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Arktische Küsten im Wandel

Erodierende Steilküste auf der arktischen Permafrost-Insel Herschel Island, Yukon Kanada.
Erodierende Steilküste auf der arktischen Permafrost-Insel Herschel Island, Yukon Kanada. Alfred-Wegener-Institut / Jaroslav Obu

Arktische Küsten zeichnen sich durch Meereis, Permafrost und Bodeneis aus. Das macht sie besonders empfindlich für die Auswirkungen des Klimawandels, der die ohnehin schon sehr schnelle Küstenerosion noch weiter beschleunigt. Die steigende Erwärmung beeinflusst Uferstabilität, Sedimente, Kohlenstoffspeicher und Nährstoffmobilisierung. Um Prognosen und Anpassungsstrategien für die arktischen Küsten zu verbessern, ist es unabdingbar, die Wechselwirkungen zwischen diesen Veränderungen zu verstehen. In einer Sonderausgabe des Fachmagazins Nature Reviews Earth & Environment beschreiben Forschende des Alfred-Wegener-Instituts die Empfindlichkeit der arktischen Küsten gegenüber dem Klimawandel und vor welchen Herausforderungen Mensch und Natur stehen.

„Das Tempo der Veränderungen in der Arktis nimmt zu und führt zu einem beschleunigten Rückzug der Küsten“, sagt Dr. Anna Irrgang vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Das wirkt sich sowohl auf die natürliche als auch auf die menschliche Umwelt aus, zum Beispiel indem Kohlenstoff aus dem Boden in das Meer und in die Atmosphäre gelangt oder das Land abbricht, das Gemeinden und Infrastrukturen trägt.“ Wie genau und wie stark sich die Veränderungen zeigen, hängt vom Zusammenspiel der lokalen Beschaffenheit der Küste ab, wie dem Vorhandensein von Permafrost und Umweltfaktoren wie Luft- und Wassertemperatur. „Prognosen hierüber sind häufig mit großen Unsicherheiten behaftet, denn zuverlässige ozeanographische und Umweltdaten für die entlegenen Küstenzonen sind nur begrenzt verfügbar“, so Irrgang. Um das Verständnis zu verbessern und damit auch die Vorhersagen über künftige Entwicklungen, hat die AWI-Permafrostforscherin in einem Übersichtsartikel die wichtigsten Faktoren zusammengetragen, die auf die arktischen Küsten einwirken und die für die Entwicklung von Anpassungsstrategien an den Klimawandel entlang arktischer Küsten wichtig sind.

Umweltfaktoren und lokale Bedingungen treiben den Küstenwandel an

Je nach Region besitzen arktische Küsten unterschiedliche Strukturen. In Alaska, Kanada oder Sibirien sind sie beispielsweise besonders reich an Bodeneis mit bis zu 40 Meter hohen Permafrost-Steilküsten. In Grönland, auf Spitzbergen und dem kanadischen Archipel enthalten die Küsten dagegen in der Regel nur sporadisch Bodeneis, bestehen ansonsten größtenteils aus grobem Sediment, das aus dem Schmelzwasser von Gletschern stammt, oder sogar aus Festgestein. Diese regionalen geomorphologischen Unterschiede beeinflussen, wie sich andere Umweltvariablen auf die Küsten auswirken. Verändern sich zum Beispiel die Luft- und Wassertemperatur, beeinflusst das das gesamte Küstensystem. Eisreiche Permafrost-Steilküsten, die teils bis zu 80 Prozent aus Eis bestehen, sind beispielsweise recht widerstandsfähig gegenüber mechanischen Wellenaktivitäten. Wenn sie jedoch wegen erhöhter Luft- und Wassertemperaturen auftauen, werden sie besonders anfällig für die Zerstörung durch Wellen, was sich durch schnellen Küstenabtrag äußert.

Arktische Küsten sind somit besonders klimaempfindlich: Die globale Erwärmung führt dazu, dass Permafrostböden immer großflächiger auftauen, Bodeneis schmilzt und dadurch Landoberflächen einbrechen. Das beeinflusst wiederum die Verfügbarkeit und Qualität von Wasser, das Wachstum von Pflanzen und verstärkt das Abtragen von Böden (Erosion) und Überschwemmungen an der Küste. Zusätzlich steigt in weiten Teilen der Arktis die Temperatur der Meeresoberfläche an, was die meereisfreie Zeit verlängern kann. Küsten sind dann vor allem in der stürmischen Herbstzeit deutlich länger starken Wellen ausgesetzt.

