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Feine Unterschiede bei der Wahrnehmung von Berührung

Querschnitt durch die Haut mit einer Reihe von Meissner-Rezeptoren, ein einzelner ist in einem Kasten hervorgehoben.
Querschnitt durch die Haut mit einer Reihe von Meissner-Rezeptoren, ein einzelner ist in einem Kasten hervorgehoben. AG Lewin, MDC

Die Haut verfügt über Tastkörper – das ist seit mehr als 160 Jahren bekannt. Diese Druckrezeptoren können winzige Vibrationen wahrnehmen und dabei helfen, zwischen rauen und glatten Oberflächen zu unterscheiden, darüber berichtet ein MDC-Team nun erstmals in Nature Neuroscience.

In der Haut von Fingerspitzen und Lippen entdeckte Georg Meissner im Jahr 1852 eine einzigartige Struktur: Das Meissner-Körperchen ist eine ovale Kapsel voller Zellen, die mit einem Nervenende verschlungen sind, das ein Berührungssignal ans Gehirn sendet. Nun hat ein Forschungsteam am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) herausgefunden, dass in diesem Druckrezeptor ein großes Protein produziert wird, das bei der Tastempfindlichkeit eine wichtige Rolle spielt.

„Eineinhalb Jahrhunderte lang haben Forschende sich beim Anblick des Meissner-Körperchens gedacht: Das ist eine schöne Struktur. Aber wir können nicht genau sagen, wozu sie dient“, sagt Professor Gary Lewin, Leiter der Arbeitsgruppe „Molekulare Physiologie der somatosensorischen Wahrnehmung“ am MDC. In einer Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience zeigt sein Team nun, dass jenes Protein aus dem Meissner-Körperchen notwendig ist, um Berührungen normal wahrzunehmen.

Die Usher-Verbindung

Lewins Arbeitsgruppe hatte das Protein USH2A im Verdacht, an der Berührungswahrnehmung beteiligt zu sein. Das legten frühere Forschungen zum Zusammenspiel von Hör- und Tastsinnesorganen nahe. Mutationen im Gen, das für das USH2A-Protein kodiert, treten häufig beim Usher-Syndrom auf. Menschen mit dieser Erbkrankheit sind schwerhörig, haben einen Tunnelblick oder sind weniger empfindlich für Berührungen.

Die Forschenden untersuchten nun 13 spanische Patient*innen mit Usher-Syndrom und spezifischen Mutationen, die zu einem veränderten USH2A-Protein führten. Das Team wollte herausfinden, welche kleinste Vibration die Patient*innen am kleinen Finger gerade noch spüren konnten. Sie testeten auch die Wahrnehmung von Temperaturveränderungen und kleinen Nadelstichen.

Temperaturschwankungen und leichte Schmerzen konnten die Patient*innen mit Usher-Syndrom genauso gut wahrnehmen wie gesunde Kontrollpersonen – das waren meist Freiwillige am MDC. Für sehr geringe Vibrationen waren die Patient*innen jedoch deutlich weniger empfindlich. Um sie zu spüren, mussten Vibrationen im Schnitt viermal stärker sein.

„Wir sind hochgradig berührungsempfindlich“, sagt Lewin. „Wer einen sehr guten Tastsinn hat, kann mit dem Finger den Unterschied zwischen einer sehr feinen und einer noch feineren Seide erkennen. Die Usher-Patienten wären hierzu nicht in der Lage.“

Überraschende Ergebnisse

Die Untersuchungen am Menschen haben zwar gezeigt, dass das USH2A-Protein für den Tastsinn wichtig ist, sie erklärten aber nicht, wie und warum. Also griff das Team Mäuse zurück. Zunächst wandte sich Dr. Fred Schwaller, Erstautor der Studie, an die Arbeitsgruppe „Neuronale Schaltkreise und Verhalten“ von Professor James Poulet. Gemeinsam trainierten sie gesunde Mäuse und Mäuse ohne USH2A-Protein, so dass sie ihnen zeigten, wenn sie geringe Vibrationen an ihrer Vorderpfote spürten. Genau wie die Usher-Patient*innen brauchten Mäuse ohne USH2A-Protein einen größeren Stimulus, bevor sie die Vibrationen spürten. Sie konnten aber Temperaturveränderungen und leichte Schmerzen ganz normal erkennen. Dies deutet darauf hin, dass der Mechanismus evolutionär stark konserviert wurde.

„Diese Übereinstimmung zwischen den Patient*innen und dem Tiermodell ist erstaunlich. Wir hatten ein so deutliches Ergebnis nicht erwartet“, sagt Dr. Valérie Bégay, die als Mitglied von Professor Lewins Arbeitsgruppe ebenfalls an der Studie beteiligt war.

Mit Hilfe fluoreszierender Biomarker konnte Schwaller erkennen, dass das Protein von den Zellen in den Meissner-Körperchen produziert wird und nicht, wie angenommen, in Nervenzellen. „Zu unserer Überraschung konnten wir das USH2A-Protein in sensorischen Neuronen nicht nachweisen – es war nicht da“, sagt Lewin. Damit war klar bewiesen, dass das Meissner-Körperchen als Produzent des USH2A-Proteins ausschlaggebend für Wahrnehmung feiner Berührungen ist.

Es gibt noch mehr zu entdecken

Das USH2A-Protein ist im Vergleich zu anderen Molekülen im Körper recht groß und sitzt in der extrazellulären Matrix des Meissner-Körperchens. Da die Berührungsempfindlichkeit ohne das Protein abnimmt, geht Lewin davon aus, dass es als physikalische Verbindung dient und dabei hilft, Berührungsvibrationen von der Außenseite der Fingerspitze auf das Nervenende im Inneren des Korpuskels zu übertragen. Dieser Theorie geht Lewins Arbeitsgruppe nun nach, und sie will auch die Interaktionspartner des Proteins ausmachen. „Es funktioniert wahrscheinlich nicht allein“, vermutet der Wissenschaftler.

Die Erkenntnisse könnten bei der Erforschung von ähnlichen Hör- und Sehverlusten bei Usher-Patient*innen hilfreich sein. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass das Protein bei anderen molekularen Prozessen auf die gleiche Weise funktioniert, könnten die Untersuchungen Hinweise darauf geben, wie Mutationen im USH2A-Gen die Sinne beeinflussen.

Besonders dankbar waren die Teams den Kolleg*innen am MDC, die sich freiwillig für die Studie gemeldet und damit Kontrolldaten zur Verfügung gestellt haben. Mehr als 100 Personen waren es in den vergangenen Jahren. „Man braucht gute Kontrollen, um die Belastbarkeit der Daten zu erhöhen. Es kann allerdings sehr schwierig sein, genügend Freiwillige zu finden, die bereit sind, sich für eine oder anderthalb Stunden stark zu konzentrieren“, sagt Bégay. „Die Unterstützung unserer MDC-Kolleg*innen war von unschätzbarem Wert.“

MDC


Originalpublikation:

Begay, Valerie et al. (2020): „USH2A is a Meissner corpuscle protein necessary for normal vibration sensing in mice and humans”, Nature Neuroscience, DOI: 10.1038/s41593-020-00751-y

https://doi.org/10.1038/s41593-020-00751-y