VBIO News http://example.com VBIO News de Copyright Fri, 05 Dec 2025 13:06:26 +0100 Fri, 05 Dec 2025 13:06:26 +0100 TYPO3 news-35024 Fri, 05 Dec 2025 11:40:47 +0100 DFG begrüßt EU-Übereinkunft zu neuen Züchtungstechniken https://www.vbio.de/aktuelles/details/dfg-begruesst-eu-uebereinkunft-zu-neuen-zuechtungstechniken Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) begrüßt die von der Europäischen Union bekannt gegebene vorläufige Vereinbarung zu einem neuen rechtlichen Rahmen für Pflanzen, die mit neuen Züchtungstechniken (New Genomic Techniques, NGT) hergestellt werden. Die Vereinbarung sieht vereinfachte Regeln für sogenannte NGT-1-Pflanzen vor, die auch durch konventionelle Züchtungsmethoden hätten entstehen können. Für sie entfallen die strengen Zulassungs- und Kennzeichnungspflichten, die für andere mit neuen Züchtungstechniken erzeugte Pflanzen (NGT-2) weiterhin gelten. „Diese Neubewertung von Pflanzen, die mit neuen Züchtungstechniken erzeugt werden, wird der Wissenschaft in Deutschland einen Schub verleihen“, sagt DFG-Präsidentin Professorin Dr. Katja Becker. „Der in den Verhandlungen erzielte politische Durchbruch stärkt den Forschungsstandort Europa und eröffnet neue Wege für eine klimaresiliente und ressourcenschonende Landwirtschaft. Wichtig ist nun, dass die neuen Regelungen auch zügig im EU-Parlament und im EU-Rat bestätigt und in allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden“, so Becker. 

„Die DFG engagiert sich seit Jahren für eine wissenschaftlich fundierte und risikoorientierte Regulierung neuer Züchtungstechniken“, ergänzt Professor Dr. Axel Brakhage, Vorsitzender der DFG-Senatskommission für Grundsatzfragen der Genforschung. „Gemeinsam mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben wir in verschiedenen Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass aus wissenschaftlicher Sicht genomeditierte Pflanzen, deren genetische Veränderungen auch natürlich oder durch konventionelle Züchtungstechniken entstehen könnten, keine besonderen Risiken aufweisen und daher wie konventionelle Sorten zu behandeln sind.“

Die nun vorgesehene Einstufung der NGT-1-Pflanzen folgt diesem wissenschaftlichen Befund und setzt einen zentralen Grundsatz um: Entscheidend sind die Eigenschaften des Produkts, nicht die Methode der Züchtung. Die DFG begrüßt ausdrücklich, dass damit eine streng verfahrensbezogene Regulierung überwunden wird, da diese Forschung und Innovation bislang erheblich eingeschränkt hat. Mit dem neuen Rechtsrahmen erhalten Forscher*innen sowie Züchter*innen in Deutschland und Europa verlässliche Perspektiven. Er erleichtert Freilandexperimente, stärkt die Wettbewerbsfähigkeit und schafft Voraussetzungen für die Entwicklung robusterer, nachhaltig produzierter Nutzpflanzen, die zu den Zielen des European Green Deal und der EU-Farm-to-Fork-Strategie beitragen können.

Damit die Reform gültig wird, muss die Einigung noch von einer Mehrheit im EU-Parlament und im EU-Rat bestätigt werden. Die DFG appelliert an die EU-Institutionen, dem nun erzielten Kompromiss zuzustimmen, um eine schnelle Umsetzung des neuen rechtlichen Rahmens zu gewährleisten: „Moderne Züchtungsverfahren bergen hohe Potenziale für Ernährungssicherheit, Nachhaltigkeit und die Anpassung an den Klimawandel – Potenziale, die durch eine zeitgemäße Regulierung verantwortungsvoll genutzt werden können“, bekräftigt DFG-Präsidentin Becker.

DFG


Zur Positionierung der Ständigen Senatskommission für Grundsatzfragen der Genforschung der DFG „Für eine zeitgemäße Regulierung der Produkte neuer Züchtungstechniken als Beitrag zur Bewältigung multipler Krisen des 21. Jahrhunderts“ (2023): https://www.dfg.de/resource/blob/176056/position-genomeditierte-pflanzen-de.pdf

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Wissenschaft Politik & Gesellschaft Nordrhein-Westfalen
news-35023 Fri, 05 Dec 2025 11:36:32 +0100 Defektes Enzym als Auslöser für Nervenverlust bei Demenz identifiziert https://www.vbio.de/aktuelles/details/defektes-enzym-als-ausloeser-fuer-nervenverlust-bei-demenz-identifiziert Forschende haben einen Mechanismus entschlüsselt, der Nervenzellen vor einem vorzeitigen Zelltod, der sogenannten Ferroptose, schützt. Ihre Studie liefert erstmals einen molekularen Nachweis dafür, dass Ferroptose Neurodegeneration im menschlichen Gehirn auslösen kann. Die Ergebnisse eröffnen neue Ansatzpunkte für die Erforschung zukünftiger Therapien – insbesondere bei schwerer frühkindlicher Demenz.  Das Enzym, das Nervenzellen schützt

Warum sterben Nervenzellen bei Demenz – und lässt sich dieser Prozess bremsen? Ein internationales Team um Prof. Marcus Conrad, Direktor des Instituts für Metabolismus und Zelltod bei Helmholtz Munich und Professor für Translationale Redoxbiologie an der Technischen Universität München (TUM), beschreibt im Fachjournal Cell, wie sich Nervenzellen gegen das Zelltodprogramm „Ferroptose“ schützen.

Zentral für diesen Schutzmechanismus ist das Selenoenzym Glutathionperoxidase 4 (GPX4). Eine einzelne Mutation in dem Gen, das für das Enzym GPX4 codiert, kann einen entscheidenden bis dato unbekannten Bestandteil der Enzymfunktion zerstören. Das führt bei betroffenen Kindern zu einer schweren frühkindlichen Demenz. Ist es voll funktionsfähig, taucht GPX4 mit einer Proteinschlaufe, einer Art „Finne“, von innen in die Zellmembran der Nervenzellen ein. Dort macht es schädliche Substanzen, die Lipidperoxide, unschädlich.

Surfen auf der Zellmembran

„Man kann sich GPX4 wie ein Art Surfbrett vorstellen“, sagt Conrad: „Mit der Finne in die Zellmembran eingetaucht, surft es auf dieser herum – und beseitigt schädliche Lipidperoxide.“ Eine bei Kindern mit frühkindlicher Demenz gefundene Punktmutation verändert jedoch die flossenartige Proteinschlaufe von GPX4: Das Enzym taucht nicht mehr so effizient in die Zellmembran ein, dass es seine Schutzfunktion erfüllen kann. Die Lipidperoxide schädigen nun die Membran, was letztlich die Ferroptose auslöst. Die Nervenzellen sterben ab.

