In Kooperation mit Wissenschaftler*innen aus Großbritannien und Polen konnte die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Roderich Süssmuth vom Fachgebiet Organische und Biologische Chemie der TU Berlin mit Hilfe von Elektronenmikroskopie bei tiefen Temperaturen Schnappschüsse davon aufnehmen, wie Albicidin ein lebenswichtiges Enzym von Bakterien hemmt. Durch die genaue Kenntnis dieses Wirkungsmechanismus waren sie dann in der Lage, mit Computersimulationen und chemischer Synthese im Labor Varianten des ursprünglichen Albicidin-Moleküls zu kreieren, die gegen einige der gefährlichsten bakteriellen Infektionen im Krankenhaus wirksam sind. Die Ergebnisse wurden jetzt in der Fachzeitschrift Nature Catalysis publiziert.
Multiresistente Krankheitserreger wie Escherichia coli, Pseudomonas aeruginosa und Salmonella typhimurium stellen eine gefährliche Belastung für das Gesundheitswesen dar, die durch die COVID-19-Pandemie noch verschärft wird. Infektionen mit resistenten Krankheitserregern sind eine der häufigsten Todesursachen auf Intensivstationen, wobei einige Stämme panresistent werden, also alle gängigen Antibiotika nicht mehr wirken. Über 35.000 Menschen jährlich sterben nach Schätzungen der EU-Gesundheitsbehörde ECDC in Europa aufgrund von Antibiotikaresistenzen [1]. Händeringend werde daher neue Antibiotika gesucht, die auf viele Bakterien wirken und bei denen sich nicht so schnell Resistenzen entwickeln können.
Pflanzengift Albicidin gibt neue Hoffnung
Ein neuer Hoffnungsträger ist das natürliche Pflanzengift Albicidin. Bereits im Jahr 2015 konnte die Arbeitsgruppe um Roderich Süssmuth zusammen mit französischen Wissenschaftler*innen seine chemische Struktur aufklären. Albicidin wird von dem Bakterium Xanthomonas albilineans produziert, das die verheerende Blattbrandkrankheit des Zuckerrohrs verursacht. Der Erreger verwendet dabei Albicidin, um die Pflanze anzugreifen, diese als Wirtsorganismus zu nutzen und sich weiter auszubreiten.
In den letzten Jahren haben Forscher*innen verstanden, wie diese bakterielle Strategie funktioniert: Sie zielt auf ein Enzym namens DNA-Gyrase (oder einfach „Gyrase“) ab. Dieses Enzym dockt an die DNA an und windet diese auf. Das wird immer dann wichtig, wenn die Zelle sich teilen will und dafür die DNA vollständig kopiert werden muss. Gyrase hat jedoch eine Achillesferse: Um ihre Aufgabe zu erfüllen, muss sie die DNA-Doppelhelix kurzzeitig komplett durchschneiden. Dies ist ein gefährlicher Moment für die Zelle, denn es besteht die Gefahr, dass die DNA-Enden nicht wieder korrekt zusammenfinden. Normalerweise fügt Gyrase die beiden DNA-Stücke schnell wieder zusammen, aber Albicidin verhindert dies, was zu einer geschädigten DNA und zum Tod der Zelle führt.
Tödlich auch für Bakterien
Auf diese Weise kann Albicidin nicht nur dem Zuckerrohr-Schädling bei seiner Vernichtungsarbeit helfen. Denn das von ihm attackierte Enzym Gyrase kommt nicht ausschließlich in Pflanzenzellen vor, sondern auch in Bakterien. Beim Menschen wiederum gibt es zwar verwandte Enzyme, die Unterschiede zur Gyrase sind aber hinreichend groß, sodass Albicidin uns mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts anhaben kann. Wichtig ist auch, dass sich die Art und Weise, wie Albicidin mit der Gyrase interagiert, ausreichend von bestehenden Antibiotika unterscheidet, sodass Albicidin nach einer chemischen Optimierung wahrscheinlich gegen die meisten der derzeitigen antibiotikaresistenten Bakterien, den sogenannten „Superbugs“, wirksam ist. Das macht den Stoff zu einem der wichtigsten Kandidaten für das herbeigesehnte neue Breitband-Antibiotikum.
