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Evolution der Reziprozität mit begrenztem Erinnerungsvermögen

Eine einfache Veranschaulichung des Modells. MPI für Evolutionsbiologie

Direkte Reziprozität ist ein Mechanismus der erklärt wieso Menschen kooperativer werden wenn sie mehrmals aufeinandertreffen. Traditionelle Modelle gehen davon aus, dass Menschen dann lernen, bedingt kooperative Strategien anzuwenden. Individuen kooperieren dann zum Beispiel genau dann wenn es ihr Gegenüber vorher auch gemacht hat.

Die meisten bestehenden Modelle gehen jedoch von ziemlich starken Annahmen darüber aus, wie Individuen entscheiden, ihre Strategien beizubehalten oder zu ändern. Sie gehen davon aus, dass Individuen diese Entscheidungen auf der Grundlage der durchschnittlichen Performance einer Strategie treffen. Dies wiederum würde bedeuten, dass sich die Individuen an ihre exakten Gewinnchancen gegenüber allen anderen erinnern. In einer aktuellen Veröffentlichung untersuchen Forscher des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie, und der Universität von North Carolina in Chapel Hill die Auswirkungen realistischer Gedächtnisbeschränkungen. Sie stellen fest, dass sich Kooperation auch bei minimalem Erinnerungsvermögen entwickeln kann.

Direkte Reziprozität beruht auf wiederholten Interaktionen zwischen zwei Individuen. Dieses Konzept wird oft als "Hilfst du mir, so helfe ich Dir" beschrieben. Es hat sich als zentraler Mechanismus für die Aufrechterhaltung der Kooperation in Gruppen oder Gesellschaften erwiesen. Modelle der direkten Reziprozität haben zwar unser Verständnis von Kooperation erweitert, gehen aber häufig von starken Annahmen über die Entscheidungsprozesse der Individuen aus. Wenn beispielsweise Strategien durch soziales Lernen verfeinert werden, wird angenommen, dass die Individuen ihre durchschnittlichen Gewinne vergleichen. Dies würde voraussetzen, dass sie ihre Gewinne im Vergleich zu allen anderen in der Bevölkerung berechnen (oder sich daran erinnern). Um zu verstehen, wie realistischere Annahmen die direkte Reziprozität beeinflussen, wird in der aktuellen Studie untersucht wie sich Kooperation entwickelt, wenn Individuen nur auf der Grundlage ihrer letzten Erfahrungen lernen.

Zwei extreme Szenarien

Die Studie vergleicht zunächst den klassischen mit einem anderen extremen Modellierungsansatz. Beim klassischen Ansatz aktualisieren die Individuen ihre Strategien auf der Grundlage ihrer erwarteten Gewinne. Sie berücksichtigen dabei jede einzelne Interaktion mit jedem Mitglied der Population (perfektes Gedächtnis). Das entgegengesetzte Extrem ist die Berücksichtigung nur der allerletzten Interaktion (begrenztes Gedächtnis). Der Vergleich dieser beiden Szenarien zeigt, dass Personen mit begrenztem Gedächtnis dazu neigen, weniger großzügige Strategien zu verfolgen. Sie sind weniger nachsichtig wenn sich das Gegenüber eigensinnig verhält. Dennoch kann sich auch hier ein moderates Maß an Kooperation entwickeln.

Dazwischen liegende Fälle

Die Studie berücksichtigt auch Zwischenfälle, bei denen die Individuen ihre letzten zwei, drei oder vier Erfahrungen berücksichtigen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Kooperationsraten schnell den Werten nähern, die bei perfektem Erinnerungsvermögen beobachtet werden.

Insgesamt trägt diese Studie zu einer breiteren Literatur bei, die untersucht, welche Arten von kognitiven Fähigkeiten erforderlich sind, damit gegenseitige Kooperation möglich ist. Während ein besseres Erinnerungsvermögen immer von Vorteil ist, kann Kooperation auch aufrechterhalten werden, wenn Individuen sich nur an die letzten zwei oder drei vergangenen Ereignisse erinnern.

Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden vollständig aus einem theoretischen Modell abgeleitet. Solche Studien sind wichtig um modellgestützte Rückschlüsse auf Kooperation in natürlichen Systemen zu ziehen.

Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie


Originalpublikation:

Glynatsi NE, McAvoy A, Hilbe C. 2024 Evolution of reciprocity with limited payoff memory. Proc. R. Soc. B 20232493. https://doi.org/10.1098/rspb.2023.2493