Ausgangspunkt der Studie waren drei Kinder in den USA, die an einer extrem seltenen Form frühkindlicher Demenz leiden. Bei allen dreien liegt dieselbe genetische Veränderung im GPX4-Gen vor („R152H“). Dank der Zellproben eines betroffenen Kindes konnten die Forschenden die Auswirkungen der Mutation näher studieren und setzten die Zellen in einen stammzellartigen Zustand zurück. Aus diesen reprogrammierten Stammzellen wiederum züchteten sie Nervenzellen der Großhirnrinde sowie dreidimensionale Gewebestrukturen, die frühem Hirngewebe ähneln: sogenannte Hirnorganoide.

Auch im Labor zeigt sich: Ohne funktionsfähiges GPX4 entwickelt sich Demenz

Um zu verstehen, was im gesamten Organismus passiert, übertrug das Team die R152H-Mutation anschließend auf ein Mausmodell und veränderte so gezielt das Enzym GPX4 in unterschiedlichen Nervenzellen. Durch die veränderte GPX4-Funktion traten nach und nach Bewegungsstörungen auf, Nervenzellen gingen im Groß- und im Kleinhirn verloren und es entwickelten sich starke Entzündungsreaktionen – ein Bild, das gut zu den Beobachtungen bei den betroffenen Kindern passt und stark an neurodegenerative Krankheitsbilder erinnert.

Parallel dazu untersuchten die Forschenden im experimentellen Modell, welche Proteine im Gehirn in ihrer Menge verändert waren. Dabei zeigte sich ein Muster, das auffallend dem bei Patient:innen mit Alzheimer-Demenz ähnelt: Zahlreiche Proteine, die bei Alzheimer erhöht oder vermindert sind, waren auch im Mausmodell ohne funktionsfähiges GPX4 fehlreguliert. Das deutet darauf hin, dass ferroptotischer Stress nicht nur bei dieser seltenen frühkindlichen Erkrankung, sondern möglicherweise auch bei vielfach häufigeren Formen von Demenz eine wichtige Rolle spielt.

Ein neuer Blick auf die Ursachen von Demenz

„Unsere Daten sprechen dafür, dass Ferroptose eine treibende Kraft hinter dem Sterben von Nervenzellen sein kann – nicht nur ein Nebeneffekt“, sagt Dr. Svenja Lorenz, eine der Erstautor:innen der Studie. „Bisher lag der Fokus bei Demenzerkrankungen oft auf Eiweißablagerungen, die sogenannten Amyloid ß Plaques, im Gehirn. Wir rücken nun stärker die Schädigungen an den Zellmembranen in den Blick, die diesen Zerfall überhaupt erst auslösen.“

Erste Experimente zeigen zudem, dass sich der durch GPX4-Verlust ausgelöste Zelltod in Zellkulturen und im Mausmodell mit Wirkstoffen bremsen lässt, die speziell die Ferroptose hemmen. „Das ist ein wichtiger Machbarkeitsnachweis, aber noch keine Therapie“, betont Dr. Tobias Seibt, Nephrologe im Transplantationszentrum am LMU Klinikum und Co-Erstautor. Dr. Adam Wahida, ebenfalls Erstautor der Studie, ergänzt: „Langfristig könnten wir uns genetische oder molekulare Strategien vorstellen, die dieses Schutzsystem stabilisieren. Bis dahin bleibt unsere Arbeit klar im Bereich der Grundlagenforschung.“

Grundlagenforschung hilft, Krankheiten ursächlich zu verstehen

Die Studie ist das Ergebnis eines über viele Jahre gewachsenen Verbunds aus Genetik, Strukturbiologie, Stammzellforschung und Neurowissenschaften – mit mehreren Dutzend Forschenden an verschiedenen Standorten weltweit. „Wir haben fast 14 Jahre gebraucht, um einen kleinen bislang unbekannten strukturellen Baustein eines Enzyms mit einer schweren Erkrankung zu verknüpfen“, sagt Marcus Conrad. „Solche Projekte zeigen eindrücklich, warum wir langfristig finanzierte Grundlagenforschung und internationale, multidisziplinäre Teams brauchen, um komplexe Krankheiten wie Demenz wirklich zu verstehen.“

Helmholtz Munich


Originalpublikation:

Lorenz et al., A fin-loop-like structure in GPX4 underlies neuroprotection from ferroptosis, Cell (2026), https://doi.org/10.1016/j.cell.2025.11.014

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Wissenschaft Bayern
news-35022 Fri, 05 Dec 2025 11:29:53 +0100 PFAS-Mischung stört Plazentaentwicklung in der Schwangerschaft https://www.vbio.de/aktuelles/details/pfas-mischung-stoert-plazentaentwicklung-in-der-schwangerschaft Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) sind eine Stoffgruppe, die sich negativ auf die menschliche Gesundheit auswirkt, zum Beispiel auf schwangere Frauen und deren ungeborene Kinder. Die Plazenta als Barriere spielt dabei eine wichtige Rolle. Bisherige Studien spiegeln deren tatsächliche Exposition während der frühen Schwangerschaft nur unzureichend wider. Forschende des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) haben nun in Kooperation mit dem Städtischen Klinikum Dessau ein 3D-Plazenta-Modell weiterentwickelt. Die Ergebnisse, die im Fachjournal Environmental Research veröffentlicht sind, zeigen, dass PFAS die Funktionalität der Plazenta stören.  Die Plazenta reguliert den Austausch von Nährstoffen, Gasen und Stoffwechselprodukten zwischen einer Schwangeren und dem Fötus, sodass sich dieser optimal entwickelt. Die ersten 90 Tage der Schwangerschaft sind besonders prägend, da sich in dieser sensiblen Zeitspanne die Organe des Babys beginnen auszubilden. Obwohl die Plazenta über Barrieremechanismen verfügt, die einen Übertritt gefährlicher Stoffe in das Baby verhindern sollen, können sich PFAS anreichern, welche die Entwicklung des Fötus stören und das Risiko einer Fehlgeburt erhöhen. „Für eine genaue Risikobewertung ist es deshalb wichtig, die Expositionsdynamik gegenüber PFAS besonders im ersten Trimester der Schwangerschaft genauer zu dokumentieren“, sagt UFZ-Reproduktionswissenschaftlerin Dr. Violeta Stojanovska, Autorin und Studienleiterin. Bislang ist dazu noch wenig bekannt, denn die meisten Reproduktionsstudien stützen sich auf den Nachweis von PFAS im Blut, die Plazenta in den letzten Monaten der Schwangerschaft oder auf Experimente in vereinfachten Zellmodellen, bei denen einzelne PFAS-Verbindungen statt PFAS-Gemische verwendet werden.

