Aufgefallen ist Stylodinium den seit Jahren zusammenarbeitenden Forschern, weil die Alge sich anders verhält als ihre Verwandten aus der Gruppe der Panzergeißler (Dinophyta). Die meisten Vertreter dieser Gruppe haben zwei Geißeln, mit denen sie sich im Wasser vorwärts bewegen. Eine der beiden Geißeln verleiht Schub, und die andere hilft bei der Steuerung – sie funktionieren also wie Gaspedal und Lenkrad. Bislang jedoch ging den Forschenden keine Stielalge ins Planktonnetz, die Geißeln hat und sich damit fortbewegt. „Wenn überhaupt finden wir Stylodinium-Exemplare, die sich an andere Organismen angedockt haben“, erklärt Prof. Marc Gottschling, der gemeinsam mit Dr. Juliane Kretschmann an der LMU Algen und andere Pflanzen untersucht. Dazu sondert der bewegliche Einzeller zunächst eine klebrige, erstarrende Masse an seinem Kopfende ab und heftet sich damit an einen Trägerorganismus. Anschließend bewegt er sich vom Untergrund weg, und ein starrer Stiel entsteht. So verankert sich Stylodinium auf seinem Träger, und so wird eine bewegliche zu einer unbeweglichen Alge.
Wie Pflanzen im Regenwald
Warum Stylodinium von der beweglichen zur sesshaften Form und wieder zurück wechselt, wissen die Forschenden noch nicht. „Wir würden gerne herausfinden, welchen Vorteil diese Lebensweise hat, die mit den Aufsitzerpflanzen auf den Bäumen des Regenwaldes vergleichbar ist“, sagt Ökologe Dr. Urban Tillmann vom AWI. „Es könnte sein, dass sich Stylodinium zumindest zeitweise parasitisch von der Alge ernährt, auf der es siedelt“, ergänzt Gottschling. Um ein Dauerstadium scheine es sich nicht zu handeln, womit andere Panzergeißler ungünstige Umweltbedingungen überbrücken. Stylodinium bildet diese sesshafte Form nämlich auch im Sommer aus, also wenn das Wasser nicht gefriert und in einer Zeit des Lichtüberflusses, den Algen für die Energiegewinnung durch Photosynthese nutzen.
Bayerische und norddeutsche Moore
Um dies herauszufinden, möchten Gottschling und Tillmann im kommenden Jahr die bislang wenig bekannten Moore und Gewässer in Deutschland aufsuchen, in denen Stylodinium bereits beobachtet wurde. Sie hoffen, Stylodinium bavariense in den ehemaligen Torfstichen von Seeon in Bayern und Stylodinium lindemannii im Kieshofer Moor in Mecklenburg-Vorpommern wieder aufzuspüren. Aus den Wasserproben möchten sie die Stielalgen sodann isolieren und wenn möglich im Labor zum Wachsen bringen, um sie näher untersuchen zu können.
Das norddeutsche Tiefland, daran erinnern die Forscher aus München und Bremerhaven, war eine der moorreichsten Gegenden der Erde. Ihr Erhalt als effektiver Kohlendioxid-Speicher spielt eine entscheidende Rolle beim Klimaschutz, da Moore weltweit doppelt so viel von diesem Treibhausgasspeichern wie alle Wälder zusammen. Die Entwässerung von Mooren in den vergangenen Jahrhunderten für Torfabbau und Landwirtschaft vernichtete diese Lebensräume, die ursprünglich eine einzigartige Vielfalt an Lebewesen beheimateten. So kann die Aufsitzeralge Stylodinium durchaus „als Ikone des Mikrokosmos für das Artensterben durch Lebensraumzerstörung gelten“, sagt LMU-Forscher Gottschling.
