VBIO News http://example.com VBIO News de Copyright Wed, 30 Apr 2025 15:39:51 +0200 Wed, 30 Apr 2025 15:39:51 +0200 TYPO3 news-32439 Wed, 30 Apr 2025 12:18:08 +0200 Vom Vorgarten zum Kontinent: Warum die Artenvielfalt von klein nach groß nicht gleichmäßig zunimmt https://www.vbio.de/aktuelles/details/vom-vorgarten-zum-kontinent-warum-die-artenvielfalt-von-klein-nach-gross-nicht-gleichmaessig-zunimmt Die Zahl der Arten nimmt nicht gleichmäßig zu, wenn man sich von kleinen Ökosystemen zu kontinentalen Maßstäben bewegt – dieses Phänomen ist in der Ökologie seit Jahrzehnten bekannt. Jetzt hat ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) eine neue Theorie entwickelt, welche die drei Phasen erklärt, die typisch sind für die Verteilung der Arten im Raum. Die Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Nature Communications könnte helfen abzuschätzen, wie viele Arten durch die Zerstörung von Lebensräumen verloren gehen.  Je weiter man sich von einem kleinen Lebensraum zum kontinentalen Maßstab bewegt, desto größer wird die Zahl der Arten. So mag man in einem Dorfteich nur eine Handvoll Amphibienarten finden; doch je größer die betrachtete Fläche wird und Flüsse und Sümpfe mit einschließt, desto mehr Frösche, Kröten und Salamander kommen hinzu, bis man schließlich bei mehreren Hundert oder Tausend Arten auf kontinentaler oder interkontinentaler Ebene landet.

Drei-Phasen-Muster der Artenverteilung

Diese Muster sind als Arten-Flächen-Beziehung (engl. Species-Area Relationships – SARs) bekannt. Ökologen beobachten seit langem, dass SARs einem charakteristischen Muster folgen, das aus drei Phasen besteht: In der ersten Phase (lokal zu regional) nimmt die Zahl der Arten rasch zu. In der zweiten Phase (regional zu kontinental) ebbt diese Zunahme ab. In der dritten Phase (kontinental zu interkontinental) ist wieder eine verstärkte Zunahme zu verzeichnen.

Forschende haben nun eine universelle Theorie entwickelt, um dieses Drei-Phasen-Muster zu erklären und abzuschätzen, wie groß die Zahl der Arten an den Übergangspunkten zwischen den Phasen ist. „Das ist ein großer Schritt nach vorn in der Ökologie”, sagt Erstautor Dr. Luís Borda-de-Água vom Forschungszentrum CIBIO in Portugal. „Wir konnten zeigen, dass die einzelnen Verbreitungsmuster aller Arten innerhalb der untersuchten Gebiete die typischen Artenverteilungsmuster (SARs) bestimmen, die wir auf der ganzen Welt beobachten. Durch eine neuartige Kombination dieser Verteilungen konnten wir eine Formel entwickeln, mit der wir die Zahl der Arten an den Übergängen zwischen den verschiedenen Phasen berechnen können.“

Bedeutung für den Naturschutz

Solche Berechnungen können für den Erhalt der Biodiversität enorm wichtig sein. Wenn man zum Beispiel weiß, wo sich die Rate ändert, mit der neue Arten hinzukommen, hilft dies abzuschätzen, wie viele Arten beim Verlust von Lebensräumen verloren gehen. Solche Zahlen sind die Grundlage für Berechnungen von Artenverlusten in internationalen Biodiversitätsberichten.

Zur Überprüfung ihrer Theorie verglichen die Forscherinnen und Forscher Arten-Flächen-Beziehungen, die auf Beobachtungsdaten verschiedener Artengruppen basierten – zum Beispiel Vögel und Amphibien – mit ihren berechneten Werten. Für diese Analyse werteten sie etwa 700 Millionen Beobachtungen aus einem einzigen Datensatz aus. Die starke Übereinstimmung zwischen Beobachtung und Berechnung gibt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern großes Vertrauen in ihren Ansatz.

Die Faszination ökologischer Theorie

„Die Entdeckung grundlegender Prinzipien in der Ökologie ist genauso aufregend wie Durchbrüche in der Physik“, sagt Seniorautor Prof. Henrique Pereira von iDiv und der MLU. „Neue Erkenntnisse wie unsere bringen verborgene Muster ans Licht, die das Leben auf der Erde seit Millionen von Jahren prägen. So wie die Physik die verborgensten Geheimnisse des Universums entschlüsselt, können auch neue ökologische Theorien die grundlegenden Kräfte aufdecken, welche die Biodiversität auf unserem faszinierenden Planeten bestimmen.“

Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig


Originalpublikation:

Borda-de-Água, L., Neves, M.M., Quoss, L. et al. Modelling the species-area relationship using extreme value theory. Nat Commun 16, 4045 (2025). doi.org/10.1038/s41467-025-59239-7

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Wissenschaft Sachsen
news-32438 Wed, 30 Apr 2025 12:11:48 +0200 Relaunch des DSMZ-Online-Shops erfolgreich: Mikroorganismen und Zellkulturen für die Welt https://www.vbio.de/aktuelles/details/relaunch-des-dsmz-online-shops-erfolgreich-mikroorganismen-und-zellkulturen-fuer-die-welt Leibniz-Institut DSMZ relauncht Online-Shop und schließt Analysen und Services in das digitale Angebot ein  Das Leibniz-Institut DSMZ ist die global vielfältigste Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen. Der Relaunch bringt den bestellenden Forschenden eine optimierte Navigation sowie ein modernes und intuitives Design, das den Online-Shop noch effizienter nutzbar macht. Ziel des Relaunchs war es, die Usability des Online-Shops für die Kunden aus aller Welt zu optimieren und das Angebotsspektrum sowie die Funktionen zu erweitern. Erstmalig ist jetzt auch der Bereich Analysen und Services über den Online-Shop erreichbar. Hier wird das umfassende Portfolio an wissenschaftlichen Analysen und Dienstleistungen, das die DSMZ anbietet, dargestellt. Alle Produkte sind übersichtlich in Kategorien und Subkategorien angeordnet. Die detaillierten Produktbeschreibungen und -hinweise informieren Forschende umfassend. Zudem gibt es aktualisierte Guidelines und FAQs, um den Bestellprozess nutzerfreundlicher zu gestalten. 

