Seit Jahrzehnten kursiert die Geschichte der „U-Bahn-Mücke“, die während des Zweiten Weltkriegs in Londons Tunneln aufgetaucht sei. Menschen lagen dort nachts auf Bahnsteigen, um Schutz vor Bombenangriffen zu suchen und wurden gestochen. Forschende nahmen lange an, eine neue Mücke hätte sich innerhalb weniger Generationen an das Leben unter der Erde angepasst. Doch das stimmt nicht. Die neue Studie zeigt: Evolution verläuft langfristiger.
Die untersuchte Mückenform Culex pipiens molestus lebt vor allem in warmen, feuchten, oft unterirdischen Lebensräumen in Städten. Sie paart sich auf engem Raum, bleibt im Winter aktiv und sticht Menschen. Weibchen entwickeln ihre erste Eierladung auch ohne Blutmahlzeit, eine seltene Fähigkeit namens Autogenie. Doch auch wenn sie nicht zum Stechen gezwungen sind, tun sie es dennoch: Für weitere Gelege benötigen sie Blut; der Stichtrieb bleibt also erhalten. Ihre nahe Verwandte, die oberirdische Form Cx. pipiens pipiens, bevorzugt Vögel, benötigt offene Flächen zur Paarung und hält Winterschlaf. Morphologisch lassen sich beide nicht unterscheiden.
Genomdaten und historische Proben widerlegen den Mythos
Das Forschungskonsortium unter der Leitung von Prof. Lindy McBride und Yuki Haba (Princeton University) sequenzierte die Genome von mehr als 800 Stechmücken aus 44 Ländern, darunter auch historische Exemplare aus Londoner Museen. Die umfassende Analyse zeigt: molestus ist nicht im Untergrund entstanden, sondern oberirdisch im Mittelmeerraum. Zudem fanden die Forschenden Hinweise darauf, dass sich diese Mückenform bereits vor über 1.000 Jahren an vom Menschen geprägte Lebensräume anpasste, lange bevor moderne Städte entstanden.
„Am bemerkenswertesten finde ich, dass sich diese Mücken schon vor Tausenden von Jahren oberirdisch in frühen Siedlungen an den Menschen anpassten“, sagt Dr. Mine Altinli vom BNITM, die ebenso wie Dr. Tatiana Sulesco (BNITM) Mückenproben zu der Studie beisteuerte. „Eigenschaften, die vermutlich als Reaktion auf jene frühen Lebensräume entstanden sind, ermöglichen es ihnen heute, in modernen Städten und unterirdischen Räumen zu gedeihen. Diese langfristige Beziehung zu verstehen, ist entscheidend, um die heutigen Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit anzugehen.“
Erkenntnisse für die öffentliche Gesundheit
Die Studie liefert nicht nur eine überraschende Evolutionsgeschichte, sie hat auch aktuelle Relevanz. Cx. pipiens molestus ist ein effizienter Überträger von Viren wie dem West-Nil-Virus. Die Erkenntnis, dass diese Mückenform weit verbreitet und genetisch vielfältig ist, hilft, Übertragungswege besser zu verstehen und liefert Hinweise darauf, wie sich Krankheitsüberträger künftig in städtischen Räumen verhalten könnten.
Bernhard-Noch-Institut für Tropenmedizin
Originalpublikation:
Yuki Haba et al.: Ancient origin of an urban underground mosquito. Science Oct. 2025. doi.org/10.1126/science.ady4515