Die UFZ-Forschenden entschieden sich deshalb in ihrer Studie mit dem Städtischen Klinikum Dessau, Akademisches Krankenhaus der Medizinischen Hochschule Brandenburg, für einen anderen Ansatz: Sie extrahierten aus dem Plazentagewebe von 31 Frauen, die im ersten Trimester der Schwangerschaft waren, sechs PFAS-Verbindungen (Perfluornonansäure, Perfluoroctansulfonsäure, Perfluorbutansäure, Perfluoroctansäure, Perfluorohexansulfonsäure, Perfluordecansäure). „Diese PFAS waren für unsere Untersuchungen relevant, weil wir sie in hohen Konzentrationen in der Plazenta nachgewiesen haben und es Hinweise aus der Literatur gab, dass sie Schwangerschaftskomplikationen auslösen können”, sagt Doktorandin und Erstautorin Yu Xia. Die sechs Verbindungen wurden zu einem für die Plazenta relevanten Gemisch verarbeitet und in einem 3D-Trophoblastenmodell getestet, um die Exposition der Plazenta zu simulieren. 

Trophoblasten sind Zellen der Plazenta, die in der Frühschwangerschaft in das mütterliche Gewebe eindringen und so den Kontakt zu deren Blutkreislauf herstellen. „Der wesentliche Vorteil der 3D-Modelle ist, dass Trophoblastzellen in einer kugelförmigen Struktur wachsen, und damit der Zellorganisation der frühen Plazenta wesentlich ähnlicher sind als eine flache 2D-Kultur“, sagt Violeta Stojanovska. Mit den 3D-Modellen konnte das Forschungsteam unterschiedliche Plazentafunktionen, darunter die Hormonproduktion und die invasiven Eigenschaften der Plazenta, untersuchen.

Die Exposition der 3D-Trophoblastenmodelle mit der PFAS-Mischung führte zu Funktionsstörungen der Plazenta, vor allem im Hinblick auf die Fähigkeit der Plazentazellen, in das mütterliche Gewebe einzudringen. Diese Invasivität ist aber entscheidend für das optimale Wachstum des Fötus, weil sie den Nährstofftransfer von der Mutter erleichtert. 

Eine Analyse der Genexpression, also die Frage, welche Gene in welchem Ausmaß in einer Zelle oder einem Gewebe aktiv sind, zeigte zudem, dass für die Entwicklung der Plazenta wichtige Prozesse der Apoptose (planmäßiges Absterben von Zellen) und der Proliferation (notwendige Zellvermehrung) durch PFAS beeinträchtigt werden. „Die beiden Prozesse stehen bei der Entwicklung der Plazenta in einer natürlichen Balance. Dieses Gleichgewicht wird jedoch gestört, wenn die Plazenta hohen PFAS-Konzentrationen ausgesetzt wird“, sagt Violeta Stojanovska. 

Das Forschungsteam fand außerdem heraus, dass die Produktion des Hormons β-hCG (Beta-hCG) – ein Schlüsselhormon in der Schwangerschaft, das die Produktion des für die Entstehung einer gesunden Gebärmutterschleimhaut wichtigen Progesterons stimuliert und die Abstoßung des Fötus unterbindet – verringert wird und zu Störungen der Hormonregulation führen könnte. „Das alles sind nur kleinere Veränderungen, die bislang unter dem Radar geflogen sind, die aber in der Summe erhebliche Auswirkungen auf den Verlauf der Schwangerschaft haben könnten“, sagt Violeta Stojanovska. 

Prof. Ana Zenclussen, Leiterin des UFZ-Departments Umweltimmunologie, bilanziert: „Die Studie unterstreicht die schädlichen Auswirkungen der PFAS-Mischung auf die Trophoblastenfunktion und damit die potenziellen Risiken für die Gesundheit der Plazenta und den Ausgang der Schwangerschaft“. 3D-Trophoblastmodelle seien äußerst hilfreich, da sie zu einem umfassenderen Verständnis der Risikobewertung von PFAS führen.

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung


Originalpublikation:

Yu Xia, Qiuguo Fu, Hermann Voss, Stefan Fest, Susanne Arnold, Mario Bauer, Beate Fink, Ana Claudia Zenclussen, Violeta Stojanovska. Real-life per- and polyfluoroalkyl substances mixture impairs placental function: insights from a trophoblast spheroid model, Environmental Research, https://doi.org/10.1016/j.envres.2025.123037

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Wissenschaft Sachsen
news-35021 Fri, 05 Dec 2025 11:06:51 +0100 Rezeptor mit "Gummiband" als Ansatzpunkt für neue Schmerz- und Krebs-Medikamente https://www.vbio.de/aktuelles/details/rezeptor-mit-gummiband-als-ansatzpunkt-fuer-neue-schmerz-und-krebs-medikamente Der menschliche P2X4-Rezeptor spielt bei chronischen Schmerzen, Entzündungen und manchen Krebsarten eine zentrale Rolle. Forschende der Universität Bonn und des Universitätsklinikums Bonn (UKB) haben nun einen Mechanismus aufgeklärt, über den sich der Rezeptor hemmen lässt. Die Resultate ebnen den Weg zur Entwicklung neuer Medikamente. Der P2X4-Rezeptor sitzt in der Membran vieler Zellen, die sie wie ein dünnes Häutchen umgibt. Er fungiert dort als eine Art Tür, die im Normalfall geschlossen ist. Sie trägt aber an ihrer Außenseite eine Klinke, die sich nur von einem ganz bestimmten Molekül herunterdrücken lässt – dem ATP. Wenn das passiert, öffnet sie sich, so dass Kalzium- und Natrium-Ionen in die Zelle strömen können. Dadurch ändert diese ihr Verhalten. Bestimmte Immunzellen mit einem P2X4-Rezeptor werden beispielsweise durch ATP aktiviert und rufen dann andere Abwehrtruppen zur Hilfe. Die Folge ist dann eine Entzündung. Manche Nervenzellen dagegen erzeugen nach einer solchen Aktivierung Schmerzreize.

„Bei chronischen Entzündungen oder chronischem Schmerz ist der Rezeptor häufig überaktiv“, erklärt Prof. Dr. Christa Müller, die an der Universität Bonn die Pharmazeutische und Medizinische Chemie leitet. „Ähnliches gilt für manche Tumorzellen – sie werden durch ATP verstärkt zur Teilung angeregt und können dann auch Metastasen bilden.“ Daher suchen Pharmafirmen weltweit nach Substanzen, mit denen sich der Rezeptor blockieren oder zumindest unempfindlicher machen lässt. Bislang gibt es aber erst sehr wenige Moleküle, die das können. Eines davon ist das Anthrachinon-Derivat PSB-0704 (PSB steht für Pharmaceutical Sciences Bonn), das von der Arbeitsgruppe Müller entwickelt worden war. „Wir wollten herausfinden, was es genau macht – auch, um mit diesem Wissen bessere Wirkstoffe herstellen zu können“, sagt Müller, die auch den Transdisziplinären Forschungsbereichen (TRA) „Life & Health“, „Matter“ und „Sustainable Futures“ der Universität Bonn angehört.