Forschende aus aller Welt bestellen Mikroorganismen und Zellkulturen bei der DSMZ
Forschende aus 87 Ländern bestellen Bioressourcen bei der DSMZ in Braunschweig. Mehr als 4.200 Kunden bezogen im Jahr 2023 rund 42.000 Bioressourcen. Jede dritte Bestellung erreicht die DSMZ momentan über den Online-Shop. Da fast 72 Prozent der Kunden international sind, ist der neue Webshop wie die Internetseite der DSMZ englischsprachig. Bei der DSMZ übernahm die Stabsstelle Presse und Kommunikation die redaktionelle Leitung und in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Business Applications der Abteilung Bioinformatik, IT und Datenbanken koordinierte sie den Relaunch des Online-Shops. Die Braunschweiger Internetagentur fishfarm netsolutions GmbH, die bereits für den Launch der DSMZ-Website verantwortlich war, übernahm die grafische Gestaltung und arbeitete im Rahmen des Relaunchs eng mit der GEDAK GmbH in Kempen Hand in Hand zusammen. Die GEDAK war für die Implementierung des neuen Layouts und die technische Umsetzung des Relaunch verantwortlich. Das Unternehmen GEDAK ist als etabliertes Softwareunternehmen auf die Entwicklung von Webanwendungen und E-Commerce-Lösungen, aber auch auf Individuallösungen und KI-Integrationen, spezialisiert.

Hier geht es zum neuen Online-Shop des Leibniz-Instituts DSMZ: https://webshop.dsmz.de/

Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH
 

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Wissenschaft Niedersachsen
news-32437 Wed, 30 Apr 2025 12:01:13 +0200 Unerwarteter Bakterienstopper https://www.vbio.de/aktuelles/details/unerwarteter-bakterienstopper Fusobakterien, die zur Mundflora gehören, stehen im Verdacht, das Wachstum von Krebs zu fördern. Forschende des Helmholtz-Instituts für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) arbeiten daher an innovativen Strategien, um die Ausbreitung dieser Bakterien zu hemmen. Sogenannte Antisense-Moleküle, die wie programmierbare, zielgenaue Antibiotika wirken könnten, stellen einen vielversprechenden Ansatz dar. In einer Studie gelang es dem Forschungsteam von Jörg Vogel nun, eine Verbindung zu identifizieren, die das Wachstum von fünf Fusobakterienarten zuverlässig stoppt. Das Mikrobiom im menschlichen Mund setzt sich aus mehr als 700 Bakterienarten aus sieben verschiedenen Stämmen zusammen – darunter auch Fusobacterium nucleatum. Aber nicht nur in der Mundhöhle ist diese Mikrobe zu finden. Sie kann auch andere Bereiche des Körpers besiedeln – insbesondere Tumorgewebe bei Speiseröhren-, Darm- und Brustkrebs. Es gibt Hinweise darauf, dass Fusobacterium nucleatum dort das Tumorwachstum sowie die Metastasenbildung fördert. Die Verbreitung dieser und anderer Fusobakterien gezielt zu hemmen, könnte sich daher positiv auf die Heilungschancen von Krebspatient:innen auswirken. Doch wie lässt sich das erreichen? Diese Frage haben sich Wissenschaftler:innen des Helmholtz-Instituts für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) in Würzburg, einem Standort des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) in Kooperation mit der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU), gestellt.

„Fusobakterien fanden lange Zeit wenig Beachtung – und das trotz ihrer klinischen Bedeutung“, stellt Jörg Vogel fest, Geschäftsführender Direktor des HIRI und korrespondierender Autor der vorliegenden Studie. „Ein Ziel meiner Arbeitsgruppe am HIRI ist es, Strategien zu untersuchen, die diese Mikroben in Karzinomen gezielt beseitigen können.“

Maßgeschneiderte Antibiotika 

Obwohl herkömmliche Antibiotika in der Lage sind, die Verbreitung von Fusobakterien zu hemmen und dadurch das Tumorwachstum zu verlangsamen, kann ihr langfristiger Einsatz unerwünschte Nebenwirkungen wie Magen-Darm-Probleme durch eine gestörte Darmflora hervorrufen. Dies liegt daran, dass sie nicht nur schädliche, sondern auch nützliche Bakterien angreifen. Deshalb suchen Wissenschaftler:innen am Würzburger Helmholtz-Institut nach neuen, gezielten Behandlungsmethoden, die diese Risiken vermeiden. In ihrer aktuellen Studie, die sie in mBio, einem Fachmagazin der Amerikanischen Gesellschaft für Mikrobiologie, veröffentlicht haben, konzentrieren sie sich auf Peptidnukleinsäure (PNA, von engl. peptide nucleic acid). Dabei handelt es sich um künstlich hergestellte Moleküle, die DNA oder RNA ähneln. Im Gegensatz zu natürlichen Nukleinsäuren besteht das Rückgrat von PNAs jedoch nicht aus Zucker- und Phosphatgruppen, sondern aus einer proteinartigen Struktur. Diese Struktur, die kurzen Proteinketten – sogenannten Peptiden – ähnelt, verleiht PNAs eine außergewöhnliche Stabilität. Die Basen entsprechen denen in DNA, was es den PNAs ermöglicht, Transkripte gezielt anzusteuern. Als sogenannte Antisense-Moleküle binden PNAs an die komplementäre Boten-RNA (mRNA, von engl. messenger RNA) eines Zielgens und blockieren deren Funktion. Auf diese Weise unterbinden sie die Produktion lebenswichtiger Proteine. Diese gezielte Wirkungsweise positioniert PNAs als potentielle Vertreter einer neuen Generation antibakterieller Wirkstoffe.

Eine unverhoffte Entdeckung

Die eingeschleusten Antisense-Moleküle, die gezielt Gene angreifen sollten, konnten das Bakterienwachstum zwar nicht wie angenommen hemmen, allerdings machte das Forschungsteam eine unerwartete Entdeckung: Die Kontrollverbindung FUS79, die nicht auf ein bestimmtes Transkript abzielte, zeigte eine starke Wirkung gegen fünf Fusobakterienstämme, ohne andere getestete Bakterienarten zu beeinflussen. „Das Ergebnis war überraschend, da die Verbindung nicht auf die für Antisense-Nukleinsäureketten erwartete Weise agiert, sondern einen neuen Mechanismus aufweist“, erklärt Valentina Cosi, Erstautorin der Studie und Doktorandin im Labor von Jörg Vogel. „Dieser scheint über Membranstress zu wirken, indem er die Struktur der Zellmembran destabilisiert oder ihre Funktion beeinträchtigt, was jedoch noch genauer untersucht werden muss.“ „Als nächsten Schritt wollen wir den genauen Wirkmechanismus dieser Verbindung entschlüsseln und sie optimieren, um ihre Wirksamkeit noch weiter zu steigern“, ergänzt Jörg Vogel.

Die Studie liefert eine Grundlage für die Entwicklung von Antisense-Therapeutika gegen F. nucleatum und zeigt, dass diese Verbindung eine neue Strategie für gezieltere Antibiotika bieten könnte. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen dazu beitragen, Forschung auf diesem Gebiet zu beschleunigen und zukünftig die Heilungschancen bei verschiedenen Krebsarten zu verbessern.
 

Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung


Originalpublikation:

Cosi V, Jung J, Popella L, Ponath F, Ghosh C, Barquist L, Vogel J (2025) An antisense oligomer conjugate with unpredicted bactericidal activity against Fusobacterium nucleatum. mBio, DOI: 10.1128/mbio.00524-25, https://doi.org/10.1128/mbio.00524-25

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Wissenschaft Bayern
news-32431 Wed, 30 Apr 2025 09:43:00 +0200 VBIO Online-Webinarreihe: „Viren und Krebs“ https://www.vbio.de/aktuelles/details/vbio-online-webinarreihe-viren-und-krebs Die Online-Webinarreihe „Faszination Biologie“ des VBIO wird am 27.05.2025 von 17.00 bis 19.00 Uhr mit dem Thema: „Viren und Krebs“ fortgeführt. Dieses wissenschaftliche Webinar richtet sich nicht nur an Unterrichtende, sondern an alle Interessierten. Etwa zwölf Prozent aller neu auftretenden Krebserkrankungen weltweit lassen sich auf Virusinfektionen zurückführen. Bisher sind sieben Virusarten bekannt, die nachweislich an der Entstehung verschiedener Tumore im Menschen beteiligt sind – darunter Papilloma-, Polyoma- und Herpesviren. Diese Viren haben sich im Laufe der Evolution als äußerst erfolgreich erwiesen: Fast jeder Mensch ist Träger eines oder mehrerer Vertreter dieser Virusfamilien. Trotz dieser weiten Verbreitung entwickeln nur vergleichsweise wenige Infizierte tatsächlich eine Krebserkrankung. 

Warum das so ist und welche Faktoren hier eine Rolle spielen, beleuchtet dieser Vortrag. Der aktuelle Stand der Wissenschaft wird erläutert und es wird ein Einblick in die biologischen Eigenschaften von Tumorviren gegeben, die unter bestimmten Umständen zur Krebsentstehung führen können. Abschließend wird ein Blick auf aktuelle Ansätze zur Prävention und Intervention geworfen –  und es wird diskutiert, weshalb es bislang nur für wenige dieser Viren wirksame Impfstoffe oder Therapien gibt.

Der VBIO konnte für dieses Webinar Frau Prof. Dr. Nicole Fischer (Leiterin des Institutes für Molekulare Virologie und Tumorvirologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) und Herrn Prof. Dr. Adam Grundhoff (Leiter der Abteilung Virusgenomik, Leibniz-Institut für Virologie, Hamburg) gewinnen. 

Im Rahmen dieser Online-Webinarreihe „Faszination Biologie“ berichten Wissenschaftler/-innen zu ihrem Forschungsfeld und treten in den Dialog. Monatlich werden andere biologische und biomedizinische Inhalte in den Blick genommen, vertiefend erläutert und anschaulich erklärt. Anschließend werden in der Regel Text- und Bildmaterialien für den Privat- und Dienstgebrauch in z. B. Schule zur Verfügung gestellt. Anknüpfungspunkte zu den Bildungsstandards im Fach Biologie (KMK 18.06.2020) lassen sich in allen Vorträgen finden.

Weitere Vorträge (https://www.vbio.de/informationsangebote/faszination-biologie) folgen und sind schon in der Ankündigung zu finden; hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind angefragt. Im Mittelpunkt der Vorträge stehen wissenschaftliche Erkenntnisse und der Weg dorthin. Relevante Fachmethoden werden ebenfalls vorgestellt – und selbstverständlich werden Ihre Fragen beantwortet. 

Bitte registrieren Sie sich so rasch wie möglich – spätestens am Veranstaltungstag bis 16 Uhr. Bei Anmeldung nach 16 Uhr kann eine Teilnahme nicht garantiert werden. 

Melden Sie sich an unter

https://us06web.zoom.us/webinar/register/WN_1kvKLLchQSCIJB6PP85biw

Alle Informationen finden Sie auch auf dem Veranstaltungsposter.

VBIO

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VBIO-Online: Faszination Biologie Bundesweit
news-32435 Tue, 29 Apr 2025 12:43:01 +0200 47 Millionen Jahre altes Zirpen: Erste fossile Singzikade in der Grube Messel entdeckt https://www.vbio.de/aktuelles/details/47-millionen-jahre-altes-zirpen-erste-fossile-singzikade-in-der-grube-messel-entdeckt Erstmals wurde das Fossil einer Singzikade aus der Fossillagerstätte Grube Messel beschrieben. Eoplatypleura messelensis gehört zu den ältesten bekannten Vertretern der heutigen Singzikaden in Eurasien und ist weltweit der früheste Nachweis für die Unterfamilie Cicadinae. Der Fund aus dem UNESCO-Welterbe nahe Darmstadt erweitert das Bild der damaligen Tierwelt, schließt eine wichtige Lücke im Fossilbericht und liefert neue Erkenntnisse über die Entwicklung und Ausbreitung dieser Insektengruppe in Europa während des Känozoikums. Ein etwa 26,5 Millimeter langer Körper und eine Flügelspannweite von 68,2 Millimetern – das erwachsene Singzikaden-Weibchen aus den etwa 47 Millionen Jahren alten Ölschiefern der Grube Messel ist nahezu vollständig erhalten geblieben. „Die Familie der Singzikaden (Cicadidae) gehört heute zu den artenreichsten Insektengruppen. Trotzdem gibt es im Vergleich zur Vielzahl heutiger Arten nur sehr wenige Fossilfunde“, erklärt Dr. Sonja Wedmann vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Innerhalb dieser Familie ist die Gruppe Platypleurini besonders auffällig – sie hat eine weite Verbreitung, viele verschiedene Arten und besondere Merkmale. Wir haben nun erstmals ein Fossil aus dieser Zikadengruppe beschrieben.“

Die neu beschriebene Zikadenart Eoplatypleura messelensis fällt neben ihrer Größe besonders durch ihre ausladenden und auffällig gemusterten Flügel auf. „Diese Muster ähneln denen heutiger Zikadenarten der Platypleurini-Gruppe, die in Wald- und Buschlandschaften leben. Angesichts der damaligen subtropischen Vegetation im Messeler Gebiet vor etwa 47 Millionen Jahren könnte die Färbung eine ähnliche ökologische Funktion erfüllt haben – etwa zur Tarnung“, so Erstautorin Dr. Hui Jiang. Die Paläontologin wurde durch ein „Senckenberg Global Fellowship“-Stipendium gefördert und führte die Studie während ihres Forschungsaufenthalts an der Senckenberg Forschungsstation Grube Messel durch. „Typisch für das neue Messel-Fossil sind ein kompakter Kopf mit unauffälligen Facettenaugen sowie breite Vorderflügel mit deutlich gebogener Vorderkante. Obwohl es sich bei dem Fossil um ein Weibchen handelt, deutet vieles darauf hin, dass die Männchen dieser Art laute Paarungsrufe ausstoßen konnten“, ergänzt Jiang.

