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Fossile Überraschungen in Bernstein

 fossile Florfliegenlarven
Viele fossile Florfliegenlarven weisen extrem große Körperanhänge und Mundwerkzeuge auf. © Joachim Haug

Jedes Fossil ist wie eine kleine Zeitkapsel: In Bernstein eingeschlossene Insekten werden nahezu perfekt konserviert. „Die äußere Erhaltung in Bernstein ist fast so gut, als hätte man die Tiere in Kunstharz eingegossen,“ sagt Professor Joachim T. Haug. Der LMU-Zoologe und sein Team haben nun in etwa 100 Millionen Jahre altem Bernstein aus Myanmar neue Entdeckungen zur Evolutionsgeschichte der Insekten gemacht.

Die Forschenden fanden fossile Florfliegenlarven, deren Aussehen stark vom typischen Erscheinungsbild von Insektenlarven abweicht. Ungewöhnlich sind vor allem die langen, wie Injektionsnadeln geformten saugenden Mundwerkzeuge. „Vermutlich waren die Larven wie bei allen modernen Arten räuberisch, wir wissen aber nicht, was die Beute der fossilen Larven war,“ sagt Haug. Rezente Arten jagen Blattläuse, injizieren Gift und saugen die Beute dann aus. Blattlauskörper sind aber so weich, dass auch ein deutlich kleinerer Stechapparat genügt. „Vielleicht diente der lange Stechapparat auch einfach dazu, mehr Abstand halten zu können und sich so vor Verletzungen durch die noch zappelnde Beute zu schützen, bis die Wirkung des Gifts einsetzte“, vermutet Haug. Da die extremsten Beispiele für ausufernde Körperanhänge bei ausgestorbenen Arten zu finden sind, nehmen die Forschenden aber an, dass dieser Körperbau letztendlich doch einen evolutionären Nachteil darstellte.

Fossile Larven geben Auskunft über Ökologie und Entwicklungsbiologie

Der Artenreichtum der Gruppe in den Fossilfunden deutet indes darauf hin, dass die heute eher seltenen Florfliegen in der Kreidezeit einen deutlich größeren Teil der Insekten ausmachten und daher eine bedeutende ökologische Rolle spielten: „Sie waren vermutlich ein wichtiges Glied in der Nahrungskette, verwandelten praktisch Ungenießbares in gutes Vogelfutter,“ sagt Haug.

Und noch eine weitere wichtige Erkenntnis bescherten die fossilen Insektenlarven den Forschenden: Bisher nahmen Entwicklungsbiologen an, dass das Längenwachstum von Strukturen wie Antennen, Tastorganen oder Beinen in der Larvenphase generell begrenzt ist. Bei den meisten Insektenlarven sind diese nämlich deutlich kürzer als beim jeweiligen erwachsenen Tier und die Körperform der Larven ist generell eher wurmähnlich. Viele Florfliegenlarven aus dem Bernstein weisen jedoch deutlich verlängerte Antennen, Mundwerkzeuge oder Beine auf. „Das zeigt, dass es prinzipiell bei Larven kein entwicklungsbiologisches Wachstumshindernis für solche Strukturen gibt“, so Haug.

Die Frage nach dem Lebensraum

Ein weiteres Rätsel umgibt die Entwicklungsbiologie der Insekten: Verbrachten die ersten Fluginsekten ihre Larvenphase an Land oder im Wasser? In 99 Millionen Jahre altem Bernstein aus Myanmar fand Joachim Haug einen Hinweis darauf: Aus dem Körperbau einer Larve der fossilen Libellenart Arcanodraco filicauda schließen die Forschenden, dass Fluginsekten am Beginn ihrer Entwicklungsgeschichte aquatische Larven hatten. Noch mehr spricht dafür: Libellen, Eintagsfliegen und Steinfliegen bilden sehr alte Linien innerhalb der Fluginsekten, und auch die rezenten Vertreter dieser drei Gruppen verbringen ihre Larvenphase, die mehrere Jahre dauern kann, im Wasser, bevor sie sich für ihr kurzes Erwachsenenleben in die Lüfte erheben. „Es sieht danach aus, dass frühe Fluginsekten in ihrer Fortpflanzung noch stark auf Gewässer angewiesen waren“, sagt Joachim Haug. Vielleicht fand sogar der allererste Start eines Insekts mithilfe von segelartigen Flügeln von der Wasseroberfläche aus statt.

LMU


Originalpublikationen:

Joachim T. Haug, Viktor Baranov, Patrick Müller et al.: New extreme morphologies as exemplified by 100 million-year-old lacewing larvae. Scientific Reports, 2021
https://www.nature.com/articles/s41598-021-99480-w

Joachim T. Haug, Patrick Müller, Carolin Haug: Fossil dragonfly-type larva with lateral abdominal protrusions and implications on the early evolution of Pterygota. iScience, 2021
https://www.cell.com/iscience/fulltext/S2589-0042(21)01130-5