Schockgefrorene Moleküle

Ihre Arbeitsgruppe hat dazu in den letzten Jahren strukturbiologische Methoden etabliert. Allerdings gelang es nicht, den Rezeptor gemeinsam mit dem Hemmstoff zu kristallisieren, um so die Struktur des Bindungs-Zustands aufzuklären, „Wir nutzten daher stattdessen eine spezielle Methode, die Kryo-EM genannt wird“, sagt die Erstautorin der Publikation, Dr. Jessica Nagel, die vor Kurzem eine Postdoktorandenstelle in den USA antrat. „Dabei wird eine Lösung aus dem P2X4-Rezeptor und dem Anthrachinon-Derivat PSB-0704 hergestellt und dann schockgefroren. Der entstehende Eisfilm enthält Millionen von Rezeptor-Molekülen, an die der Hemmstoff gebunden ist. Diese lassen sich mit dem Elektronenmikroskop betrachten.“

Zur Auswertung der Daten kooperierten Nagel und Müller mit Forschenden um den Privatdozenten Dr. Gregor Hagelüken vom Universitätsklinikum Bonn. Am dortigen Institut für Strukturbiologie hat man sehr viel Erfahrung damit, die Interaktion zwischen Molekülen aufzuklären. Da die Molekül-Komplexe im Eis unterschiedlich liegen, sind unter dem Mikroskop verschiedene Seiten von ihnen zu sehen. „Diese Ansichten lassen sich mit Spezial-Software zu einem detaillierten 3D-Bild kombinieren“, erklärt Hagelüken.

Die Arbeitsgruppen konnten auf diese Weise sichtbar machen, an welche Stelle des Rezeptors der Hemmstoff andockt und was das bewirkt. „Die Bindung führt dazu, dass sich Teile des P2X4-Moleküls verschieben, sodass der Ionenkanal nicht mehr geöffnet werden kann“, erklärt Müllers ehemalige Doktorandin Jessica Nagel, die einen großen Teil der Arbeiten durchgeführt hat. Die Tür bleibt also verschlossen, auch wenn ATP an den Rezeptor andockt.

Molekulares „Gummiband“ verkleinert die Bindungstasche

PSB-0704 hemmt also die Öffnung von P2X4. Allerdings tut die Substanz das nicht sonderlich gut: Sie entfaltet ihren Effekt erst in relativ hohen Konzentrationen. Die Forschenden wissen nun auch, warum das so ist: Der Wirkstoff bindet an eine Tasche im Rezeptor. Diese ist aber ziemlich eng - das PSB-0704-Molekül passt also nicht sonderlich gut hinein. Das liegt an einer Art molekularem „Gummiband“, das die Tasche zusammenzieht. „Wir haben einen Rezeptor hergestellt, dem dieses Band fehlte“, sagt Nagel. „Der Hemmstoff PSB-0704 war dadurch fast 700-mal potenter.“

Aus diesem Resultat lassen sich Erkenntnisse für das Design besserer Wirkstoffe ableiten. „Wir können einerseits versuchen, diese so zu designen, dass sie das molekulare Gummiband vor ihrer Bindung an den P2X4-Rezeptor zerschneiden“, erklärt Müller. „Eine Alternative wäre die Suche nach kleineren Molekülen, die auch so problemlos in die Bindungstasche passen.“

Ihre Arbeitsgruppe beschäftigt sich schon sehr lange mit diesem Thema: Bereits vor mehr als zehn Jahren hatte ihre damalige Mitarbeiterin Dr. Stephanie Weinhausen, unterstützt durch den Computer-Experten Dr. Vigneshwaran Namasivayam, mit der Fahndung nach einem Hemmstoff begonnen – und die Grundlagen für den aktuellen Erfolg gelegt. Die jetzt publizierten Resultate stimmen hoffnungsfroh, dass sich mittelfristig neue Medikamente herstellen lassen, die die Öffnung des P2X4-Rezeptors noch effektiver unterbinden. Bis dahin sei es noch ein weiter Weg, betont Müller. „Doch immerhin haben wir mit unserer Gemeinschafts-Studie die Basis dazu gelegt, dass das gelingen könnte.“

Universität Bonn


Originalpublikation:

Jessica Nagel et al.: Discovery of an allosteric binding site for anthraquinones at the human P2X4 receptor; Nature Communications; DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-025-66244-3

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Wissenschaft Nordrhein-Westfalen
news-35020 Fri, 05 Dec 2025 11:01:35 +0100 Moose helfen bei der Stickstoffreduktion des Waldes https://www.vbio.de/aktuelles/details/moose-helfen-bei-der-stickstoffreduktion-des-waldes Stickstoff ist für das Wachstum von Pflanzen unerlässlich – zu viel davon kann jedoch erheblichen Schaden anrichten. Wie Wälder den Nährstoff regulieren, hängt nicht nur von den Bäumen ab, sondern auch von den unscheinbareren Gewächsen in den unteren Schichten – wie eine aktuelle Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Friedrich-Schiller-Universität Jena beweist. Sie zeigt, dass die Pflanzen der Kraut- und Moosschicht eines Waldes eine entscheidende Rolle dabei spielen, wie viel Stickstoff im Ökosystem verbleibt und wie viel in unteren Erdschichten oder Gewässern versickert. Moos als besonders guter Filter

Für ihre Forschung sammelte ein interdisziplinär zusammengesetztes Team aus dem Sonderforschungsbereich „AquaDiva“ der Universität Jena Daten für drei verschiedene Waldtypen im sogenannten Saale-Elster-Sandsteinplatte-Observatorium südlich von Jena. An 93 Messpunkten in Buchen-, Fichten- und Kiefernwäldern installierten sie Sensoren, die erfassten, welche und wie viele Nährstoffe innerhalb eines Jahres durch die oberste Bodenschicht hindurchfließen. Dabei stellten sie fest, dass dort, wo die Vegetation am Boden besonders dicht ist, besonders wenig Stickstoff in den Boden gelangte. 

Vor allem Moose erwiesen sich als besonders gute Filter, die den Stickstoff im Ökosystem hielten und ihn nicht versickern und etwa ins Grundwasser gelangen ließen. „Mit unserer Arbeit konnten wir nun zeigen, dass krautige Pflanzen und insbesondere die Moose eine zentrale Rolle im Nährstoffhaushalt des Waldes spielen“, erklärt Till Deilmann von der Universität Jena. „Sie tragen dazu bei, den Stickstoff im System zu halten und sind somit daran beteiligt, dass Böden nicht durch übermäßigen Stickstoffeintrag belastet werden.“ 

Die Expertinnen und Experten untersuchten dabei außerdem, welche Rolle sogenannte funktionelle Merkmale der krautigen Pflanzen – also die Eigenschaften, die etwas darüber aussagen, wie sie mit ihrer Umgebung interagieren – spielen. Sie fanden heraus, dass beispielsweise schnell wachsende Pflanzenarten Stickstoff schneller aufnehmen, ihn aber auch schneller wieder abgeben. 