Bis heute wurden 44 fossile Funde von Zikaden aus dem Känozoikum, der Zeit beginnend vor circa 66 Millionen Jahren, dokumentiert. „Die von uns als neue Gattung und Art beschriebene Zikade gehört zu den ältesten bekannten Vertretern der heutigen Singzikaden in Eurasien und ist weltweit der früheste Nachweis für die Unterfamilie Cicadinae. Es handelt sich außerdem um die erste beschriebene zirpende Zikade aus der Grube Messel“, fügt Senckenberg-Grabungsleiterin Wedmann hinzu.

Der Fund erweitere nicht nur das Wissen über die Tierwelt der Grube Messel, sondern schließe auch eine wichtige Lücke in der Geschichte der Zikaden im Eozän, heißt es in der Studie. Eoplatypleura messelensis könne künftig als wichtige zeitliche Referenz für genetische Studien zur Entwicklungsgeschichte dieser Tiere dienen und neue Erkenntnisse über die Herkunft und Ausbreitung der Platypleurini liefern. Wedmann fasst zusammen: „Jeder neue Fossilfund aus dem UNESCO-Welterbe Grube Messel ist von großer wissenschaftlicher Bedeutung. Insekten machen einen Großteil der biologischen Vielfalt aus. Ihre fossile Überlieferung hilft uns, die Entwicklung komplexer Ökosysteme und ökologischer Wechselwirkungen besser zu verstehen. Fossilien, wie unsere Singzikade, geben faszinierende Einblicke in das Leben vor etwa 47 Millionen Jahren und liefern wertvolle Hinweise auf die Ursprünge heutiger Insektenvielfalt.“

Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt


Originalpublikation:

Jiang, H., Moulds, M.S., Blank, S.M. et al. Sounds from the Eocene: the first singing cicada from the Messel Pit, Germany. Sci Rep 15, 12826 (2025). https://www.nature.com/articles/s41598-025-94099-7

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Wissenschaft Hessen
news-32434 Tue, 29 Apr 2025 11:17:56 +0200 Extreme Regenfälle – seit langem bestehende Hypothese zur Temperaturabhängigkeit endlich geklärt? https://www.vbio.de/aktuelles/details/extreme-regenfaelle-seit-langem-bestehende-hypothese-zur-temperaturabhaengigkeit-endlich-geklaert Sturzfluten, die aus extremen Regenfällen resultieren, stellen ein großes Risiko für Menschen und Infrastrukturen dar, insbesondere in städtischen Gebieten. Höhere Temperaturen durch weltweite Klimaveränderungen wirken sich in etwa gleichem Maße auf Dauer-Regenfälle und auf kurze Regenschauer aus. Treten beide Niederschlagsarten jedoch zugleich auf, wie es für Gewitterwolken-Cluster typisch ist, so steigt die Niederschlagsmenge stärker mit zunehmender Temperatur, wie die Studie zweier Wissenschaftler der Universität Potsdam und des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) in Bremen zeigt. Extreme Regenfälle können starke Überschwemmungen – sogenannte „Sturzfluten“ – verursachen. Wie verändern sich solche extremen Niederschläge mit der Temperatur? Diese Frage wird seit Jahrzehnten mithilfe von Niederschlags- und Temperaturaufzeichnungen untersucht, die in kurzen Abständen von einer Stunde oder weniger gemessen werden. Niederschlag und Wolken bilden sich, wenn der Wasserdampf in der Luft gesättigt ist und sich kleine Tröpfchen formen, die schließlich zu Regentropfen zusammenklumpen. Die Clausius-Clapeyron-Beziehung besagt, dass mit steigender Temperatur pro Grad Celsius etwa 7 Prozent mehr Wasserdampf zur Sättigung erforderlich ist. Stark vereinfacht kann man sich die Beziehung wie einen Schwamm vorstellen, der bei steigenden Temperaturen mehr Wasser aufnehmen kann. Ein extremes Niederschlagsereignis entspricht in diesem Bild dem Zusammendrücken des Schwamms, um das meiste Wasser freizusetzen. 

Diese Hypothese wurde im Jahr 2008 durch die Analyse einer langen Zeitreihe von Niederschlagsdaten in den Niederlanden infrage gestellt. Die Autoren dieser Studie, Lenderink und van Meijgaard, kamen aufgrund ihres statistischen Ansatzes zu dem Schluss, dass die Clausius-Clapeyron-Beziehung nicht ausreicht, um die Zunahme der extremen Niederschläge zu beschreiben, insbesondere Gewitterniederschläge, die um 14 Prozent pro Grad Celsius zunehmen können – also mit der doppelten Rate von Clausius-Clapeyron. 

In den vergangenen 17 Jahren hat die inzwischen mehr als 1.000 Mal zitierte Arbeit von Lenderink und van Meijgaard zu zahlreichen Untersuchungen des Phänomens geführt, ohne dass die in der niederländischen Studie ausgearbeiteten Grundlagen eindeutig bestätigt oder zurückgewiesen werden konnten. Insbesondere war es schwierig festzustellen, inwieweit die Mischung verschiedener Niederschlagsarten zu statistischen Überlagerungen führen könnte. 

Die aktuelle Arbeit befasst sich eingehend mit zwei Niederschlagsarten: kontinuierlichen und gleichmäßigen (stratiformen) Dauer-Niederschlägen im Vergleich zu kurzen Regenschauern, die für Gewitter typisch sind. „Wir nutzen einen großen und hochfrequenten Datensatz aus Deutschland, der mit einem neuartigen Datensatz zur Blitzerfassung kombiniert wird. Da Blitze Gewitteraktivität anzeigen, können die stratiformen Niederschläge auf diese Weise von den Gewittern getrennt werden“, erklärt Nicolas Da Silva von der Universität Potsdam. „Das Ergebnis ist verblüffend: Betrachtet man nur klare Gewitterregen und untersucht Extremwerte bei jeder Temperatur, entspricht der Anstieg nahezu perfekt der Clausius-Clapeyron-Theorie“, fügt Jan O. Härter von der Universität Potsdam hinzu, der ebenfalls am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) tätig ist. Werden nur die stratiformen Niederschläge ausgewählt, passen die Messwerte ebenfalls gut zur Clausius-Clapyron-Theorie. Erst wenn man die Statistiken beider Typen kombiniert, ergeben sich wesentlich höhere Temperatur-Anstiegsraten, so wie in der Studie von Lenderink und van Meijgaard vorhergesagt. Die Autoren Da Silva und Härter stellen fest, dass dieser ‚Super-Clausius-Clapeyron‘-Anstieg also rein statistischen Ursprungs ist, sodass eine seit langem bestehende Kontroverse endlich beigelegt werden könnte. 

