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Individuelles Verhalten kann ein steigendes Infektionsrisiko in einer endemischen Situation ausgleichen

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Um die Übertragungen während der COVID-19-Pandemie zu reduzieren und die Infektionsraten zu senken, wurden in vielen Regionen der Welt sogenannte nicht-medikamentöse Maßnahmen (NPI, aus dem englischen für Non-Pharmaceutical Intervention) wie beispielsweise das Tragen von Masken und soziale Distanzierung vorgeschrieben.

Diese Maßnahmen wurden inzwischen gelockert, und deren Einhaltung weitgehend jedem individuell überlassen. Doch wie kann sich eine solche Entscheidungsfreiheit auf eine Pandemie auswirken? Dieser Frage gehen Forschende der Universität von Kalifornien, Berkeley, USA und dem Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön in einer kürzlich veröffentlichten Studie nach. Diese zeigt, welche Zusammenhänge es zwischen einer langfristigen Einhaltung dieser Vorschriften und der Höhe der Infektionsrate gibt.

Die Autoren entwickelten ein epidemiologisch und verhaltensbiologisch gekoppeltes Modell, das sowohl die epidemiologische Entwicklung als auch die individuelle Entscheidungsfindung für das Einhalten einer NPI berücksichtigt. Mit diesem Modell untersuchten die Autoren die mögliche langfristige Dynamik. Dabei stellten sie fest, dass es drei mögliche stabile Szenarien gibt: entweder es hält sich niemand an die Maßnahmen, alle halten sich daran oder es gibt ein mittleres Niveau, bei dem die NPI nur teilweise eingehalten werden. Die wichtigsten Kriterien die für die Einhaltung der Maßnahmen eine Rolle spielen, sind, neben der Wirksamkeit der NPI, auch die Kosten die jeder für die Einhaltung dieser Vorschriften zu tragen hat und ebenso das derzeitige Infektionsrisiko.

"Wenn die teilweise Einhaltung der NPI das langfristige Ergebnis ist, wie in der jetzigen Situation, stellen wir überraschenderweise fest, dass die Anzahl der Infektionen aufgrund der Verhaltenskompensation gar nicht von der Übertragungsrate abhängt", sagte Erstautor Chadi M. Saad-Roy, Miller Research Fellow am Miller Institute für Basic Research in Science der University von Kalifornien, Berkeley und fügt hinzu: "Dieses Ergebnis hat eine Reihe wichtiger Auswirkungen“.

Einflussfaktoren auf die Übertragungsrate und die Rolle der Impfung

"Viele Faktoren können die Übertragungsrate beeinflussen, von der Erhöhung der Raten durch die Evolution des Virus bis hin zur Verringerung der Raten durch vorgeschriebene zusätzliche NPIs", sagte Mitautor Arne Traulsen, Direktor der Abteilung für Theoretische Biologie des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie. "Unsere Arbeit deutet darauf hin, dass eine solche Veränderung der Übertragungsrate nicht per se mit einer veränderten Infektionsrate einhergeht".

NPIs werden oft in Verbindung mit pharmazeutischen Interventionen, wie beispielsweise Impfungen, eingesetzt. Die Autoren haben daher auch die Impfung in ihr Modell einbezogen. "Selbst in der Situation der teilweisen Einhaltung, in der die Infektionsrate nicht von der Übertragungsrate abhängt, zeigen wir, dass die Impfung die Infektionsrate senkt", fügt Saad-Roy hinzu.

"Generell finden wir auch Situationen, in denen ein potenzielles Spannungsverhältnis zwischen individueller und gesellschaftlicher Perspektive besteht, und schlagen Strategien vor, um dieses Spannungsverhältnis zu verringern. Insgesamt zeigt diese Arbeit, wie wichtig es ist, die möglichen Auswirkungen individueller Entscheidungen auf die Epidemiedynamik zu berücksichtigen", fügt Traulsen hinzu.

Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie


Originalpublikation:

Chadi M. Saad-Roy und Arne Traulsen: "Dynamics in a behavioral-epidemiological model for individual adherence to a nonpharmaceutical intervention", PNAS 2023, https://doi.org/10.1073/pnas.2311584120