Häufiger nach unten schauen

Solche Beobachtungen helfen dabei, den Stickstoffkreislauf in Wäldern generell besser zu verstehen. Das Element gelangt hauptsächlich durch Niederschläge in den Waldboden. Auf dem Weg dahin passiert das Wasser in der Regel einige Schichten: Zunächst fällt es durch das Blätterdach der Baumkronen, dringt dann durch Strauchgewächse und gelangt schließlich in die Kraut- und Moosschicht, bevor das Wasser im Boden versickert. „Während wir über den Einfluss der Bäume auf den Nährstoffkreislauf des Waldes ganz gut informiert sind, wissen wir über den Unterwuchs direkt am Waldboden relativ wenig – und das, obwohl wir hier die größte Artenvielfalt in einem Wald finden“, sagt der Jenaer Biologe. „Solche Forschungsergebnisse zeigen allerdings, dass es sich lohnt, häufiger nach unten zu schauen. Wenn wir das Ökosystem Wald global verstehen wollen, dann müssen wir die Kraut- und Moosschichten stärker in Modelle einbeziehen. Bisher werden sie zu wenig berücksichtigt.“

Zudem helfen Erkenntnisse wie diese dabei, die zunehmende Stickstoffbelastung zu bekämpfen. Zu viel Stickstoff in Form von Ammonium im Boden lässt ihn übersäuern, schadet den dort lebenden Organismen und hat erhebliche Auswirkungen auf die Pflanzenwelt. Einige Pflanzenarten werden von anderen Arten, deren Wachstum durch große Mengen Stickstoff profitiert, verdrängt, wodurch sich die Pflanzengemeinschaften verändern. Zudem gelangt über den Boden Stickstoff in Form von Nitrat ins Grundwasser und gefährdet die Trinkwasserqualität. Möglicherweise lassen sich aus den Ergebnissen der Jenaer Forschenden neue Handlungsempfehlungen für die Forstwirtschaft ableiten, um das Wachstum dieser kleinen Pflanzen zu fördern und so die Filterwirkung des Waldes zu vergrößern.

Universität Jena


Originalpublikation:

Deilmann, T., Potthast, K., Michalzik, B. et al. Forest floor vegetation contributes to a reduction in nitrogen fluxes in temperate forest understories. Plant Soil (2025). doi.org/10.1007/s11104-025-08050-w

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Wissenschaft Thüringen
news-35019 Fri, 05 Dec 2025 10:45:43 +0100 Erfolg für den weltweiten Artenschutz: Gefährdete Haie, Frösche und Pflanzen werden strenger geschützt https://www.vbio.de/aktuelles/details/erfolg-fuer-den-weltweiten-artenschutz-gefaehrdete-haie-froesche-und-pflanzen-werden-strenger-geschuetzt Die Vertragsstaaten des Washingtoner Artenschutzübereinkommens CITES haben bei ihrer Konferenz in Usbekistan weitreichende Handelsbeschränkungen und -verbote zum Schutz stark gefährdeter Tier- und Pflanzenarten beschlossen: 74 Hai- und Rochenarten, 11 Baum- und Pflanzenarten, 15 Vogelarten sowie 14 Reptilien- und Amphibienarten wurden unter internationalen Schutz gestellt oder ihr Schutz verbessert. In mehreren Fällen wurden zudem Abschwächungen des Schutzes abgelehnt. Ein besonderer Erfolg dabei ist der stärkere Schutz für Haie und Rochen, die nach den Amphibien die am stärksten bedrohte Wirbeltierklasse sind. Deutschland hatte diese Anträge besonders unterstützt. Auch das Verbot des Handels mit Elfenbein und dem Horn der Nashörner bleibt bestehen. An der Konferenz nahmen vom 24. November bis zum 5. Dezember knapp 3000 Delegierte aus den 185 Vertragsstaaten sowie von internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen teil. Deutschland hat sich dabei für dringend notwendige Schutzmaßnahmen und strenge Nachhaltigkeitskontrollen bei zahlreichen gefährdeten Tieren und Pflanzen eingesetzt.

Bundesumweltminister Carsten Schneider: "Die Artenschutzkonferenz hat wichtige Fortschritte gebracht – für einige Arten sind sie sogar überlebenswichtig. Mit den neuen Vereinbarungen schützen wir bedrohte Tiere und Pflanzen, bevor sie für immer verloren gehen. Vor allem bei vielen gefährdeten Haiarten konnte ein sehr gutes Ergebnis erzielt werden. Die Staatengemeinschaft war sich in sehr vielen Punkten einig, dem Raubbau an der Natur Schranken zu setzen. Nun gilt es, diese Beschlüsse mit besseren Kontrollen auch in die Tat umzusetzen."

Ein Schwerpunkt der Vertragsstaatenkonferenz war der bessere Schutz vieler kommerziell genutzter Meeresarten. Durch die neuen Unterschutzstellungen unterliegt nunmehr insgesamt mehr als 90 Prozent des kommerziellen Haifischflossenhandels den CITES-Nachhaltigkeitskontrollen oder Handelsverboten. Mit den Schlingerhaien, eine Gruppe der Tiefseehaie, werden nun auch explizit Arten geschützt, die vor allem wegen ihres hochwertigen Haileberöls gefischt werden. Durch den stärkeren Schutz für den Weißspitzenhochseehai hat die Vertragsstaatenkonferenz erstmalig den kommerziellen Handel einer fischereilich genutzten Haiart vollständig verboten.

Auch bei Pflanzenarten konnten Erfolge erreicht werden. Die Unterschutzstellung der indischen Myrrhe ist dabei ein besonderer Erfolg. Sie ist eine gefährdete Heil- und Aromapflanze, deren Harz insbesondere für Räucherwaren und Nahrungsergänzungsmittel genutzt wird. Ihr besserer Schutz wurde maßgeblich von Deutschland vorbereitet und gemeinsam mit Pakistan vorgeschlagen. Deutschland wird damit als eines der zentralen Zielländer im Medizinal- und Aromapflanzenhandel seiner Verantwortung gerecht.

Ein weiterer Erfolg betrifft die stark bedrohte Baumart Paubrasilia echinata, die Brasiliens Nationalbaum ist. Aus seinem als Fernambuk bekannten Holz werden hochwertige Bögen für Streichinstrumente gefertigt. Die Vertragsstaaten einigten sich darauf, den Schutz dieser stark gefährdeten Art zu stärken, nahmen aber international reisende Musikerinnen und Musiker und Orchester von den strengen Regeln aus, um internationale Konzertreisen nicht zu erschweren.

Da Deutschland ein bedeutender Ziel- und Transitmarkt für exotische Heimtiere ist, setzte sich die Bundesregierung wie bei vergangenen Konferenzen für Arten ein, die durch den Heimtierhandel gefährdet sind. Die Vertragsstaatenkonferenz beschloss beispielsweise den verbesserten Schutz der Stutz-Gelenkschildkröte.