Die aktuelle Studie zeigt jedoch, dass der statistische ‚Super-Clausius-Clapeyron‘-Anstieg der Niederschlagsextreme für Cluster gültig ist, die sowohl Gewitterwolken als auch stratiforme Wolken enthalten. Solche Wolken-Cluster sind für einen Großteil der extremen Niederschläge verantwortlich, die Sturzfluten verursachen. „Nimmt man die Temperaturänderungen an, die für die kommenden Jahrzehnte im Rahmen der Klimaerwärmung prognostiziert werden, so könnten extreme Regenfälle ein noch nie dagewesenes Risikoniveau für Menschen und Infrastrukturen erreichen, insbesondere in städtischen Gebieten“, betonen die Autoren.

Universität Potsdam


Originalpublikation:

Nicolas A. Da Silva and Jan O. Haerter, 2025, Super-Clausius-Clapeyron scaling of extreme precipitation explained by shift from stratiform to convective rain type, Nat. Geoscience, https://www.nature.com/articles/s41561-025-01686-4

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Nachhaltigkeit/Klima Wissenschaft Brandenburg
news-32433 Tue, 29 Apr 2025 11:12:17 +0200 Klimawandel erhöht das Risiko gleichzeitiger Waldbrände https://www.vbio.de/aktuelles/details/klimawandel-erhoeht-das-risiko-gleichzeitiger-waldbraende Der Klimawandel erhöht in vielen Regionen der Erde das Risiko von Waldbränden. Ausschlaggebend sind dafür unter anderen bestimmte Witterungsbedingungen, die die Ausbreitung eines Feuers erleichtern, das sogenannte Feuerwetter. UFZ-Forschende haben nun mit australischen Kolleg:innen herausgefunden, dass sich die Saisons dieser Feuerwetter in Ost-Australien und West-Nordamerika zunehmend zeitlich überschneiden. Das Team hat sich sowohl mit den Gründen dieser Verschiebung befasst als auch mit den Auswirkungen auf die länderübergreifende Kooperation der Feuerwehren in Kanada, den USA und Australien bei der Brandbekämpfung. Die Westküste Nordamerikas und die Ostküste Australiens sind Regionen, die in der Vergangenheit immer wieder schwer getroffen wurden von Flächenbränden. Die letzte Brandkatastrophe, die beispielsweise Los Angeles Anfang 2025 heimsuchte, zerstörte mehr als 10.000 Gebäude und kostete laut Medienberichten 29 Menschen das Leben. Die Ostküste Australiens wurde zwischen September 2019 bis März 2020 von einem der verheerendsten Buschfeuer des Landes getroffen: Mehr als 12 Millionen Hektar Wald und Buschland verbrannten. Bei diesen beiden Katastrophen, aber auch bei ähnlichen Flächenbränden in früheren Jahren, unterstützen sich die Feuerwehrleute aus Kanada, den USA und Australien gegenseitig bei der Brandbekämpfung. Käme es künftig vermehrt zu einer zeitlichen Überschneidung von Flächenbränden, so hätte das erhebliche Auswirkungen auf diese länderübergreifende Kooperation.

Die Intention des internationalen Wissenschaftler:innen-Teams war es deshalb zu untersuchen, wie sich das zeitliche Auftreten der Feuerwetter-Saisons in den beiden Regionen infolge des Klimawandels verschiebt. Die Forschenden setzten dabei auf den kanadischen Feuerwetterindex (FWI) – ein meteorologisch basierter Index, der weltweit zur Schätzung der Brandgefahr verwendet wird und die Parameter Niederschlag, Temperatur, relative Luftfeuchtigkeit und Windgeschwindigkeit berücksichtigt. Sie definierten über den FWI sogenannte Feuerwetter-Tage, also Tage mit einem hohen Wald- und Buschbrandrisiko. Dabei stellten die Forschenden basierend auf Beobachtungsdaten fest, dass sich die Feuerwetter-Tage, und damit das Risiko, dass es zu Flächenbränden kommt, seit 1979 immer stärker zeitlich überlappen. Die höchste Wahrscheinlichkeit für diese Überschneidung liegt mit etwa 75 Prozent zwischen Juli und Dezember. Insgesamt nimmt die Zahl der gleichzeitigen Feuerwetter-Tage in Ost-Australien und West-Nordamerika seit den vergangenen 40 Jahren zu, nämlich um einen Tag pro Jahr. „Dies hängt damit zusammen, dass die Brandsaison in Ost-Australien immer früher im Frühling beginnt und sich so zeitlich in die auslaufende Brandsaison an der Westküste Nordamerikas schiebt“, erklärt UFZ-Klimawissenschaftlerin und Erstautorin Dr. Andreia Ribeiro, die für das UFZ in dem vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderten deutsch-australischen Forschungsprojekt mitarbeitete. 

Das Forschungsteam hat zudem analysiert, wie sich die saisonale Überlappung in Zukunft entwickelt. Es nutzte dafür vier Klimamodelle, die jeweils ein breites Ensemble von Simulationen nutzen und so etwaige Unsicherheiten gut berücksichtigen. Der Trend ist eindeutig: „Die Zahl der überlappenden Tage der Feuerwetter-Saison im Westen Nordamerikas und im Osten von Australien wird sich weiter erhöhen“, sagt Andreia Ribeiro. Je nachdem, welches Klimamodell eingesetzt werde und wie stark damit die potenzielle Erderwärmung ausfalle, reiche die Spannbreite von 4 bis 29 Tagen mehr pro Jahr bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts.

Gegenwärtig hängt die Überschneidung weitgehend ab von der Variabilität der El-Nino Southern Oscillation – ein System, das die Zirkulation des Ozeans und der Atmosphäre im äquatorialen Pazifik steuert. Das Feuerwetter im Osten Australiens geht in der Regel mit El Niño-Bedingungen einher, also mit ungewöhnlich hohen Meeresoberflächentemperaturen. Dürren und Hitzewellen sind beispielsweise die Folgen. Im Westen Nordamerikas wird dagegen Feuerwetter eher mit der entgegengesetzten Situation La Niña verbunden. „Trotz dieser im Allgemeinen gegensätzlichen Muster haben wir herausgefunden, dass während einer starken Überlappung der Feuerwetter-Tage die El Niño-Bedingungen im Zentralpazifik besonders ausgeprägt sind“, sagt Andreia Ribeiro. Allerdings wird der El Niño-Effekt mittelfristig durch den Klimawandel überlagert werden. „Der Klimawandel führt überall zu höheren Temperaturen und in einigen Regionen zu einer Zunahme der Trockenheit, während sich der El Niño-Effekt kaum ändern wird“, sagt Prof. Dr. Jakob Zscheischler, UFZ-Klimawissenschaftler und Co-Autor. 