Veränderungen an der arktischen Küste

Vergleicht man die Veränderungsraten arktischer Küstenlinien miteinander, zeigt sich, dass die überwältigende Mehrheit der Permafrostküsten durch Erosion zurückgehen. Die nordkanadische Herschel-Insel etwa verliert pro Jahr bis zu 22 Meter seiner Steilküste. Taut Permafrost ab, können dadurch organischer Kohlenstoff, Nährstoffe und Schadstoffe in die küstennahe Umwelt und in die Atmosphäre entweichen. Die Fachleute schätzen, dass durch Küstenerosion jährlich etwa 14 Megatonnen organischen Kohlenstoff in den Arktischen Ozean gelangen, und damit mehr als von den riesigen arktischen Flüssen eingespült wird. Das Auftauen bisher fester Böden wirkt sich auch auf die Menschen vor Ort aus. Rund 4,3 Millionen von ihnen werden mit den Folgen konfrontiert sein: Sie verlieren Gebäude und Straßen, traditionelle Jagdgebiete und auch Kulturstätten. In Alaska müssen ganze Siedlungen bereits jetzt aufgegeben werden und Menschen umziehen. Denn die Erosion gefrorener Flächen erhöht die Risiken für Permafrosttauen und gegenwärtig unkalkulierbare Umweltverschmutzungen durch industrielle Infrastrukturen. Erst langfristig könnten sich neue Chancen durch die Veränderungen auftun, weil der Zugang zu Ressourcen in bisher nicht erreichbare Regionen, neue landwirtschaftliche Flächen und auch Schifffahrtsrouten für Handel und Tourismus erschlossen werden könnten.

Genaue Daten für gute Lebensbedingungen an arktischen Küsten

„Unser derzeitiges Verständnis der arktischen Küstendynamik ist fragmentiert, da es zu wenige Daten über Umweltfaktoren und die Veränderung der Küstenlinien mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung gibt“, sagt Anna Irrgang. „Zwar gibt es solche Datensätze bereits für einige Regionen wie Nordalaska, der größte Teil der arktischen Küste ist aber nur unzureichend erfasst.“ Dabei werden arktisweite Beobachtungen von Umweltfaktoren und Küstenveränderungen dringend benötigt, um Unsicherheiten bei Prognosen zu verringern. Diese würden lokale Gemeinden dabei unterstützen, sich mit neuen sozio-ökologischen Entwicklungen zu arrangieren. „Hierfür müssen wir Anpassungsmethoden entwickeln, die gute und nachhaltige Lebensbedingungen in arktischen Küstensiedlungen ermöglichen. Eine enge Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort ist dabei zentral“, sagt Anna Irrgang.

Die Analyse des arktischen Küstenwandels ist Teil der Sonderausgabe „Permafrost“ des Fachmagazins Nature Reviews Earth & Environment.

Die Sektion Permafrost des AWI ist zusätzlich noch mit zwei weiteren Beiträgen beteiligt: In einer Übersicht zeigen Forschende, wie in arktischen und borealen Tiefland-Gebieten Millionen von Tau-Seen und drainierten Seebecken durch das Schmelzen von eisreichem Permafrost entstanden und gewachsen sind. Diese Vorgänge beeinflussen Landschafts- und Ökosystemprozesse sowie die Lebensgrundlagen der Menschen in den riesigen arktischen Tiefland-Regionen. Ein dritter Beitrag stellt das Projekt „Permafrost-Comics“ vor, das Cartoons nutzt, um Wissen zum Thema Permafrost leichter für ein breites und vor allem auch junges Publikum zugänglich zu machen.

AWI


Originalpublikation:
Anna M. Irrgang, Mette Bendixen, Louise M. Farquharson, Alisa V. Baranskaya, Li H. Erikson, Ann E. Gibbs, Stanislav A. Ogorodov, Pier Paul Overduin, Hugues Lantuit, Mikhail N. Grigoriev, Benjamin M. Jones (2022): Drivers, dynamics and impacts of changing Arctic coasts. Nature Reviews Earth & Environment, DOI: 10.1038/s43017-021-00232-1

https://doi.org/10.1038/s43017-021-00232-1