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Sport oder Snack? So entscheidet unser Gehirn

Frauch macht Fitnessübung auf Fußgängerweg
Bild von Irina L auf Pixabay

Der Hirnbotenstoff Orexin ist essenziell für unsere Wahl zwischen Bewegung und den leckeren Versuchungen, denen wir ständig ausgesetzt sind. Diese Forschungsergebnisse könnten auch Menschen helfen, die sich nur schwer zum Sport motivieren können.

Treibe ich jetzt gleich Sport oder gehe ich lieber ins Café und geniesse dort meinen Lieblings-Milchshake mit Erdbeeren? Was genau bei dieser Entscheidung in unserem Gehirn abläuft, war der Wissenschaft bis jetzt ein Rätsel. Forschende der ETH Zürich haben es nun gelöst. Sie entschlüsselten, welcher Hirnbotenstoff und welche Nervenzellen diese Entscheidung vermitteln: der Botenstoff Orexin und die sogenannten Orexin-Neuronen.

Relevant sind diese neurowissenschaftlichen Grundlagen, weil sich viele Menschen zu wenig bewegen. Die meisten von uns haben sich wohl schon einmal auf Kosten des Trainings für eine der zahlreichen Verlockungen des Alltags entschieden. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO bewegen sich 80 Prozent der Jugendlichen und 27 Prozent der Erwachsenen zu wenig. Und nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen nehmen Übergewicht und Fettleibigkeit in alarmierendem Masse zu.

Orexin im Fokus

«Trotzdem gelingt es vielen Menschen, den allgegenwärtigen Versuchungen zu widerstehen und sich ausreichend zu bewegen», sagt Denis Burdakov, Professor für Neurowissenschaften an der ETH Zürich. «Wir fragten uns: Was in unserem Gehirn sorgt dafür, dass uns das gelingt?»

In ihren Experimenten mit Mäusen konnten die Forschenden zeigen, dass Orexin dabei eine zentrale Rolle spielt. Es ist einer von über hundert Botenstoffen, die im Gehirn aktiv sind. Während andere Botenstoffe wie Serotonin und Dopamin schon vor langer Zeit entdeckt wurden und ihre Rolle weitgehend entschlüsselt ist, ist das bei Orexin anders: Forschende entdeckten Orexin erst verhältnismässig spät, vor rund 25 Jahren. Seine Funktionen klären sie nun nach und nach auf. Burdakov ist einer der Wissenschaftler, die sich dem Orexin verschrieben haben.

Bisheriges Wissen kann die Wahl nicht erklären

«In der Neurowissenschaft ist Dopamin eine beliebte Erklärung dafür, warum wir uns für bestimmte Dinge entscheiden und andere vermeiden», sagt Burdakov. Dieser Hirnbotenstoff ist für unsere allgemeine Motivation entscheidend. «Unser derzeitiges Wissen über Dopamin erklärt aber nicht ohne Weiteres, warum wir uns eher für Sport als für Essen entscheiden», so der Wissenschaftler weiter. «Unser Gehirn schüttet sowohl beim Essen als auch beim Sport Dopamin aus, was nicht erklärt, warum wir das eine dem anderen vorziehen.»

Die Forschenden entwickelten deshalb ein ausgeklügeltes Verhaltensexperiment für Mäuse, die in jeweils zehnminütigen Versuchen frei zwischen acht verschiedenen Optionen wählen konnten. Dazu gehörten ein Laufrad, auf dem sie sich bewegen konnten, und eine «Milchshake-Bar», an der ihnen ein handelsüblicher Milchshake mit Erdbeeraroma zur Verfügung stand. «Mäuse mögen Milchshake aus dem gleichen Grund wie wir Menschen: Er enthält viel Zucker und Fett und schmeckt gut», so Burdakov.

Weniger lang an der Milchshake-Bar

Bei diesem Experiment verglichen die Wissenschaftler:innen verschiedene Gruppen von Mäusen: zum einen ganz normale Mäuse, zum anderen Mäuse, bei denen das Orexin-System blockiert war, entweder mit einem Medikament oder weil ihre Zellen genetisch verändert waren.

Die Mäuse mit intaktem Orexin-System verbrachten doppelt so viel Zeit auf dem Laufrad und halb so viel Zeit an der «Milchshake-Bar» wie die Mäuse mit blockiertem Orexin-System. Interessanterweise unterschied sich das Verhalten der beiden Gruppen aber nicht in Experimenten, in denen die Wissenschaftler den Mäusen nur entweder das Laufrad oder den Milchshake anboten. «Das heisst, die Hauptaufgabe des Orexin-System besteht nicht darin zu kontrollieren, wie viel sich die Mäuse bewegen oder wie viel sie fressen», erklärt Burdakov. «Vielmehr scheint Orexin zentral zu sein bei der Entscheidung zwischen dem einen und dem anderen.» Ohne Orexin fiel die Wahl eindeutig auf den Milchshake, und die Mäuse gaben die Bewegung auf, um zu fressen.

Menschen helfen, die sich wenig bewegen

Die ETH-Forschenden erwarten, dass Orexin auch beim Menschen für diese Entscheidung verantwortlich sein könnte. Denn es ist bekannt, dass die Hirnfunktionen, um die es hier geht, bei Maus und Mensch praktisch gleich ablaufen. «Es wird nun darum gehen, unsere Ergebnisse auch bei Menschen zu überprüfen», sagt Daria Peleg-Raibstein, Gruppenleiterin an der ETH Zürich. Sie hat die Studie gemeinsam mit Burdakov geleitet.

Dazu könnte man Patientinnen und Patienten untersuchen, die aus genetischen Gründen ein eingeschränktes Orexin-System haben. Das ist bei etwa einem von zweitausend Menschen der Fall. Diese Personen leiden an Narkolepsie (Schlafkrankheit). Eine weitere Möglichkeit wäre es, Menschen zu beobachten, die ein Medikament erhalten, das Orexin blockiert. Solche Medikamente sind für Patienten mit Schlafstörungen zugelassen.

«Wenn wir verstehen, wie das Gehirn zwischen Nahrungsaufnahme und körperlicher Aktivität vermittelt, können wir wirksamere Strategien entwickeln, um die weltweite Adipositas-Epidemie und damit verbundene Stoffwechselstörungen zu bekämpfen», sagt Peleg-Raibstein. Insbesondere könnten Ansätze entwickelt werden, die helfen, bei gesunden Personen und solchen, deren körperliche Aktivität eingeschränkt ist, Bewegungsbarrieren zu überwinden. Burdakov weist darauf hin, dass dies wichtige Fragen für Wissenschaftler:innen sind, die sich mit klinischer Forschung am Menschen beschäftigen. Er und seine Gruppe haben sich der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung verschrieben. Als nächstes möchte er herausfinden, wie die Orexin-Neuronen bei Entscheidungen wie jener zwischen Sport und Snack mit dem Rest des Gehirns wechselwirken.

Eidgenössische Technische Hochschule Zürich


Originalpublikation:
Tesmer, A.L., Li, X., Bracey, E. et al. Orexin neurons mediate temptation-resistant voluntary exercise. Nat Neurosci (2024). doi.org/10.1038/s41593-024-01696-2