Keine guten Aussichten sind das für die Zusammenarbeit zwischen US-amerikanischen, kanadischen und australischen Feuerwehren, die sich traditionell seit vielen Jahren gegenseitig in der Flächenbrandbekämpfung mit Feuerwehrpersonal und Löschflugzeugen unterstützen. Bislang waren die Feuerwetter-Saisons zu verschiedenen Zeiten im Jahr verteilt. An der West-Küste Nordamerikas zwischen Juni und September, in Ost-Australien zwischen Dezember und Februar. Die Lücken ließen genug Zeit, um sich gegenseitig zu Hilfe zu kommen, wenn diese gefragt war. „Doch diese sich zunehmend überschneidenden Feuerwetter-Saisons in den USA und Australien verringern das Zeitfenster für die internationale Zusammenarbeit bei der Brandbekämpfung und erschweren es, auf großflächige Waldbrände schnell zu reagieren“, sagt Erst-Autor Dr. Doug Richardson vom ARC Centre of Excellence for Climate Extremes an der University of New South Wales (Australien). Deshalb müssten internationale Vereinbarungen zur Zusammenarbeit bei der Brandbekämpfung und die nationalen Brandbekämpfungskapazitäten überprüft werden müssen. Sowohl Australien als auch die USA müssten in Zukunft mehr in ihre eigene Ausrüstung zur Bekämpfung von Waldbränden und Buschfeuern investieren, um unabhängiger von dieser Kooperation zu werden.

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ


Originalpublikation:

Doug Richardson, Andreia F. S. Ribeiro, Fulden Batibeniz, Yann Quilcaille, Andrea S. Taschetto, Andrew J. Pitman, Jakob Zscheischler, „Increasing fire weather season overlap between North America and Australia challenges firefighting cooperation“, Earth’s future, doi: http://dx.doi.org/10.1029/2024EF005030

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Nachhaltigkeit/Klima Wissenschaft Sachsen
news-32432 Tue, 29 Apr 2025 11:06:01 +0200 Zellkolonien unter Druck – wie Wachstum Bewegung verhindern kann https://www.vbio.de/aktuelles/details/zellkolonien-unter-druck-wie-wachstum-bewegung-verhindern-kann Die Wechselwirkung zwischen Wachstum und aktiver Bewegung von Zellen spielt eine entscheidende Rolle für die räumliche Durchmischung von wachsenden Zellverbänden. Diesen Zusammenhang entdeckten Wissenschaftler der Abteilung Physik lebender Materie am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (MPI-DS). Ihre Ergebnisse liefern neue Ansätze zum Verständnis der Dynamik von Bakterienkolonien oder auch Tumoren.  Die Möglichkeit zur eigenständigen Fortbewegung ist eine grundlegende Eigenschaft von lebender Materie wie beispielsweise Zellen. Wissenschaftler des MPI-DS haben untersucht, wie diese Bewegung mit dem Wachstum der gesamten Kolonie wechselwirkt, welches sich in den verschiedensten Zellverbänden beobachten lässt. Solches Wachstum wird dadurch verursacht, dass Zellen in Geweben, Bakterienkolonien, Zellkulturen im Labor oder auch in Tumoren sich kontinuierlich teilen und immer mehr Raum einnehmen.

Dieses Szenario stellten die Forschenden in einem minimalen Computermodell einer wachsenden dreidimensionalen Zellkolonie nach und gaben den Zellen zusätzlich die Fähigkeit, sich mit einer gewissen Kraft fortzubewegen, sogenannte Motilität. In ihren Simulationen stellten sie fest, dass vermehrte Zellteilung und somit schnelleres Wachstum zu einer eingeschränkten Bewegung der Zellen führen kann und sich die Kolonie dadurch weniger durchmischt. Dann ist kaum Migration einzelner Zellen sichtbar, auch wenn diese das Potential dazu besitzen.

“Das Überraschende war, dass es eine relativ scharfe Schwelle der Motilität gibt, bis zu der das Wachstum eines Zellhaufens die Bewegung der Zellen fast vollständig hemmt“, sagt Torben Sunkel, Erstautor der Studie. Erst wenn ein bestimmtes Verhältnis von Fortbewegungskraft und Wachstumsrate überschritten wird, beginnen die Zellen, sich durch das Gewebe zu bewegen. In der Biologie ist bekannt, dass Zellen durch biochemische Signale oder andere Mechanismen ihre Motilität an- oder ausschalten können. “Aber in unserem Modell ergibt sich der Übergang ganz von selbst aus den mechanischen Wechselwirkungen – ein Paradebeispiel für kollektives Verhalten, das durch das Zusammenspiel vieler Einzelteile entsteht”, unterstreicht Philip Bittihn, Seniorautor der Studie und Gruppenleiter in der Abteilung Physik lebender Materie am MPI-DS. Wie die Forschenden herausfanden, liegen die Gründe dafür zum einen in dem durch Zellteilung hervorgerufenen Platzmangel im Inneren des Zellhaufens, der Bewegung direkt durch mechanische Kontakte verhindert. Zum anderen sorgt eine schnelle räumlichen Ausdehnung der Kolonie für weitere Wege, die Zellen zurücklegen müssen, was ihre Bewegung ineffektiver macht.

Wie sich Zellkolonien organisieren und strukturieren können, ist in vielen Bereichen wichtig. Die Studie liefert daher möglicherweise auch neue Ansatzpunkte für experimentelle und medizinische Forschung – beispielsweise für Bakterienkolonien, Wundheilungsprozesse, das Züchten von Geweben oder in der Krebsbiologie.

Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation


Originalpublikation:

Sunkel, T., Hupe, L. & Bittihn, P. Motility-induced mixing transition in exponentially growing multicellular spheroids. Commun Phys 8, 179 (2025). doi.org/10.1038/s42005-025-02090-5

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Wissenschaft Niedersachsen
news-32430 Mon, 28 Apr 2025 11:45:26 +0200 Bonobo-Weibchen halten Männchen mit Solidarität in Schach https://www.vbio.de/aktuelles/details/bonobo-weibchen-halten-maennchen-mit-solidaritaet-in-schach Weibliche Bonobos verbünden sich, um gegen sie gerichtete männliche Aggressionen unterdrücken—dies ist der erste Beweis dafür, dass Tiere eine derartige Strategie anwenden. In 85 % der beobachteten Koalitionen taten sich Weibchen gegen Männchen zusammen, zwangen sie so zur Unterwerfung und prägten damit die Dominanzhierarchie der Gruppe. Die Studie, geleitet von Forschern der Harvard University und dem Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, untersuchte demografische und verhaltensbezogene Daten von sechs freilebenden Bonobo-Gruppen aus 30 Jahren. Die Studie legt nahe, dass Macht nicht allein durch körperliche Stärke bestimmt wird. Sie kann auch durch soziale Intelligenz und Koalitionsbildung von Weibchen erlangt werden. Biologisch gesehen haben weibliche und männliche Bonobos eine eigenartige Beziehung. Zuerst ist da der Sex. Es sind die Weibchen, die entscheiden, wann und mit wem sie sich paaren. Mühelos parieren sie unerwünschte sexuelle Annäherungsversuche—und die Männchen wissen, dass sie den Sex besser nicht erzwingen sollten. Dann ist da das Essen. In der Regel sind es die Weibchen, die hochwertige, teilbare Ressourcen, wie z.B. ein frisch erlegtes Beutetier, kontrollieren. Sie fressen am Boden sitzend ohne sich bedroht zu fühlen, während die Männchen in der Peripherie warten, dass sie an die Reihe kommen.

