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Entstanden Nervenzellen, um mit Mikroben zu sprechen?

Eine Neuronenpopulation in Hydras diffusem Nervennetz exprimiert Neuropeptide (in grün), die mittels spezifischer Antikörper sichtbar gemacht werden. Die Zellkerne sind in Magenta eingefärbt.
Eine Neuronenpopulation in Hydras diffusem Nervennetz exprimiert Neuropeptide (in grün), die mittels spezifischer Antikörper sichtbar gemacht werden. Die Zellkerne sind in Magenta eingefärbt. © Dr. Alexander Klimovich

Verschiedene Krankheiten des Verdauungstrakts, zum Beispiel gravierende Darmentzündungen beim Menschen, sind eng an Störungen der natürlichen Beweglichkeit des Darms gekoppelt. Welche Rolle bei diesen auch als Peristaltik bezeichneten rhythmischen Kontraktionen des Darms das Mikrobiom - also die natürliche mikrobielle Besiedlung des Verdauungstrakts - spielt, wird derzeit intensiv untersucht. Unklar ist insbesondere, wie die Kontraktionen gesteuert werden und wie die als Schrittmacher agierenden Zellen des Nervensystems mit den Mikroorganismen zusammenarbeiten. Einem Forschungsteam aus der Arbeitsgruppe Zell- und Entwicklungsbiologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) gelang es nun am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra erstmals zu belegen, dass stammesgeschichtlich alte Neuronen und Bakterien tatsächlich direkt miteinander kommunizieren.

Überraschenderweise stellten die Forschenden fest, dass sich die Nervenzellen über Immunrezeptoren, also gewissermaßen mithilfe der Mechanismen des Immunsystems, mit den Mikroorganismen austauschen. Auf dieser Grundlage formulierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des CAU-Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ die Hypothese, dass das Nervensystem bereits von Beginn der Evolution an nicht nur sensorische und motorische Funktionen übernimmt, sondern auch für die Kommunikation mit den Mikroben mitverantwortlich ist. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Kieler Forschenden um Professor Thomas Bosch gemeinsam mit internationalen Kolleginnen und Kollegen gestern in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS).

Beobachtungen an einem einfachen und uralten Nervensystem

Das Forschungsteam untersuchte das einfache Nervennetz des stammesgeschichtlich alten Süßwasserpolypen Hydra. Es ähnelt in seiner Funktion dem sogenannten enterischen Nervensystem der Wirbeltiere, das die Funktionalität des Verdauungstrakts steuert. Die Forschenden des SFB 1182 machten dabei zwei wichtige Beobachtungen. Zum einen gelang es ihnen erstmals diejenigen Zellen des Nervensystems von Hydra zu identifizieren, die für die rhythmischen Kontraktionen des Polypen verantwortlich sind. Der Schlüssel für diese Entdeckung lag in der engen Zusammenarbeit mit einer humanmedizinischen Arbeitsgruppe um Professor Mauro D’Amato von der Monash University in Melbourne, Australien. In einer großangelegten Studie mit Probenmaterial von Patientinnen und Patienten, die am sogenannten Reizdarmsyndrom (Englisch: Irritable Bowel Syndrome, IBS) litten, entdeckten die australischen Forschenden Gene, die möglicherweise für Störungen der Darmperistaltik beim Menschen verantwortlich sind. Auf dieser Grundlage suchte das Forschungsteam um Thomas Bosch auch bei Hydra nach Zellen, in denen diese Gene aktiv sind. Die Kieler Forschenden wurden überraschenderweise bei einer kleinen Gruppe von Nervenzellen dieses uralten Nervensystems fündig. Als sie diese Gene bei Hydra ausschalteten und so die von ihnen kodierten Proteine deaktivierten, führte dies unmittelbar zu einem drastischen Rückgang der rhythmischen Darmkontraktionen. Damit gelang den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der CAU der Nachweis, dass es sich hier tatsächlich um die Schrittmacherzellen handelte, die die Darm-Kontraktionen steuern. Da diese Genvarianten ursprünglich in menschlichen Proben von IBS-Erkrankten entdeckt wurden, vermuten die Kieler Forschenden, dass es sich bei diesen Neuronen um zentrale Steuerungseinheiten handelt, die bereits früh in der Evolution der Tiere entwickelt wurden, um komplexe Körperfunktionen zu regulieren.

