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Die mit den Händen fliegen – über die Entwicklung von Flügeln in Fledermäusen

Fledermaus
Gene expression of bat wings, cell by cell. (c) Jim Hsu

Neue Forschungsergebnisse zeigen, wie genetische Programme in der Evolution des Säugetierflugs wiederverwendet werden. 

Der Wunsch zu fliegen hat die Menschheit immer begleitet. In der Evolution wurde die Fähigkeit zu fliegen nur dreimal, und das voneinander unabhängig, entwickelt: In den Vögeln, den Flugsauriern und, als einzige Säugetiere, in den Fledermäusen. Die Flügel von Fledermäusen sind ähnlich aufgebaut wie Menschenhände und neben den Knochen von Adern, Nervenbahnen und Sehnen durchzogen. Der wesentliche Unterschied ist eine flexible Hautmembranen, das sogenannte Chiropatagium, das die verlängerten Finger II-V miteinander verbindet. Zusätzliche Flughäute befinden sich zwischen den vorderen- und hinteren Extremitäten (Plagiopatagium) und zwischen den Beinen (Uropatagium). Anders als Vogel- oder Insektenflügel lassen sich die Flügel der Fledertiere während des Flugs wie eine Hand bewegen, wodurch die Tiere zu besonders effizienten und wendigen Flugkünstlern werden. Evolutionär scheint dies besonders erfolgreich gewesen zu sein. Mit rund 1400 Arten sind Fledertiere (Chiroptera) nach den Nagetieren die artenreichste Ordnung der Säugetiere. Man findet sie über den ganzen Erdball verbreitet mit der Ausnahme von extremen Wüsten, sowie den Polarregionen.

Wie solche erstaunlichen Fähigkeiten wie die Fähigkeit zu fliegen und die damit verbundenen Veränderungen in Funktion und Form entstanden sind und wie sie im Genom kodiert sein könnten ist seit Darwin eine zentrale Frage der Biologie. Als extremes Beispiel der evolutionären Neuerung ist der Fledermausflügel daher ein wunderbares Modell, um die molekularen Grundlagen der Entstehung evolutionär neuer Eigenschaften und morphologischer Veränderung zu erforschen. Mithilfe neuer Analysemethoden konnten die Forscher*innen überraschende Erkenntnisse über die genetischen Programme gewinnen, die den Unterschied zwischen Hand und Flügel ausmachen und welche morphologischen Veränderungen dem zugrunde liegen.

In ihrer neuen Studie haben die Labore von Stefan Mundlos (Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, Berlin), Dario G. Lupiáñez (Centro Andaluz de Biología del Desarrollo, Sevilla, Spanien/Max Delbrück Center, Berlin) und Francisca M. Real (Centro Andaluz de Biología del Desarrollo/MPI für Molekulare Genetik) die Stadien der Extremitätenentwicklung untersucht, in denen sich die Morphologie der Flügel manifestiert und diese mit denen der Maus verglichen. Zu diesem Zweck wurden Analysen des gesamten Genoms sowie Einzelzell-Transkriptomik (scRNA-seq) durchgeführt und die Daten mit Hilfe von aufwendigen Filterprogrammen analysiert.

„Wir haben Fledermäuse ausgewählt, weil sie ein hervorragendes Beispiel für phänotypische Anpassung sind. Die Gliedmaßen sind ein wunderbares Modellsystem, um zu sehen, wie die Evolution verschiedene Formen und Funktionen hervorbringt“, sagt Prof. Stefan Mundlos, der korrespondierende Autor der Studie. „Denken Sie an die Gliedmaßen eines Pferdes oder die Flossen eines Delfins, an unsere Hände oder einen Flügel. Dies sind Paradebeispiele dafür, wie die Evolution eine Form in etwas völlig anderes verwandelt.“

Eine große Herausforderung in diesem Forschungsbereich ist der Vergleich von Einzelzelldatensätzen aus Genomen verschiedener Arten – insbesondere, wenn mit Nicht-Modellorganismen wie Fledermäusen gearbeitet wird. Dennoch ermöglicht diese Spitzentechnologie einen einzigartigen Einblick in die Genaktivität jeder einzelnen Zelle innerhalb eines Organs während der verschiedenen Schritte der Entwicklung. Durch Vergleiche zwischen der vorderen (Flügel) und der hinteren (Bein) Extremität der Fledermäuse und bei Mäusen konnten die Wissenschaftler die Zelltypen klassifizieren, aus denen die Flügel gebildet werden, und dabei auch unerwartete Erkenntnisse gewinnen.

"Eine der größten Überraschungen war für uns, dass alle Zelltypen und Funktionen zwischen den Arten konserviert zu sein scheinen. Ursprünglich dachten wir, dass diese Technologie und Analyse klare Erkenntnisse darüber liefern würde, welche Zellen Flügel bilden, da sich Flügel und Mäuseglieder stark voneinander unterscheiden", erklärt Francisca M. Real, eine korrespondierende Autorin der Studie.

Die Wissenschaftler*innen konnten ein wichtiges evolutionäres Konzept nachweisen, das bei der Flügelentwicklung eine Rolle spielt: Es werden dieselben genetischen Programme in anderen Zellen wiederverwendet, anstatt etwas Neues zu erfinden. Insbesondere zeigte sich, dass sich die Zellen, die das Chiropatagium bilden, eigentlich nicht grundsätzlich von anderen Zellen in anderen Teilen der Gliedmaßen unterscheiden. Es werden hier jedoch Gene aktiviert, die in allen anderen bisher untersuchten Spezies nur in der frühen proximalen Extremitätenknospe angeschaltet sind. Das bedeutet, dass die Zellen denselben Satz von Genen verwenden, nur zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort.

„Die Zellen im proximalen Teil der Gliedmaße haben eine ähnliche Identität wie die Zellen, aus denen sich später der Flügel bildet. Das ist etwas völlig Neues und zeigt, wie Evolution funktioniert. Die große Frage ist jetzt, wie dieses genetische Programm in Raum und Zeit genau reguliert wird. Können wir signifikante Unterschiede im Genom identifizieren, die diesen gesamten Prozess von Anfang an auslösen?“, sagt Christian Feregrino, Erstautor der Studie.

Max-Planck-Institut für molekulare Genetik


Originalpublikation:

Schindler, M., Feregrino, C., Aldrovandi, S. et al. Comparative single-cell analyses reveal evolutionary repurposing of a conserved gene programme in bat wing development. Nat Ecol Evol (2025). doi.org/10.1038/s41559-025-02780-x