Das Hodgkin-Lymphom ist eine der häufigsten Formen von Lymphdrüsenkrebs bei jungen Erwachsenen. Es ist gekennzeichnet durch B-Lymphozyten, die stark vergrößert sind und, sehr ungewöhnlich für B-Zellen: Auf ihrer Oberfläche tragen sie die Erkennungszeichen vieler anderer Immunzellen – zum Beispiel von Fresszellen, dendritischen Zellen oder T-Zellen. Ein Team um Professor Stephan Mathas vom Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Forschungseinrichtung von Max Delbrück Center und Charité – Universitätsmedizin Berlin, konnte nun aufklären, wie es zu diesen Zellveränderungen kommt und was sie bewirken.
„Wir kennen zwar viele unterschiedliche molekulare Veränderungen im klassischen Hodgkin-Lymphom. Aber wir wissen wenig über Mutationen, die aktiv zur Entstehung der Tumorzellen beitragen“, sagt Stephan Mathas, Letztautor der Studie in „Nature Communications“. Gemeinsam mit Kolleg*innen der Institute für Humangenetik des Universitätsklinikums Ulm (Professor Reiner Siebert) und im polnischen Poznán (Dr. Maciej Giefing) durchforstete sein Team große Mengen an Gensequenzierungs- und Expressionsdaten und suchte nach aktivierenden Mutationen. In Zelllinien und später auch in Tumorzellen von Patient*innen fanden sie bei rund 15 Prozent der Erkrankten immer wieder die gleiche Mutation – im Transkriptionsfaktor IRF4.
Funktionsweise komplett geändert
„In diesen Fällen ist lediglich eine einzige Aminosäure ausgetauscht: Statt Cystein sitzt an der Position 99 ein Arginin“, erklärt Mathas. „Vor allem in Zusammenarbeit mit Pierre Cauchy und Constanze Bonifer aus dem britischen Birmingham zeigte sich, dass dies die Funktionsweise des Transkriptionsfaktors komplett ändert: Er kann nicht mehr an der gewohnten Stelle der DNA binden, sondern bindet stattdessen an andere DNA-Motive, die normalerweise nicht erkannt werden. Dadurch verändert sich die Steuerung der Genaktivität grundlegend.“ Das hat zur Folge, dass die Ausreifung der B-Lymphozyten zu Antikörper produzierenden Plasmazellen unterbunden wird.
Da diese Mutation recht häufig bei Hodgkin-Patient*innen vorkommt, vermuteten die Forschenden, dass die Tumorzelle davon auch profitiert. Sie generierten gesunde B-Zellen, die sowohl das „normale“ als auch das veränderte IRF4 herstellen können und analysierten, welche Gene von der Mutante stattdessen reguliert werden. War die IRF4-C99R-Mutante angeschaltet, blieb das gesunde Plasmazellprogramm stumm. Dafür wurden Gene hochreguliert, die im gesunden Zustand gar nicht angeschaltet werden können und typisch für das Hodgkin-Lymphom sind.
Falsches Andockmanöver
Das vergleichsweise sperrige Arginin der IRF4-C99R-Mutante passt nicht mehr in die üblichen Andockstellen der DNA – bindet aber gut an anderen Stellen der DNA. Dadurch kommt es zur Aktivierung krankheitsrelevanter Gene.
„Dass eine Punktmutation gleichzeitig zum Verlust als auch zur Steigerung der DNA-Bindung führen kann und damit fundamentale Folgen für die Funktion von Genen hat, war für uns eine zentrale Erkenntnis“, sagt Dr. Nikolai Schleußner, der zusammen mit Pierre Cauchy Erstautor der Studie ist. Bioinformatisch sind solche Veränderungen an DNA-Bindungsstellen schwer vorherzusagen. Deshalb sei die Kombination aus innovativer Bioinformatik von den Forschenden in Birmingham, Vancouver und am MDC-BIMSB in Berlin und experimenteller Arbeit so entscheidend gewesen.
Dass der Austausch einer einzelnen Aminosäure an diesem Transkriptionsfaktor erhebliche Konsequenzen haben kann, hatte das Team von Stephan Mathas bereits in einer internationalen Zusammenarbeit für einen anderen Fall im Januar 2023 in „Science Immunology“ publiziert. Damals hatten die Wissenschaftler*innen eine IRF4-Mutation entdeckt, die nur wenige Aminosäuren entfernt liegt, und einen schweren, bisher unbekannten Immundefekt bei Kindern hervorruft. „Wir denken, dass wir einen Mechanismus beschreiben konnten, der auch bei weiteren Erkrankungen eine wesentliche Rolle spielt“, betont Stephan Mathas.
Hemmstoffe gesucht
Die aktuelle Studie lässt es möglich erscheinen, die fehlgeleitete Aktivierung eines Transkriptionsfaktors zu blockieren. „Heute lassen sich Transkriptionsfaktoren nur schwer direkt blockieren. Aber da wir nun die Stellen kennen, an der die Mutante bindet, kann man nach Hemmstoffen suchen, die genau diese DNA-Bindungstaschen besetzen, gesunde Zellen aber unberührt lassen“, meint Stephan Mathas.
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin
Originalpublikation:
Schleussner, N., Cauchy, P., Franke, V. et al. Transcriptional reprogramming by mutated IRF4 in lymphoma. Nat Commun14, 6947 (2023). doi.org/10.1038/s41467-023-41954-8