Aufklärung des Wirkungsmechanismus mit Kryo-Elektronenmikroskopie
„Trotz seines bekannten antibiotischen Potenzials und seiner geringen Toxizität in vorklinischen Experimenten ist es notwendig, die Struktur und Zusammensetzung des doch recht großen Albicidin-Moleküls für seine Verwendung als Arzneimittel zu optimieren“, erklärt Roderich Süssmuth. „In der Chemie sprechen wir hierbei von einem ‚rationalen Design‘ des Moleküls. Das wurde aber bisher behindert durch die Tatsache, dass wir nicht genau wussten, wie Albicidin mit der Gyrase interagiert.“
Deshalb hat sich die Forschergruppe an der TU Berlin mit den Laborteams von Dr. Dmitry Ghilarov am John Innes Centre in Norwich (Großbritannien) und Prof. Jonathan Heddle an der Jagiellonen-Universität Krakau (Polen) zusammengetan. Mit ihrer Hilfe konnte Albicidin quasi bei seiner Arbeit beobachtet werden. Zum Einsatz kam dabei die sogenannte Kryo-Elektronenmikroskopie. Dabei werden bei tiefen Temperaturen von unter minus 150 Grad Celsius Elektronenstrahlen verwendet, um die Vorgänge auf molekularer Ebene ohne Verwacklung in tausenden von Schnappschüssen festzuhalten. Das Ergebnis: Albicidin bildet eine Art L-Form und kann so auf einzigartige Weise sowohl mit der Gyrase als auch mit der DNA interagieren. In diesem Zustand kann sich die Gyrase nicht mehr bewegen, um die DNA-Enden zusammenzubringen. Die Wirkung von Albicidin ähnelt hier einem Schraubenschlüssel, der zwischen zwei laufende Zahnräder geworfen wird und diese blockiert.
Bakterien werden nicht so schnell Resistenzen bilden
„Es scheint, dass Albicidin aufgrund der Art der Wechselwirkung auf einen wirklich wesentlichen Teil des Enzyms abzielt und es für Bakterien schwierig wäre, dagegen eine Resistenz zu entwickeln“, sagt Roderich Süssmuth. Kay Hommernick, der an der Arbeit beteiligte Doktorand, fügt hinzu: „Jetzt, da wir ein strukturelles Verständnis haben, können wir die Anzahl der Bindungsstellen zwischen Albicidin und der Gyrase erhöhen und weitere Modifikationen an dem Molekül vornehmen, um seine Wirksamkeit und die pharmakologischen Eigenschaften zu verbessern.“ Mit Hilfe von Visualisierungen am Computer hat das Team bereits Variationen des Antibiotikums mit verbesserten Eigenschaften chemisch synthetisiert. In Tests erwiesen sich diese Varianten als wirksam gegen einige der gefährlichsten bakteriellen Infektionen im Krankenhaus, darunter Escherichia coli, Klebsiella pneumoniae, Pseudomonas aeruginosa und Salmonella typhimurium. Dabei war Albicidin bereits in kleinen Konzentrationen hoch wirksam.
Suche nach Geldgebern für klinische Studien
Der nächste Schritt für diese Forschung sei die Zusammenarbeit mit weiteren akademischen und industriellen Partner*innen und die Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten, um die Forschung zu klinischen Studien am Menschen voranzubringen, erklärt Süssmuth. „Sind diese erfolgreich, würde Albicidin eine ganz neue Klasse von Antibiotika begründen – und könnte vielen Tausenden von Menschen jährlich das Leben retten.“
TU Berlin
Originalpublikation:
Michalczyk, E., Hommernick, K., Behroz, I. et al. Molecular mechanism of topoisomerase poisoning by the peptide antibiotic albicidin. Nat Catal6, 52–67 (2023). doi.org/10.1038/s41929-022-00904-1