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Wie ein winziges Gen das Überleben männlicher Vögel sichert

Grafik mit zwei Hähnen
Aktuelle Untersuchungen zu den genetischen Unterschieden zwischen den Geschlechtschromosomen von Vögeln offenbaren ein winziges Gen, das für das Überleben männlicher Vögel entscheidend ist. Copyright: © Nils Trost, Sara Yousefi Taemeh

Eine einzigartige evolutionäre Lösung für den Fortbestand männlicher Tiere haben Vögel in Form einer wirkungsvollen Mikro-RNA ausgebildet. Dieses winzige Gen sorgt dafür, dass männliche Embryonen trotz eines genetischen Ungleichgewichts zwischen den Geschlechtern überleben können, indem es die Aktivität von Geschlechtschromosomen ausbalanciert. Das hat ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Biologen der Universität Heidelberg und der University of Edinburgh (Schottland) herausgefunden. Dieser Mechanismus war bislang nicht bekannt und unterscheidet sich deutlich von dem System, das Säugetiere im Laufe der Evolution für dieselbe Herausforderung entwickelt haben.

Die Geschlechtschromosomen – sie bestimmen, ob ein Individuum männlich oder weiblich ist – sind aus einem gewöhnlichen Chromosomenpaar entstanden. Bei Säugetieren besitzen die Weibchen zwei X-Chromosomen, die Männchen ein X- und ein Y-Chromosom. Umgekehrt haben Vogelmännchen zwei Z-Chromosomen, Vogelweibchen ein Z- und ein W-Chromosom. Im Laufe der Evolution haben das Y-Chromosom der Säugetiere und das W-Chromosom der Vögel aufgrund ihrer hochspezialisierten geschlechterspezifischen Funktionen den Großteil ihrer Gene eingebüßt, sodass ein Geschlecht jeweils zwei Kopien der meisten Gene besitzt, während das andere Geschlecht nur über eine verfügt. Säugetiere kompensieren dieses genetische Ungleichgewicht dadurch, dass die Aktivität des X-Chromosoms bei beiden Geschlechtern intensiviert und eines der beiden X-Chromosomen des Weibchens „stillgelegt“ wird.

Wie Vögel dieses Problem lösen, konnte das internationale Forschungsteam nun mit seinen aktuellen Untersuchungen anhand von Hühnern zeigen. So wird der Verlust von Erbmaterial auf dem weiblich-spezifischen W-Chromosom durch eine erhöhte Aktivität wichtiger Gene des Z-Chromosoms ausgeglichen. Was für die Vogelweibchen überlebenswichtig ist, führt bei den Männchen mit zwei Z-Chromosomen ohne einen Ausgleich jedoch zu einer genetischen Überaktivität und in der Folge zu Wachstumsstörungen. Die Wissenschaftler um Prof. Dr. Henrik Kaessmann (Universität Heidelberg) und Dr. Mike McGrew (University of Edinburgh) vermuteten, dass hier eine zuvor entdeckte Mikro-RNA – eine kurze regulierende Ribonukleinsäure – eine entscheidende Rolle spielt.

„Diese Mikro-RNA ist hauptsächlich in männlichen Vögeln aktiv. Daher lag die Annahme nahe, dass sie dabei hilft, die Aktivität des Z-Chromosoms auszugleichen“, so Prof. Kaessmann, der am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg (ZMBH) forscht. Um ihre Hypothese zu testen, entfernten die Wissenschaftler mithilfe von Geneditierung die Mikro-RNA und untersuchten die Auswirkungen in der frühen Entwicklung der Hühner. Während männliche Embryonen ohne die Mikro-RNA nicht überlebten, entwickelten sich Weibchen normal. Das gleiche winzige Gen findet sich nach Angaben der Wissenschaftler bei allen untersuchten Vogelarten, nicht jedoch bei anderen Tieren. „Es ist die einzige bekannte Mikro-RNA, die für das Überleben eines Geschlechts, nicht aber des anderen, entscheidend ist“, sagt Dr. Amir Fallahshahroudi, ehemals Postdoktorand im Team von Henrik Kaessmann am ZMBH und nun Gruppenleiter an der Universität Uppsala (Schweden).

Nach den Worten von Dr. McGrew wirkt der Mechanismus der männlich-spezifischen Mikro-RNA wie ein Dimmer, der die überaktiven Gene auf den beiden männlichen Z-Chromosomen herunterregelt. „Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass Vögel eine einzigartige evolutionäre Lösung entwickelt haben, um das genetische Ungleichgewicht der Geschlechterchromosomen auszubalancieren und den Fortbestand der männlichen Tiere zu sichern“, betont der Wissenschaftler. Sie machen zugleich deutlich, dass die Evolution verschiedene Lösungen für dieselbe biologische Herausforderung findet – und dass winzige Gene enorme Auswirkungen auf das Überleben haben können. „Wir müssen uns fragen, ob andere Tierarten ebenfalls Mikro-RNAs zur Regulierung ihrer Geschlechtschromosomen nutzen oder auf ganz andere Systeme zurückgreifen“, so Prof. Kaessmann.

An den Arbeiten waren neben den Wissenschaftlern aus Heidelberg, Edinburgh und Uppsala auch Forscherinnen und Forscher aus Abu Dhabi und China beteiligt. Gefördert wurden sie von verschiedenen Einrichtungen und Stiftungen, darunter der European Research Council, die NOMIS Foundation, der Swedish Research Council sowie der Biotechnology and Biological Sciences Research Council (UK). Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.

Universität Heidelberg


Originalpublikation:

Fallahshahroudi, A., Yousefi Taemeh, S., Rodríguez-Montes, L. et al. A male-essential miRNA is key for avian sex chromosome dosage compensation. Nature (2025). doi.org/10.1038/s41586-025-09256-9