Diese Freiheit, die die Weibchen genießen, mag nach unseren Maßstäben normal klingen, doch laut Martin Surbeck von der Harvard University ist sie „ für ein Tier wie den Bonobo völlig bizarr “. Bonobo-Männchen sind größer und stärker als die Weibchen, was ihnen die physische Überlegenheit gibt, anzugreifen, Paarungen zu erzwingen und Nahrungs zu monopolisieren. Wie bei fast allen anderen sozialen Säugetierarten mit größeren Männchen sollte auch die Bonobo-Gesellschaft von Männchen dominiert sein. Dennoch haben Bonobo-Weibchen bekanntlich einen hohen sozialen Status im Vergleich zu ihren größeren männlichen Artgenossen. Bislang wusste jedoch niemand, wie diese widersprüchliche Dynamik überhaupt möglich war.

„Es gab konkurrierende Ideen für das «Wie»“, sagt Barbara Fruth vom MPI-AB, die seit 30 Jahren zusammen mit Gottfried Hohmann die Bonobo-Forschungsstation LuiKotale leitet, „aber keine davon wurde jemals an freilebenden Bonobos getestet, die nur an schwer zugänglichen Orten im zentralafrikanischen Regenwald des Kongobeckens leben.“

Jetzt hat eine Studie von Surbeck und Fruth die ersten empirischen Hinweise von freilebenden Bonobos geliefert, die das seltene Phänomen erklären: Weibchen erhalten ihre Macht, indem sie sich mit anderen Weibchen verbünden. Weibchen liefen Männchen den Rang ab, wenn sie sich zusammenschlossen, was die Autoren „Koalitionen“ nennen. In den meisten der beobachteten Koalitionen (85 %)—griffen Weibchen Männchen kollektiv an, zwangen sie zur Unterwerfung und formten so die Dominanzhierarchie ihrer Gruppe.

„Nach unserem Wissen ist dies der erste Beweis dafür, dass weibliche Solidarität die für viele Säugetiergesellschaften typische männlich geprägte Machtstruktur umkehren kann “, sagt Surbeck, der Erstautor der Studie. „Es ist eindrücklich zu sehen, dass Weibchen aktiv ihren sozialen Status erhöhen können, indem sie sich gegenseitig unterstützen.“ 

Dominanzstruktur in Bonobo-Gruppen

Internationale Forscherteams beobachteten sechs freilebende Bonobo-Gruppen an drei Forschungsstandorten in der Demokratischen Republik Kongo, dem einzigen Land, in dem Bonobos in freier Wildbahn leben. Der über 30 Jahre zusammengetragene Datensatz enthält Beobachtungen von 1’786 Konflikten zwischen Männchen und Weibchen. Die Forscher analysierten den Ausgang dieser Konflikte—von denen 1’099 von Weibchen gewonnen wurden—zusammen mit einer Reihe sozialer und demografischer Daten. Dadurch fanden sie Anhaltspunkte dafür, was die „weibliche Macht“ beeinflusst, die sie als alle Faktoren definierten, die den Ausgang eines Konflikts zu Gunsten der Weibchen beeinflussen. „Man kann einen Konflikt gewinnen, wenn man stärker ist, wenn man Freunde hat, die einen unterstützen, oder wenn man etwas hat, das der andere will und nicht mit Gewalt nehmen kann“, sagt Surbeck, der Erstautor. 

Koalition eingewanderter Weibchen

Das Team hatte bereits einige Vermutungen, wohin die Ergebnisse führen würden. Surbeck war sich sicher, dass die weibliche Dominanz auf weiblichen Fortpflanzungsstrategien, wie der versteckten Ovulation beruhte, die Männchen daran hindert, Paarungsmöglichkeiten zu monopolisieren. Das Ergebnis der Koalitionsbildung war eine Überraschung. Bei den erwachsenen Weibchen in einer Gruppe handelt es sich um nicht verwandte Einwanderer aus verschiedenen Gruppen, die nicht zusammen aufgewachsen sind, was ihre tiefe Verbundenheit und Kooperationen nicht erwarten lässt. Außerdem, fügt Surbeck hinzu, der die Bonobo-Forschungsstation Kokolopori leitet: „In freier Wildbahn sieht man es nicht so häufig, dass sich Koalitionen bilden.“ 

Wenn sich aber Koalitionen bilden, hinterlassen sie Eindruck. Das erste Anzeichen ist das ohrenbetäubende Schreien, „bei dem man sich die Ohren zuhalten muss“, sagt Fruth. Für die Wissenschaftler ist es schwierig zu wissen, was eine Koalition auslöst, da sie sich in Sekundenbruchteilen nach einem Ereignis formt, etwa wenn ein Männchen versucht, ein Junges zu verletzen. Das Männchen wird von schreienden Weibchen angegriffen und durch die Bäume gejagt, was manchmal zu sehr ernsthaften? Verletzungen führen kann. „Es ist eine brachialische Art, Macht auszuüben“, fügt Fruth hinzu. „Man weiß, warum diese Männchen nicht versuchen, Grenzen zu überschreiten.“

Weibliche Dominanz variiert

Aber die umfassende Studie, die sechs Bonobo-Gemeinschaften verglich, legte bisher unbekannte Nuancen in der berühmten Dominanz der Weibchen offen. Zwar gewannen Weibchen durchschnittlich 61 % der Konflikte und waren im Mittel 70 % der Männchen in der Gruppe überlegen, aber diese Dominanz war „keineswegs die Regel“, sagt Fruth. Vielmehr variierte die weibliche Dominanz in den Populationen entlang eines Spektrums. „Wir sollten eher davon sprechen, dass Weibchen in Bonobo-Gesellschaften einen hohen Status genießen, als dass sie eine unangefochtene Dominanz haben“, sagt sie.

Weibliche Koalitionen sind nur einer der Mechanismen, die wahrscheinlich zur Stärke der weiblichen Macht bei Bonobos beitragen, sagen die Autoren. Die Fortpflanzungsautonomie der Weibchen ändert mit Sicherheit die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Das Zeitfenster der weiblichen Fruchtbarkeit bleibt den Männchen verborgen, die mehr davon haben, wenn sie partnerschaftlich in der Nähe von Weibchen bleiben, als sie aggressiv zur Paarung zu zwingen. Diese und andere Ideen zu testen, ist Gegenstand künftiger Forschung.