Mehr als 100 Jahre bekannt, aber kaum erforscht
Der Botaniker Georg Albrecht Klebs beschrieb Stylodinium erstmals im Jahr 1912. Seitdem seien jedoch nur wenige wissenschaftliche Artikel über Stylodinium erschienen, sagt Gottschling. Die 13 derzeit wissenschaftlich anerkannten Arten von Stylodinium unterscheiden sich anhand äußerer Merkmale wie Zellgröße und Stiellänge im Lichtmikroskop. „Viele andere der rund 2.500 Panzergeißler zeichnen sich dadurch aus, dass die Zellwand ein arten- und gruppenspezifisches Muster von Zelluloseplatten zeigt“, erklärt Tillmann, der am AWI gemeinsam mit Dr. Malte Elbrächter Mikroalgen klassifiziert. „Doch ob wir auch Stylodinium anhand ihrer Panzerschalen eindeutig erkennen können, müssen wir erst noch herausfinden“. Es gäbe bisher noch keine Aufnahmen der Alge nach Fluoreszenz-Anfärbung oder aus dem Elektronen-Mikroskop, bedauert der Bremerhavener.
Genetischer Fingerabdruck
Zur äußeren Beschreibung, Namensgebung und Zuordnung der nur wenige Mikrometer großen Algen will Gottschling die Arten auch genetisch analysieren, denn bislang kenne keiner Gen-Sequenzen von Stylodinium. Ein genetischer Fingerabdruck für das sogenannte DNA-Barcoding wird helfen, die Arten in Zukunft eindeutig und schnell zu bestimmen. Dafür müsse man allerdings die notwendige Referenzdatenbank überhaupt erst aufbauen, wie sie für Fische, Insekten oder mitteleuropäische Blütenpflanzen bereits bestünde, plant Gottschling. Die Referenzdatenbank ist auch Grundlage für andere Biologie-Fächer, wie etwa für die Evolutionsforschung und alle anwendungsbezogenen Disziplinen.
Noch kein Rote-Liste-Statuts
Eine eindeutige Zuordnung der Stylodinium-Arten ist Voraussetzung, um sowohl ihre Rolle im Ökosystem zu beurteilen als auch um sie zu erhalten. Nur was man kennt, kann man auch schützen. Noch stehen sie nicht auf der Roten Liste bedrohter Arten, da Mikroalgen bislang kaum berücksichtigt werden. „Nach meinem Dafürhalten wird Stylodinium wohl irgendwann auf die Rote Liste gesetzt werden müssen“, vermutet Gottschling, „weil Moore wie kein anderer aquatischer Lebensraum bedroht sind“. Welche Organismen auf die Rote Liste kommen, wird in Zusammenarbeit mehrerer Algenforscherinnen und -forscher anhand der Häufigkeit und Aktualität der Aufsammlungen entschieden. Eine Lücke, die zu schließen Gottschling und Tillmann beitragen möchten.
Auswirkungen des Klimawandels
Eine bessere Bestimmbarkeit von Mikroalgen wird auch bei der Beurteilung der Wasserqualität und von Gewässergüteklassen helfen. Da Stylodinium eine nur sehr enge ökologische Nische bildet, könnte sie für die Europäische Wasserrahmenrichtlinie als Anzeiger für naturbelassene und saure Moorgewässer stehen. Da die Alge, wie viele andere Panzergeißler, am Fuß der Nahrungspyramide steht, ist ihr zeitliches und räumliches Auftreten auch darüber hinaus wichtig zu ermitteln (Monitoring). „Seltene und wenig bekannte Algen wie Stylodinium werden in Zukunft jedoch nicht nur in der Gewässerkunde sondern auch in der Biodiversitäts- sowie der Klimawandelfolge-Forschung eine wichtige Rolle spielen,“ sagt Gottschling. „Mikroorganismen eignen sich dafür besonders gut, da sie empfindlicher, schneller und unmittelbarer auf Änderungen reagieren als vielzellige und komplexer gebaute Organismen wie Tiere oder Pflanzen“.
(Sektion Phykologie in der DBG)