Auch für zahlreiche Amphibien ist die EU ein Zielland und hat besondere Verantwortung. Wasserfrösche, die auch in Deutschland heimisch sind, werden kommerziell für ihre Froschschenkel genutzt und vor allem in der EU konsumiert. Mit der Unterschutzstellung dieser Frösche wird dieser Handel zukünftig strenger reglementiert.

Um die Beschlüsse der Konferenz konsequent und in enger Zusammenarbeit mit den betroffenen Branchen und internationalen Partnern umzusetzen, unterstützt Deutschland mit vielen verschiedenen Projekten, beispielsweise durch Partnerschaften mit Ländern in Afrika und Asien sowie bei Verbesserungen der Nachhaltigkeitsprüfungen oder zur Entwicklung global nutzbarer digitaler Anwendungen und durch Schulungen.

Bundesministerium für Umwelt, Klimaschutz, Naturschutz und nukleare Sicherheit


Die "Summary Records" mit allen gefassten Beschlüssen finden Sie hier: https://cites.org/eng/cop/20/summary-records

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Politik & Gesellschaft Berlin International
news-35012 Fri, 05 Dec 2025 09:40:28 +0100 Zentralabitur in Biologie prüft Kompetenzen einseitig https://www.vbio.de/aktuelles/details/zentralabitur-in-biologie-prueft-kompetenzen-einseitig Vier Kompetenzbereiche stehen für den Biologieunterricht im Lehrplan. Dazu gehören unter anderem auch Erkenntnisgewinnungs- und Bewertungskompetenz. Im Berliner Biologie-Zentralabitur werden aber nahezu ausschließlich biologisches Fachwissen und die Fähigkeit, zielgerichtet Informationen aus Texten und Graphiken zu entnehmen, benötigt. Das ergab eine Auswertung aller Zentralabituraufgaben im Fach Biologie der Jahre 2013 bis 2023 durch Prof. Dr. Leroy Großmann, seit September 2025 in der Biologiedidaktik der Ruhr-Universität Bochum. Er befürchtet, dass dadurch wichtige Kompetenzen auf der Strecke bleiben.  Kompetenzbereiche im Biologieunterricht 

Laut den aktuellen Bildungsstandards im Fach Biologie sollen Schülerinnen und Schüler nicht nur biologisches Fachwissen etwa über Evolution, Ökologie, Genetik erwerben, sondern auch über Kompetenzen in drei weiteren Bereichen verfügen: Erkenntnisgewinnung – zum Beispiel Experimente planen, Hypothesen formulieren und prüfen – , Kommunikation, etwa Darstellungsformen wie Texte und Diagramme lesen und gestalten, sowie Bewertung: in ethisch relevanten Kontexten Handlungsoptionen abwägen und differenziert urteilen. 

Noch während seiner Tätigkeit an der Freien Universität Berlin hat Leroy Großmann untersucht, ob diese vier Kompetenzbereiche auch im Zentralabitur geprüft werden. „Ich hatte erwartet, dass es aus traditionellen Gründen hauptsächlich um die Prüfung von Fachwissen geht, das im Unterricht gelernt wurde und dann angewendet werden muss“, erklärt er. „Es zeigt sich, dass dem in der Tat so ist.“

Was soll eigentlich geprüft werden?

Da es sich um eine Vollstichprobe aller Berliner Abituraufgaben handelt, ist dieses Ergebnis für das Land Berlin aussagekräftig. „Ob sich diese Befunde auf andere Bundesländer übertragen lassen, müsste empirisch untersucht werden, da zwischen den Ländern zum Teil gravierende Unterschiede in der Prüfungskultur bestehen“, so Leroy Großmann. 

„Spannend für die Biologiedidaktik oder die Bildungswissenschaften insgesamt ist die Frage, was im Abitur eigentlich geprüft werden soll“, so der Biologiedidaktiker. Er wirft zudem die Frage auf, ob man von Lehrkräften einerseits verlangen kann, dem Lehrplan folgend im Unterricht die vier Kompetenzbereiche zu adressieren, wenn es dann im Abitur eigentlich ausreicht, Fachwissen wiedergeben und anwenden sowie mit Fachtexten und Grafiken umgehen zu können. Die Vermutung ist, dass dies zum sogenannten Backwash-Effekt führt: Da Lehrkräfte ihre Schüler*innen möglichst gut auf das Abitur vorbereiten wollen, kann es sein, dass sie sich nicht streng an den Lehrplan halten, sondern den Fokus auf Fachwissen und Kommunikation legen. „Die Folge wäre dann, dass so wichtige Kompetenzen wie das Bewerten komplexer Sachverhalte – etwa beim Klimawandel oder Biodiversitätsverlust – und das Verstehen wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse auf der Strecke bleiben“, gibt Großmann zu bedenken.

Die Studie kommt zu einem wichtigen Zeitpunkt: Seit diesem Schuljahr koordiniert das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) einen gemeinsamen Aufgabenpool für ländergemeinsame Abituraufgaben. „Die Befunde können wichtige Impulse für die Weiterentwicklung dieser Aufgaben geben“, so Großmann. „Eine evidenzbasierte Diskussion über die stärkere Integration aller vier Kompetenzbereiche in Prüfungsaufgaben könnte einen wichtigen Schritt nach vorn zu einer zeitgemäßen Aufgabenkultur im Abitur darstellen.“

Ruhr-Universität Bochum


Originalpublikation:

Leroy Großmann: Curriculare Validität des Biologie-Zentralabiturs: Welche Themen und Kompetenzen werden geprüft?, in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 2025, DOI: 10.1007/s40573-025-00187-6, https://link.springer.com/article/10.1007/s40573-025-00187-6

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Schule Nordrhein-Westfalen
news-35001 Thu, 04 Dec 2025 12:50:33 +0100 Kiefervielfalt war Schlüssel zur Eroberung des Landes https://www.vbio.de/aktuelles/details/kiefervielfalt-war-schluessel-zur-eroberung-des-landes Die frühen Amnioten – die Vorfahren aller heutigen Reptilien, Vögel und Säugetiere – entwickelten deutlich vielfältigere Kieferformen als Amphibien. Diese anatomische Vielfalt ermöglichte ihnen, neue Nahrungsquellen zu erschließen und sich erfolgreich an das Leben an Land anzupassen. Dies zeigt eine Studie eines internationalen Forschungsteams unter Leitung des Museums für Naturkunde Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Übergang von wasserlebenden Fischen zu landlebenden Wirbeltieren zählt zu den bedeutendsten Veränderungen in der Geschichte des Lebens. Im Devon vor rund 370 Millionen Jahren wagten die ersten Tetrapoden – vierfüßige Wirbeltiere – den Schritt an Land. Damit waren sie neuen Anforderungen ausgesetzt: Ihre Körper mussten stabil genug sein, um ohne Auftrieb stehen und gehen zu können. Gleichzeitig veränderte sich die Art und Weise, wie sie Nahrung aufnehmen konnten.