Tiefer gehende Fragen bleiben bestehen, aber ihre Antworten könnten für immer schwer fassbar bleiben. Fruth sagt: „Es ist mir immer noch ein Rätsel, warum ausgerechnet Bonobos unter allen Tieren weibliche Allianzen bilden. Wir werden das vielleicht nie erfahren, aber es stimmt mich hoffnungsfroh, dass sich Weibchen unserer nächsten lebenden Verwandten aus unserer evolutionären Linie, zusammenschließen, um gemeinsam mit den Männchen die Macht zu übernehmen.“

Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie


Originalpublikation:

Surbeck, M., Cheng, L., Kreyer, M. et al. Drivers of female power in bonobos. Commun Biol 8, 550 (2025). doi.org/10.1038/s42003-025-07900-8

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Wissenschaft Baden-Württemberg
news-32429 Mon, 28 Apr 2025 11:35:46 +0200 Chronische Schlafstörung oder nur mal verdaddelt? https://www.vbio.de/aktuelles/details/chronische-schlafstoerung-oder-nur-mal-verdaddelt Rund 20 bis zu 35 Prozent der Bevölkerung leidet unter chronischen Schlafstörungen, in höherem Alter sogar die Hälfte aller Menschen. Fast jeder Jugendliche oder Erwachsene kennt zudem ein kurzfristiges Schlafdefizit: ob Party, ein langer Arbeitstag, die Pflege Angehöriger oder schlicht am Handy verdaddelt – die Möglichkeiten zu wenig Schlaf zu bekommen sind vielfältig. Jülicher Forschende konnten in einer aktuellen Metastudie zeigen, dass sich die jeweils beteiligten Gehirnregionen deutlich unterscheiden. „Schlechter Schlaf ist einer der wichtigsten – aber veränderbaren – Risikofaktoren für psychische Erkrankungen bei Jugendlichen und älteren Erwachsenen“, sagt der Jülicher Forscher und Privatdozent Dr. Masoud Tahmasian, der die Studie betreut hat. Dabei sind langfristige krankhaften Schlafstörungen, wie Insomnie, obstruktive Schlafapnoe oder Narkolepsie, und kurzfristiger Schlafmangel an unterschiedlichen Orten im Gehirn lokalisiert. Das belegt die aktuelle umfassende Jülicher Meta-Analyse.

Schlafmangel mit negativen Folgen

Gerion Reimann, einer der Erstautoren der Studie, der seine Masterarbeit zu diesem Thema am Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-7) angefertigt hat, sagt: „Die Symptome von Schlafentzug äußern sich am Tage ähnlich. Jeder der schon einmal schlecht oder zu kurz geschlafen hat, weiß, dass man oftmals etwas grummelig ist – oder sogar seine Aufgaben nicht gut erledigen kann, weil die Aufmerksamkeit und das Reaktionsvermögen deutlich eingeschränkt sind.“

Wiederholter Schlafmangel hat zudem deutlich gravierendere Folgen. So zeigen Studien, dass häufiger Schlafentzug die Gehirnentwicklung beeinträchtigt, Schadstoffe aus dem Gehirn schlechter abtransportiert werden, die emotionale Stabilität abnimmt und das Arbeitsgedächtnis sowie die Schul- und Arbeitsleistung massiv nachlassen. „Chronisch schlechter Schlaf und Schlafstörungen sind darüber hinaus Risikofaktoren für verschiedene psychische Erkrankungen“, betont Reimann.

Unterschiedliche Gehirnstrukturen beteiligt

Die Jülicher Forschenden analysierten Daten aus 231 Gehirnstudien. In diesen wurden mehrere Gruppen untersucht und miteinander verglichen: zum Beispiel Patient:innen, die unter chronischen Schlafstörungen litten, mit gesunden Personen, oder gesunde, ausgeruhte Probanden, mit solchen unter Schlafentzug. Die Ergebnisse zeigen klare neuronale Unterschiede zwischen den Gruppen.

Bei Menschen mit chronischen Schlafstörungen traten Veränderungen in einer Gehirnregion auf, die als „vorderer cingulärer Kortex“ bezeichnet wird sowie in der rechten Amygdala, die auch als „Mandelkern“ bekannt ist, und im Hippocampus, einer der zentralen Schaltstellen des Gehirns. Diese Regionen sind beispielsweise an der Verarbeitung von Emotionen, Erinnerungen, Entscheidungen und Sinneseindrücken beteiligt.

Reimann erläutert: „Diese Abweichungen spiegeln häufige Symptome wider, die tagsüber bei verschiedenen Schlafstörungen auftreten, etwa Erschöpfung, Gedächtnisstörungen, Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen. Ob die Veränderungen im Gehirn die Ursache oder eine Folge der chronischen Schlafstörung ist – diese Frage ist noch offen.“

Im Gegensatz dazu war ein kurzfristiger Schlafmangel mit Veränderungen im rechten Thalamus verbunden – einer Hirnregion, die für Temperaturregulierung, Bewegung und Schmerzempfinden verantwortlich ist. „Das deckt sich auch mit den Symptomen eines kurzfristigen Schlafentzugs“, sagt Reimann. „Man ist unaufmerksamer, in seinen Handlungsabläufen eingeschränkt und friert oftmals leichter.“

Wichtige Ergebnisse für zukünftige Studien

„Wir konnten damit erstmals zeigen, dass es keine überlappenden Gehirnregionen zwischen den beiden Gruppen gibt“, sagt Gerion Reimann. „Das ist wichtig für zukünftige Studien. Man kann nun genau die strukturellen und funktionellen Regionen und Netzwerke in den Fokus nehmen, welche für die jeweilige Schlafstörung repräsentativ sind“, betont er. „Zudem werden die einzelnen Schlafstörungen bisher getrennt voneinander betrachtet. Nun kann man Fragen zu chronischen Schlafkrankheiten auch in transdiagnostischen Studien angehen, also mehrere Befunde gleichzeitig untersuchen“, ergänzt Dr. Masoud Tahmasian.

Zudem könnten die neuen Erkenntnisse den Weg zu gezielteren Therapien und vorbeugenden Maßnahmen ebnen. „Viele Patienten, die an Insomnie leiden – oder generell an chronischen Schlafkrankheiten – haben auch ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Angst- oder andere psychischen Störungen sowie für Alzheimer und weitere Demenzerkrankungen“, beschreibt Reimann. „Jetzt, da wir wissen, welche Hirnregionen beteiligt sind, können wir die Auswirkungen nicht-medikamentöser Therapien, wie der kognitiven Verhaltenstherapie oder der positiven Atemwegsdrucktherapie (CPAP), im Vergleich zu pharmakologischen Behandlungen bei verschiedenen Schlafstörungen genauer untersuchen“, sagt er abschließend.

Forschungszentrum Jülich


Originalveröffentlichung: 

Gerion M. Reimann, MSc; Alireza Hoseini, MD; Mihrican Koçak, et al.: „Distinct Convergent Brain Alterations in Sleep Disorders and Sleep Deprivation“, JAMA Psychiatry. 
DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2025.0488.

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Wissenschaft Nordrhein-Westfalen