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Neue Erkenntnisse zur Bewegung von Kiefernzapfenschuppen

Die einzelnen Gewebeschichten der Samenschuppe werden in mikro-computertomographischen Aufnahmen sichtbar. Plant Biomechanics Group FR livMatS/Universität Freiburg

• Forschende zeigen in einem neuen Modell, dass die Samenschuppen von Kiefernzapfen sich aufgrund eines komplexen Zusammenspiels mehrerer Gewebe bewegen, die in unterschiedlicher Weise auf Feuchtigkeit reagieren.
• Das Forschungsteam widerlegt damit die bisherige Annahme, dass die Bewegung lediglich auf dem feuchtigkeitsbedingten mechanischen Verhalten eines funktionalen Zweischicht-Systems beruht.
• Mithilfe der Ergebnisse könnten bionische Klappensysteme mit verbesserter Funktion zum Beispiel für adaptive Gebäudefassaden entstehen.

Kiefernzapfen öffnen sich bei Trockenheit und schließen sich bei Nässe. Auf diese Weise sorgt die Natur dafür, dass die Kiefernsamen unter vorteilhaften Bedingungen freigegeben werden, nämlich wenn es möglichst windig ist und die Samen weit getragen werden. Für die Forschung ist das Öffnen und Schließen besonders interessant, da die Bewegung passiv abläuft, also keine Stoffwechselenergie verbraucht. Deshalb hat der Kiefernzapfen bereits als Vorbild für bionische Klappensysteme gedient, die auf Feuchtigkeit reagieren und beispielsweise zur Klimaregulierung in Gebäudehüllen zum Einsatz kommen.


Ein Team um Prof. Dr. Jürgen Rühe, Carmen Eger und Prof. Dr. Thomas Speck vom Exzellenzcluster Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems (livMatS) der Universität Freiburg, Dr. Simon Poppinga von der TU Darmstadt und Prof. Dr. Manfred Bischoff von der Universität Stuttgart hat in Zusammenarbeit mit Forschenden der TU München und Projektpartnern der BASF nun detailliert analysiert, welche Gewebestrukturen an dieser Bewegung beteiligt sind. Die Forschenden zeigen, dass die Zapfenschuppen sich aufgrund mehrerer Gewebeschichten schließen, die alle Feuchtigkeit aufnehmen. Mithilfe der Ergebnisse könnten bionische Klappensysteme mit verbesserter Funktion entstehen. Das Team hat seine Erkenntnisse in dem Journal Advanced Science veröffentlicht.

Bisheriges Modell geht von zwei funktional relevanten Gewebetypen aus

Bisher nahm die Forschung an, dass die Bewegungen des Kiefernzapfens auf dem Zusammenspiel zweier Gewebeschichten in der Schuppe beruht: Einer oberen, starren Schicht, die kein oder nur sehr wenig Wasser aufnimmt, und einer unteren, die durch Feuchtigkeit aufquillt und sich dabei verlängert. Hierbei drückt sie die Schuppe nach oben und der Zapfen schließt sich. Trocknet und schrumpft die untere Schicht, zieht sie die Schuppe wieder nach unten – der Zapfen öffnet sich.

Faserstränge setzen Biegeprozess in Gang

Dieses vereinfachte Modell widerlegen die Wissenschaftler*innen in ihrer Analyse. Sie zeigen, dass mehrere Gewebeschichten in der Schuppe Wasser aufnehmen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den sogenannten Sklerenchym-Fasersträngen zu. Im Doppelschicht-Modell gelten sie als Hauptbestandteil der starren, oberen Gewebeschicht. Die Forschenden kommen in ihrer Analyse hingegen zu dem Ergebnis, dass die Faserstränge im trockenen Zustand zwar starr sind, jedoch bei Feuchtigkeit erweichen – und so den Biegeprozess erst in Gang setzen. Zudem bestehen die unterschiedlichen Gewebe zwar aus chemisch identischen Materialien, jedoch variiert ihre Anordnung entlang der Schuppe. So besteht die Schuppe aus einer Biegezone und einer längeren klappenartigen Schicht, die nicht wesentlich zum Biegeprozess beiträgt, sondern passiv mitbewegt wird. Die Forschenden setzten in ihrer Analyse unter anderem hochauflösende 3D-Strukturanalysen, 3D-Verformungsmessungen, Messungen zur Wasseraufnahme der Gewebe und biomechanische Experimente ein.
(Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau)


Originalpublikation: Eger, C. J., Horstmann, M., Poppinga, S., Sachse, R., Thierer, R., Nestle, N., Bruchmann, B., Speck, T., Bischoff, M., Rühe, J.,
The Structural and Mechanical Basis for Passive-Hydraulic Pine Cone Actuation. Adv.
Sci. 2022, 2200458. DOI: 10.1002/advs.202200458 [LINK: https://doi.org/10.1002/advs.202200458]