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Alge des Jahres 2023: Die landlebende Jochalge Serritaenia baut ihren eigenen Sonnenschirm

Serritaenia-Kolonien auf den Blättchen des Frauenhaarmooses, gesammelt im Oberbergischen Land. Foto: Sebastian Hess

Die feuchten Wälder des ozeanisch geprägten westlichen Deutschlands beherbergen eine reiche Algenflora. Anna Busch und Dr. Sebastian Hess von der Universität zu Köln untersuchen seit einigen Jahren schwärzliche Überzüge auf Moosen, Totholz und Baumstämmen. Diese entpuppten sich durch ihre mikroskopischen und genetischen Analysen als eine neue Mikroalgen-Gattung mit einer bis dato unbekannten und ziemlich einzigartigen Sonnenschutzstrategie. Wie sie herausfanden, bilden die Algen farbige Gallerthüllen, die effizient Licht und UV-Strahlung blocken und so ein Leben an Land ermöglichen. Busch und Hess, die der „Sonnenschirmalge“ auch einen wissenschaftlichen Namen verliehen haben, sind Mitglieder der Sektion Phykologie der Deutschen Botanischen Gesellschaft. Diese kürte die Gattung Serritaenia aufgrund ihrer bemerkenswerten Fähigkeiten zur Alge des Jahres 2023.

Schon im 19. Jahrhundert wurden die Algen, die in Wäldern vorkommen, von dem Botanik-Professor Anton de Bary (1831-1888) erkundet. Er beschrieb in großartigem Detail die recht unscheinbaren, mikroskopischen Algen, die er auf Moosen fand, und dokumentierte ein „intensives, … tintenfarbiges Colorit“ in der Gallerte einer Algenart. Dieses Phänomen war mehr als 150 Jahre in Vergessenheit geraten, bis die Kölner Forscher*innen die besagte Alge mit ihrer farbigen Gallerte wiederentdeckt haben. Die Alge gedeiht in den feuchten Wäldern des Bergischen Landes, der Eifel und im Schwarzwald, wurde allerdings auch in den nordamerikanischen Appalachen und in den chilenischen Araukarienwäldern gefunden. Sie ist vermutlich global verbreitet. Wie die Kölner Biolog*innen feststellten, handelt es sich bei der waldbewohnenden Alge um eine neue Gattung namens Serritaenia, die ihren außergewöhnlichen Farbstoff nicht ohne Grund produziert.

Überlebenskünstlerin schützt sich mit eigenem Sonnenschirm

Die meisten Algen brauchen eine durchgehend feuchte Umgebung, um zu überleben. Serritaenia ist hingegen an die Herausforderungen des Landlebens hervorragend angepasst. Mithilfe ihrer wasserspeichernden Gallert-Kapseln können die Zellen kurze Phasen der Trockenheit gut überwinden. Trocknen sie doch einmal aus, sind die Algen durch Befeuchtung wiederbelebbar. In diese Gallerthüllen scheidet Serritaenia ihren eigenen Sonnenschutz aus: In Laborexperimenten erkannten Busch und Hess, dass sich die Bildung der auffällig bläulichen Gallerte durch UV-Strahlung auslösen ließ [3]. Wie sie ebenfalls herausfanden, absorbiert die pigmentierte Gallerte effektiv Licht und UV-Strahlung und schirmt so die Zelle ab. Dies schützt die Algenzellen vor intensiver UV-Strahlung, die das Erbgut schädigt. In der Natur variiert die Färbung der Serritaenia-Gallerten von bläulich bis rötlich und hängt von dem Säuregrad (pH-Wert) der Umgebung ab. Häufig ist sie außerdem nur an einer Seite der Alge erkennbar: Es sieht so aus, als ob die Alge ihren chemischen Sonnenschirm präzise zur Sonne ausrichtet. Serritaenias Sonnenschirm-Strategie ist von den Biolog*innen erstmals beschrieben worden und einzigartig im Reich der mehr als 4.500 bekannten Jochalgen-Arten. Ähnliche Mechanismen kommen nur bei den ebenfalls Photosynthese-treibenden Cyanobakterien vor, die jedoch zu einer ganz anderen Organismengruppe gehören. Die Zusammensetzung von Serritaenias charakteristischem Farbstoff ist derzeit noch unbekannt und soll in Folgestudien chemisch analysiert werden.

Heute verstehen, wie die ersten Pflanzen das Land eroberten

Nach jüngsten, noch unveröffentlichten Erkenntnissen „kann Serritaenia vermutlich auch UV-Strahlung mit einem Pflanzen-typischen Rezeptor wahrnehmen“, verrät Dr. Sebastian Hess, Seniorautor der wissenschaftlichen Veröffentlichungen. „Diese Fähigkeit ist eine wichtige Voraussetzung, um sich effizient gegen den schädlichen Einfluss der Sonne zu schützen“. Schließlich variiert die Intensität der Sonnenstrahlung in unseren Breiten mit den Jahreszeiten ganz erheblich. Welche weiteren Überlebensstrategien landlebende Algen aufweisen, wird nicht nur in Köln intensiv erforscht. Denn in der Vorzeit war die Besiedlung des Landes durch die ersten Pflanzen eines der folgenreichsten Ereignisse auf unserer Erde. Auf den zuvor recht kahlen Landmassen entstanden so neue ökologische Nischen. Das begann vor etwa 500 Millionen Jahren und befeuerte auch die Entwicklung anderer Lebewesen wie der Tiere und damit auch von uns Menschen. Nach derzeitigem Forschungsstand waren die Vorfahren der Landpflanzen den heute lebenden Algen ähnlich. Für die Eroberung des Landes meisterten diese Organismen einige Herausforderungen: Die an das Leben im Wasser angepassten Pflanzen-Vorfahren mussten Trockenzeiten und einer deutlich höheren Sonneneinstrahlung trotzen und haben dafür neue Anpassungen entwickelt. Als Jochalge gehört Serritaenia zu den heute lebenden nächsten Verwandten der Landpflanzen. Die Erforschung der Überlebensstrategien landlebender Jochalgen kann uns daher Einsichten liefern, wie sich die Anpassung an das Landleben in der Vorzeit vollzogen haben mag.

Klimawandel gefährdet das Lieblingshabitat der Sonnenschirm-Alge

In feuchten Fichtenwäldern mit saurem Boden kann Serritaenia in Massen auftreten und große Flächen besiedeln. Die Alge lebt dort auch in Moospolstern, die ihr ein schwammartiges, feuchtes Habitat bieten. Dies kann jedoch auch zum Schaden der Moose sein, die teils vollständig von der Alge überwuchert werden und somit durch Licht- oder Luftmangel absterben. Aufgrund der ungewöhnlich trockenen Sommer in den letzten Jahren unterliegt das Lieblingshabitat von Serritaenia großen Umwälzungen: In den Wäldern von Deutschland führte die Trockenheit zu massivem Fichtensterben. Der anschließende Kahlschlag führt nun zu einem trockeneren Mikroklima, in dem sich andere Moose ausbreiten. Die Kölner Forscher*innen vermuten, dass die freigewordenen Flächen zukünftig von anderen Mikroalgen besiedelt werden, die trockenere Standorte bevorzugen. Die ersten rückläufigen Vorkommen von Serritaenia haben sie bereits im Oberbergischen Land bei Köln beobachtet.

Gemeinsame Pressemitteilung der Universität zu Köln und der Sektion Phykologie.