Nimmt eine COVID-19-Erkrankung einen schweren Verlauf, so geht dies mit einer verminderten Konzentration des Steuermoleküls PIRAT einher; diese Absenkung trägt zu einer überschießenden Immunantwort bei, wie sie für schwere Fälle typisch ist. Zu diesem Ergebnis kommt eine bundesweite Forschungsgruppe durch molekulargenetische Analysen an weißen Blutkörperchen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Professor Dr. Leon Schulte vom Institut für Lungenforschung der Philipps-Universität Marburg berichten im Forschungsmagazin „PNAS“ über ihre Ergebnisse.
Schwere Verläufe bei COVID-19 beruhen oftmals auf einer überschießenden Reaktion des Immunsystems, die ihrerseits auf eine Fehlsteuerung zurückgeht. „Zum einen muss der Körper eine schlagkräftige Abwehr von Krankheitserregern gewährleisten. Zum anderen darf die Immunreaktion dabei nicht überhandnehmen oder gar Gewebe und Organe schädigen“, erklärt Leon Schulte, der die Forschungsarbeiten leitete. Doch die molekularen Regelkreise, die bei COVID-19 die Immunantwort steuern, sind bislang nicht im Detail verstanden.
Droht eine Schädigung des Körpers, etwa durch eine Infektion mit einem Krankheitserreger wie SARS-CoV-2, so lösen Signalmoleküle, so genannte Alarmine, eine Reaktion der Immunabwehr aus. Das Immunsystem von Säugetieren wie dem Menschen hat ausgefeilte Kontrollmechanismen hervorgebracht, um die Abwehrreaktionen in engen Bahnen zu halten. Die Forschungsgruppe um Schulte untersuchte in Immunzellen von Patientinnen und Patienten mit schwerem COVID-19, welche Funktion dabei eine noch weitgehend rätselhafte Molekülklasse übernimmt, die sogenannten langen nichtkodierenden RNAs, kurz lncRNAs.
Das Team setzte zu diesem Zweck auf eine neue Variante der Hochdurchsatz-Sequenziertechnik. „Das verwendete Verfahren erlaubt es, die Gegenwart und Menge bestimmter RNAs gleichzeitig in mehreren tausend Zellen aus einer Patientenprobe zu messen“, erläutert Koautor Professor Dr. Holger Garn, der das kürzlich eingerichtete Labor für Einzelzell-RNA-Sequenzierung an der Philipps-Universität Marburg leitet.
„Wir konnten zeigen: Das Mengenverhältnis von zwei dieser RNA-Moleküle in Blutzellen ist ausschlaggebend, um die Produktion von Botenstoffen zu regulieren, die mit schweren COVID-19-Verläufen einhergehen“, berichtet Marina Aznaourova aus Schultes Labor, eine der federführenden Autorinnen der Studie. Einerseits liegt das Molekül PIRAT in den Blutzellen der Betroffenen vermindert vor. Es kann deswegen die Produktion von Alarminen nicht drosseln, die durch andere Faktoren angestoßen wird. Andererseits weisen die Zellen vermehrt das Molekül LUCAT1 auf, das die Produktion von Immunproteinen fördert.
„Nichtcodierende RNA nimmt beim Menschen eine Schlüsselstellung bei der systemischen Antwort auf eine Infektion mit dem Coronavirus ein“, fasst Schultes Mitarbeiter Nils Schmerer zusammen, ein weiterer Leitautor. Leon Schulte schlussfolgert: „Der Abbau einer solchen RNA hebt eine natürliche Bremse für eine überschießende Immunreaktion auf. Wir glauben, dass ein therapeutischer Eingriff in diesen Regelkreis vor schwerem COVID-19 schützen könnte.“
Neben Schulte und seinem Team beteiligten sich zahlreiche weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg sowie aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Hannover und Berlin an der Studie. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Hessische Wissenschaftsministerium, die Von Behring-Röntgen-Stiftung sowie weitere Geldgeber förderten die zugrundeliegende Forschungsarbeit finanziell.
Philipps-Universität Marburg
Originalveröffentlichung:
Marina Aznaourova, Nils Schmerer & al.: Single cell RNA-seq uncovers the nuclear decoy lincRNA PIRAT as a regulator of systemic monocyte immunity during COVID-19, PNAS 2022, DOI: https://doi.org/10.1073/pnas.2120680119