Die Studie des CAU-Forschungsteams brachte darüber hinaus noch ein zweites ebenfalls überraschendes Ergebnis. Die detaillierte molekulargenetische Analyse der einzelnen Nervenzellen von Hydra zeigte, dass diese mit den Werkzeugen des angeborenen Immunsystems direkten Einfluss auf die Dichte und die Zusammensetzung der symbiotischen Bakterien ausüben. Es war bereits bekannt, dass die Abwesenheit oder Störung des Mikrobioms deutlichen Einfluss auf die Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Kontraktionen ausübt. Darüberhinaus macht die neue Studie nun klar, dass hier ein stammesgeschichtlich uraltes Regelsystem vorliegt, in dem die Kommunikation zwischen bestimmten Neuronen und den symbiotischen Bakterien eine zentrale Rolle spielt.

„Unsere Beobachtungen weisen darauf hin, dass die Nervenzellen in der Lage sind, Mikroorganismen wahrzunehmen und auf sie zu reagieren“, erklärt Dr. Alexander Klimovich, Wissenschaftler in der Zell- und Entwicklungsbiologie und SFB 1182-Mitglied. „Dazu nutzen die Neuronen Rezeptoren, die bei anderen Tieren in Zellen des Immunsystems vorkommen“, so der Erstautor weiter. Aktivierte Schrittmacherzellen schütten dann bestimmte Moleküle wie etwa antimikrobielle Peptide aus, die wiederum starken Einfluss auf die An- oder Abwesenheit bestimmter Mikroben haben.

In anschließenden Untersuchungen verglich das Kieler Forschungsteam die Steuerungsmechanismen der Hydren mit jenen der Fadenwürmer und Mäuse. Sie stellten fest, dass auch bei ihnen die Zusammenarbeit von Schrittmacherzellen und Mikroben stattfinden kann. Genauere Analysen zeigten, dass zum Beispiel die Schrittmacherzellen im Mäusedarm ebenfalls Immunrezeptoren besitzen, die auf ähnliche Weise mit den Mikroorganismen kommunizieren. „Wir vermuten daher, dass die Kommunikation von Neuronen und Mikroben über Immunrezeptoren eine evolutionär hoch konservierte Eigenschaft darstellt“, betont Klimovich. „Möglicherweise entwickelte sich vor gut 650 Millionen Jahren bei Hydren erstmals diese Verbindung zwischen Nervensystem und Mikrobiom“, sagt Klimovich.

Eine neue Hypothese

Die Erkenntnisse des Kieler Forschungsteams liefern damit Hinweise, dass das Nervensystem vermutlich von Beginn an eng mit symbiotischen Mikroorganismen verknüpft war. „Womöglich müssen wir die Evolution des Immun- und Nervensystems neu denken“, betont Professor Thomas Bosch, Leiter der Kieler Zell- und Entwicklungsbiologie und Sprecher des SFB 1182. „Die Untersuchungen an Hydra zeigen, dass schon die evolutionär ältesten Nervensysteme in der Natur mit Mikroorganismen interagierten. Möglicherweise war es so, dass Nervenzellen erfunden wurden, um die Kommunikation mit den für den Körper so wichtigen Mikroben überhaupt erst zu ermöglichen“, so Bosch weiter.

Sollte diese Hypothese zutreffen, eröffnet sie auch völlig neue Perspektiven auf die Entstehung und künftige Behandlung von menschlichen Darmerkrankungen, die auf einer gestörten Beweglichkeit des Darms beruhen. Denn ein Zusammenhang zwischen dem Zustand des Mikrobioms und den Störungen der Darmbeweglichkeit besteht sehr wahrscheinlich auch beim Menschen. „Zukünftig müssen wir also auch die Rolle der Nervenzellen bei der Entstehung und Therapie von entzündlichen Darmerkrankungen berücksichtigen“, blickt Bosch voraus. Je besser die Forschenden deren Beteiligung an der Krankheitsentstehung verstehen, desto näher rücken therapeutische Eingriffe in das Mikrobiom, die eine gesunde Darmbeweglichkeit und damit eine Behandlung von chronischen Darmerkrankungen erlauben könnten.

CAU Kiel


Originalpublikation:

Alexander Klimovich, Stefania Giacomello, Åsa Björklund, Louis Faure, Marketa Kaucka, Christoph Giez, Andrea P. Murillo-Rincon, Ann-Sophie Matt, Doris Willoweit-Ohl, Gabriele Crupi, Jaime de Anda, Gerard C.L. Wong, Mauro D’Amato, Igor Adameyko, Thomas C.G. Bosch (2020): Prototypical pacemaker neurons interact with the resident microbiota PNAS 2020

https://doi.org/10.1073/pnas.1920469117