille, Kriminalität und Terrorismus letztlich auch den besten Gesetzen entziehen.
Die formale Regularien, Strukturen, Genehmigungs- und Verwaltungsprozesse können das Risiko von Dual Use nicht völlig abwenden. Aufwand und Nutzen stehen in keinem Verhältnis zu den damit einhergehenden Behinderungen und Verzögerungen der biowissenschaftlichen Forschung. In diesem Punkt hat der VBIO auch den Forderungen des Deutschen Ethikrates nach neuen rechtlichen Regelungen (2014) widersprochen.
Im Sinne einer angemessenen Risikostrategie sehr wohl erforderlich sind aber bewusstseinsbildende Maßnahmen auf allen Ebenen der Wissenschaftscommunity: An Hochschulen und Forschungseinrichtungen, in wissenschaftlichen Fachgesellschaften in Unternehmen und nicht zuletzt in Studium und Lehre.
Der VBIO hat bereits 2010 unterstützt von der Kommission Biologischer Fachbereiche erreicht, dass die Akkreditierungsagentur ASIIN das Thema Biologische Sicherheit in die Fachspezifisch ergänzenden Hinweise FEH für die Akkreditierung aufgenommen hat. Damit sind alle biowissenschaftlichen Fachbereiche aufgefordert, in den Curricula von Bachelor- und Masterstudiengängen Aspekte der Biologischen Sicherheit modular zu verankern.
Ziel muss es sein, jeden Biowissenschaftler von Beginn seiner Karriere an mit der Dual Use-Problematik zu konfrontieren und zu erreichen, dass er sich nicht mit der Einhaltung der gesetzlichen Regelungen begnügt sondern seine besondere ethische Verantwortung erkennt und dieser gerecht wird. Dies kann im Einzelfall auch den vorübergehenden oder endgültigen Verzicht auf ein Projekt bedeuten.
Der VBIO hat bereits früh Hochschulen und Forschungseinrichtungen aufgefordert, in finanzieller, organisatorischer und zeitlicher Hinsicht Räume zu schaffen, die ihren Mitarbeitern den Prozess der ergebnisoffenen, verantwortungsvollen Risikoanalyse ermöglichen. Hierzu gehören regelmäßige Schulungs-, Austausch- und Beratungsangebote.
Der VBIO unterstützt daher die 2015 auf Initiative von DFG und Leopoldina angeregten Kommissionen für Ethik der Forschung (KEF).
Darüber hinaus müssen auch jenseits der einzelnen Institutionen alle Möglichkeiten genutzt werden, in Netzwerken, Organisationen und Verbänden das Bewusstsein für die Dual Use-Problematik zu schärfen.
Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft
Stellungnahme des Ethikrates (2014)
Wissenschaftsfreiheit und Wissenschaftsverantwortung
Empfehlungen zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung (DFG/Leopoldina, Fassung von 2022, erstmals vorgelegt 2014)
Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft: Rechtfertigen die Erfolgschancen von Forschung ihre potentiellen Risiken?
Dokumentation des Symposiums der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Deutschen Ethikrates am 3. November 2014 in Halle/Saale 2015)
Gemeinsamer Ausschuss zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung
Hier finden Sie auch die Tätigkeitsberichte des Gemeinsamen Ausschusses zum Umgang mit Sicherheitsrelevanter Forschung (DFG/Leopoldina)
Mustersatzung für KEFs (pdf)
Die Mustersatzung für Kommissionen für Ethik sicherheitsrelevanter Forschung (KEFs)
(DFG/Leopoldina, 2016)
Verhaltenscodex: Arbeit mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen
Stellungnahme der Senatskommission für Grundsatzfragen der Genforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, 2013)
Exportkontrolle in Forschung & Wissenschaftd
Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) stellt Informationsmaterialien zur Verfügung, um Universitäten und Forschungseinrichtungen für die Ziele der Exportkontrolle zu sensibilisieren.