„Viele Fische saugen ihre Beute ein, indem sie ihren Kiefer blitzschnell öffnen. An Land funktioniert diese Methode nicht mehr“, erklärt Dr. Jasper Ponstein, Erstautor der Studie und ehemaliger Doktorand am Berliner Naturkundemuseum. „Dort müssen Tiere aktiv zupacken. Das machte Veränderungen am Kiefer besonders wichtig.“

Ein Blick in die Erdgeschichte

In den nachfolgenden Perioden des Karbons und Perm vor 360–250 Millionen Jahren, breiteten sich die frühen Landwirbeltiere in den neuen Lebensräumen aus. Sie passten sich an verschiedene Ernährungsweisen an: Manche jagten die zahlreichen Insekten, andere begannen, Pflanzen zu fressen – eine Ernährungsweise, die zusätzliche Anpassungen an den Kiefer und die Kaumuskulatur erforderte. „Diese Zeit ist besonders spannend, weil sich Wirbeltiere erstmals in großem Maßstab an das Leben außerhalb des Wassers anpassten“, so Ponstein.

Um herauszufinden, wie die frühen Tetrapoden gefressen haben könnten, konzentrierte sich das Team auf den Unterkiefer – ein Element aus mehreren Knochen, dessen Form viel über die Ernährungsweise eines Tieres verrät. Die Forschenden stellten dazu den bisher größten Datensatz fossiler Tetrapodenkiefer aus dem Karbon und Perm zusammen, der mehr als 200 Arten umfasst. Dabei wurde auch Material aus der Sammlung des Berliner Naturkundemuseums mit einbezogen, inklusive im 3D-Visualisierungslabor generierte CT-Daten. Beteiligt waren neben dem Team des Berliner Forschungsmuseums auch Wissenschaftler:innen des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart und des Naturwissenschaftlichen Museums in Raleigh, North Carolina (USA).

Zwei zentrale Erkenntnisse

Die Analyse führte zu zwei wichtigen Ergebnissen:

Direkt nach dem Übergang an Land blieb die Kieferform erstaunlich konstant.
Viele frühe Tetrapoden besaßen weiterhin lange, schlanke Kiefer – vermutlich ideal, um Beutetiere wie Fische oder Insekten zu packen. Trotz der neuen Lebensumgebung änderte sich die Grundform des Kiefers zunächst kaum.

Mit dem Auftreten der Amnioten setzte eine deutliche Veränderung ein.
Ab dem frühen Perm vor etwa 300 Millionen Jahren entwickelten die Amnioten eine viel größere Bandbreite an Kieferformen als die Amphibien. Ihre Kiefer wurden robuster, und die Muskelansatzstellen vielfältiger. Dadurch konnten sie härtere und abwechslungsreichere Nahrung wie Pflanzenmaterial oder größere Beutetiere verarbeiten. Amphibien hingegen blieben bis heute weitgehend auf einfache Kieferformen und eine eher einseitige Ernährung – meist Insekten – beschränkt.

„Die frühe Vielfalt der Kieferformen hat den Amnioten wahrscheinlich ermöglicht, ökologische Nischen zu nutzen, die Amphibien verschlossen blieben“, sagt Ponstein. „Damit legten sie den Grundstein für die beeindruckende Vielfalt der Reptilien, Vögeln und Säugetieren, die wir heute auf der ganzen Welt sehen.“

Grundlage für moderne Vielfalt

Heute umfasst die Gruppe der Amnioten alles von Schildkröten über Vögel bis zu Raubkatzen – eine enorme Bandbreite an Lebensweisen. Die Studie zeigt, dass dieser Erfolg tief in der Erdgeschichte verwurzelt ist: in der Fähigkeit, sich früh und flexibel an neue Ernährungsweisen anzupassen.

Museum für Naturkunde - Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung


Originalpublikation:

Ponstein J, MacDougall MJ, Schaeffer J, Kammerer CF, Fröbisch J. 2025. Mandibulare Form und Funktion sind bei Amniioten unterschiedlicher als bei nicht-amniotischen Tetrapoden aus dem späten Paläozoikum. PeerJ 13:e20243, DOI 10.7717/peerJ.20243, peerj.com/articles/20243/

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Wissenschaft Berlin
news-35000 Thu, 04 Dec 2025 12:34:42 +0100 Studie zu systemischen Umweltrisiken von KI veröffentlicht https://www.vbio.de/aktuelles/details/studie-zu-systemischen-umweltrisiken-von-ki-veroeffentlicht Künstliche Intelligenz erzeugt systemische Umweltrisiken. Eine neue Studie der Gesellschaft für Informatik e.V. erfasst und analysiert diese umfassend. Zentrales Ergebnis: Die Risiken sind struktureller Natur, können ökologische Schäden beschleunigen und Verantwortlichkeiten verwischen. Zudem tragen die ökologischen und sozialen Kosten oft nicht diejenigen, die durch KI an Profit und Produktivität gewinnen.  Künstliche Intelligenz (KI) wird häufig als Schlüsseltechnologie zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen wie dem Klimawandel bezeichnet. Gleichzeitig wächst ihr ökologischer Fußabdruck rasant. Eine neue vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) geförderte Studie der Gesellschaft für Informatik (GI) zeigt: Neben direktem Energie- und Ressourcenverbrauch entstehen durch KI auch systemische Umweltrisiken, die weitreichende sozioökologische Folgen haben können.

Julian Schön, Referent bei der GI und Autor der Studie: „Wir sehen KI oft als Werkzeug zur Lösung ökologischer Probleme – doch parallel entstehen Risiken, die tief in unsere sozioökonomischen Systeme hineinreichen. Diese systemischen Effekte sind viel weniger sichtbar als Strom- oder Wasserverbräuche, aber im Zweifel deutlich folgenreicher.“

Die Studie definiert systemische Umweltrisiken von KI als weitreichende, sektorübergreifende Schäden an Klima, Biodiversität, Süßwasser und anderen Erdsystemprozessen, die aus systemischen Wechselwirkungen resultieren und entstehen, wenn KI in soziale, ökonomische und physische Infrastrukturen eingebettet wird. Aufgrund ihrer Komplexität sind diese Risiken nur schwer quantifizierbar. 

Vorteile und Belastungen sind ungleich verteilt

Ein zentraler Befund der Studie ist, dass systemische Umweltrisiken durch Machtkonzentration, begrenzte Governance, ökonomische Rahmenbedingungen und durch die Komplexität und Unvorhersehbarkeit vieler KI-Systeme begünstigt werden. Durch diese Bedingungen können etwa sogenannte Rebound-Effekte und Pfadabhängigkeiten entstehen. Diese können zu materiellen Schäden wie Ressourcenerschöpfung und Toxizität führen, aber auch den Verlust lokalen und indigenen Wissens bedeuten. Zudem zeigt die Studie eine ungleiche Verteilung von Vorteilen und Belastungen durch KI: Während Produktivitätsgewinne und Profite vor allem bei wenigen ressourcenstarken Akteuren konzentriert sind, tragen marginalisierte Gruppen überproportional die ökologischen und sozialen Kosten – etwa in Regionen, in denen Rohstoffe abgebaut, Abfälle entsorgt oder besonders verletzliche Ökosysteme belastet werden.

