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Abkehr von der Sieben-Tage-Inzidenz als zentralem Maßstab

Die geplante Abkehr von der Sieben-Tage-Inzidenz als zentralem Maßstab für die Verhängung von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 stößt bei Sachverständigen auf breite Zustimmung. Während einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses am Dienstag gab es jedoch auch Forderungen nach einer weitergehenden Differenzierung als bislang von Bundesregierung und Koalitionsfraktion geplant ist. Ursprünglich sollte Paragraf 28a Infektionsschutzgesetz (IfSG) dahingehend geändert werden, dass sich die Schutzvorkehrungen gegen das Coronavirus an der Hospitalisierungsrate ausrichten. Ein Änderungsantrag von Unions- und SPD-Fraktion sieht nun als Kriterien eine nach Altersgruppen aufgeschlüsselte Sieben-Tage-Inzidenz, die verfügbaren intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten und die Entwicklung der Impfquote vor.

Für Ferdinand Wollenschläger von der Universität Augsburg bedarf der Änderungsantrag einer Nachbesserung hinsichtlich der Zielsteuerung. Aktuell sei er so zu verstehen, dass die drohende Überlastung der stationären Versorgung das ausschließliche Kriterium ist. Wenn dem so sei, müsse dies auch in den Gesetzestext aufgenommen werden, forderte Wollenschläger. Sollten Maßnahmen auch mit Blick auf weitere Aspekte - unabhängig von der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems - ergriffen werden können, empfehle es sich, dies zu verdeutlichen.

Andrea Kießling von der Ruhr-Universität Bochum kritisierte, dass lediglich die stationäre Versorgung, aber nicht die ambulante Versorgung in den Blick genommen werde. Auch diese könne aber überlastet sein, „was sich negativ auf die Versorgung in anderen Krankheitsfällen auswirkt“. Auch inwiefern Kinder bei steigenden Infektionszahlen geschützt werden müssen, beantworte die geplante Änderung nicht.

Aus Sicht von Elisabeth Fix vom Deutscher Caritasverband bedarf die Entwicklung der Reproduktionsrate (R-Wert) weiterhin einer genauen Beobachtung. Auch könnten Menschen, die nicht stationär wegen Covid-19 behandelt wurden, unter Long-Covid leiden, sagte sie. Diese beiden Indikatoren müssten ergänzt werden.

Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), verwies auf einen deutlichen Anstieg der Anzahl von Covid-Patienten auf Intensivstationen innerhalb der vergangenen vier Wochen. Er betrachte dies mit großer Sorge. Die geplanten Änderungen bewerte die DIVI positiv, so Marx. Es sei aber zu bedenken, dass die Inzidenz der Altersgruppe 35plus nach wie vor sehr gut mit den Aufnahmen auf den Intensivstationen korreliere und daher Beachtung verdiene.

Nach Auffassung von Martin Stürmer, Facharzt für Mikrobiologie an der Universität Frankfurt, sollte die Sieben-Tage-Inzidenz weiterhin fester und genau definierter Bestandteil einer Regelung sein, um das Infektionsgeschehen weiterhin auf einem möglichst niedrigen Level zu halten. Ein kompletter Verzicht oder eine nicht definierte Grenze der Sieben-Tage-Inzidenz für verschärfende Infektionsschutzmaßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt bedeute, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung einer Infektion schutzlos gegenüberstehe.

Christian Karagiannidis von der Universität Witten/ Herdecke verwies darauf, dass die Intensivbelegung nicht nur an die Inzidenz, sondern auch an den Impffortschritt insbesondere der über 35-Jährigen gekoppelt sei. Da dies von Woche zu Woche variiere, eventuell aber auch zu erwarten stehe, dass die Impfung insbesondere bei Hochbetagten oder immunsupprimierten Patienten im Laufe des Jahres nachlässt, sollte dieser Faktor seiner Ansicht nach in die Findung der Grenzen der Inzidenzen miteinbezogen werden.

„Schwere Bedenken“ äußerte Hinnerk Wißmann von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Der Entwurf führe zu einer Entparlamentarisierung, die der Bundestag in den vergangenen Monaten mühsam habe vermeiden wollen. Das gelte für das Verfahren wie auch für die Sachregelung. Das Verfahren laufe erneut im Panikmodus, kritisierte er und verwies darauf, dass erst am gestrigen Nachmittag die Kriterien erweitert worden seien. In der Sache läge ein Paradigmenwechsel vor, der nicht zu Ende gedacht sei. So gebe es keine parlamentarische Grenzziehung mehr. Stattdessen könnten nun 16 Bundesländer auf 16 verschiedene Arten diese Grenzen gestalten.

Aus virologischer Sicht handle es sich um einen sehr guten Vorschlag, befand Ulrike Protzer vom Institute of Virology in München. Es zeige sich, dass mit steigender Impfquote die Kurve der Hospitalisierungen und die Kurve der Infektionen immer weiter auseinandergehen. Es sei die Hospitalisierungsrate, die einen Einblick in die Zahl der relevant Infizierten gebe, die wiederum relevant für die Belastung des Gesundheitssystems sei.

Jörn Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), nannte es sehr sinnvoll, eine altersbezogene Hospitalisierungsrate statt Inzidenzen zu Rate zu ziehen. Zu berücksichtigen sei dabei auch, das viele Hospitalisierungen nicht aufgrund einer Covid-Erkrankung erfolgten, sondern aufgrund einer anderen Erkrankung mit gleichzeitigem Vorliegen eines positiven Corona-Tests. Dies gelte es zu differenzieren, forderte er. Das Verhältnis schätze die DGKJ auf 10:1 - also zehn positiven Abstriche gegenüber einem Covid-Erkrankten.

(hib)