Lena Hoffmann, Co-Autorin der Studie: „Zwar bergen viele Technologien systemische Umweltrisiken, doch KI ist besonders prädestiniert, solche Risiken zu erzeugen und zu verstärken – aufgrund ihrer großen Verbreitung, der hohen Geschwindigkeit und Skalierung ihrer Einführung, aber auch, weil sie technisch oft schwer zu durchschauen ist.“

Das Fazit der Autor*innen: Isolierte Maßnahmen wie algorithmische Effizienzsteigerungen oder freiwillige Transparenzinitiativen reichen alleine nicht aus, um systemische Umweltrisiken zu adressieren. Stattdessen brauche es einen ganzheitlichen Ansatz, der KI als globale Infrastruktur begreift und ihre Entwicklung mit den endlichen Erdsystemen in Einklang bringt. 

Gesellschaft für Informatik e.V


Die Studie ist in der digitalen Bibliothek der GI verfügbar: https://dl.gi.de/items/eb1b3ac4-a1ac-4957-9a34-4f1fd0126874

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Künstliche Intelligenz Berlin
news-34999 Thu, 04 Dec 2025 12:01:36 +0100 Wie Grippeviren in unsere Körperzellen eindringen https://www.vbio.de/aktuelles/details/wie-grippeviren-in-unsere-koerperzellen-eindringen Mit einer neuen hochauflösenden Mikroskopie-Methode haben Forschende erstmals live beobachtet, wie Grippeviren Zellen befallen. Dabei konnte das internationale Team unter Leitung der ETH Zürich feststellen, dass die Zellen die Virusaufnahme aktiv begünstigen. Die Methode könnte nun helfen, gezielter antivirale Therapien zu entwickeln.  Fieber, Gliederschmerzen, laufende Nase – mit dem Winter kehrt die Grippe zurück. Ausgelöst wird sie durch Influenzaviren, die über Tröpfchen in unseren Körper gelangen und Zellen befallen. 

Forschende aus der Schweiz und Japan haben dieses Virus nun sehr genau untersucht. Mit einer von ihnen entwickelten Mikroskopie-Methode können sie auf die Oberfläche menschlicher Zellen zoomen, die sich in einer Petrischale befinden. So konnten die Wissenschaftler zum ersten Mal hochauflösend und live beobachten, wie Influenzaviren in eine lebende Zelle eindringen. 

Etwas überraschte die Forschenden unter der Leitung von Yohei Yamauchi, Professor für Molekulare Medizin an der ETH Zürich, besonders: Die Zellen sind nicht etwa passiv und lassen sich vom Grippevirus einfach so überfallen. Vielmehr versuchen sie aktiv das Virus einzufangen. «Die Infektion unserer Körperzellen kommt einem Tanz gleich, den Virus und Zelle miteinander führen», sagt Yamauchi. 

Viren surfen auf der Zelloberfläche

Natürlich ziehen die Körperzellen keinen Vorteil aus einer Virusinfektion. Sie haben nichts davon, dass sie sich aktiv am Vorgang beteiligen. Zum dynamischen Wechselspiel kommt es, weil die Viren einen alltäglichen zellulären Aufnahmemechanismus kapern, der für die Zellen essenziell ist. Über diesen Mechanismus werden nämlich lebenswichtige Stoffe wie zum Beispiel Hormone, Cholesterin oder Eisen in die Zellen geschleust. 

Wie bei diesen Stoffen müssen sich auch Influenzaviren an Moleküle an der Zelloberfläche heften. Die Dynamik gleicht einem Surfen auf der Zelloberfläche: Das Virus scannt die Oberfläche ab, heftet sich mal da, mal dort an ein Oberflächenmolekül, bis es eine ideale Eintrittsstelle gefunden hat: eine, an der viele solcher Rezeptormoleküle dicht beieinanderstehen und somit eine effiziente Aufnahme in die Zelle ermöglichen. 

Nachdem die Zelle über ihre Rezeptoren erkannt hat, dass sich ein Virus an ihrer Membran festgesetzt hat, bildet sie an der betreffenden Stelle eine Vertiefung oder Tasche. Diese wird durch spezielle Strukturproteine namens Clathrine geformt und stabilisiert. Nach und nach wächst die Einstülpung und schliesst das Virus ein. So formt sich ein Bläschen. Die Zelle transportiert dieses in ihr Inneres, wo sich die Vesikelhülle auflöst und das Virus freigibt. 

Frühere Studien, die diesen wichtigen Prozess untersuchten, arbeiteten mit anderen Mikroskopiemethoden, darunter der Elektronenmikroskopie. Für diese müssen die Zellen zerstört werden, wodurch immer nur Momentaufnahmen möglich waren. Eine andere verwendete Methode, die Fluoreszenzmikroskopie, ermöglicht hingegen nur eine geringe räumliche Auflösung. 

Kombinierte Methoden, auch für andere Viren 

Die neue Methode ist eine Kombination aus Rasterkraft- und Fluoreszenzmikroskopie. Vivid-Rasterkraftmikroskopie nennen sie die Methode. Vivid steht für «Virus View». Diese Technologie machte es nun möglich, den Eintritt des Virus in die Zelle in allen Details seiner Dynamik zu verfolgen. 

Damit konnten die Forschenden zeigen, dass die Zelle die Aufnahme des Virus auf verschiedenen Stufen aktiv begünstigt. So rekrutiert die Zelle aktiv die funktionell wichtigen Clathrin-Proteine an die Stelle, an der sich das Virus befindet. Ausserdem wellt sich die Zelloberfläche an dieser Stelle, um mit den Aufwölbungen das Virus aktiv einfangen zu können. Diese wellenartigen Membranbewegungen werden stärker, wenn sich das Virus wieder von der Zelloberfläche wegbewegt. 

Die neue Methode liefert damit wichtige Erkenntnisse für die Entwicklung antiviraler Medikamente. So eignet sie sich etwa, um die Wirkung potenzieller Medikamente in Zellkultur in Echtzeit zu testen. Wie die Studienautoren betonen, kann die Methode auch verwendet werden, um das Verhalten von anderen Viren oder auch Impfstoffen zu untersuchen. 

Link zum YouTube-Video: https://youtu.be/zySUz2kbbnA

ETH Zürich


Originalpublikation:

Yoshida A, Uekusa Y, Suzuki T, Bauer M, Sakai N, Yamauchi Y: Enhanced visualization of influenza A virus entry into living cells using virus-view atomic force microscopy. PNAS, 122: e2500660122, https://doi.org/10.1073/pnas.2500660122

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Wissenschaft International