Zellorganellen: direkt beteiligt an der Organbildung
Unser Leben wird von Interaktionen bestimmt. So wie wir Menschen miteinander in Verbindung treten, tun es unsere Zellen auch. Während der embryonalen Entwicklung entstehen durch ständige physische Interaktionen zwischen den Zellen Gewebe und Organe. Wie Fabriken oder Straßen in Städten erfüllen unzählige Organellen dabei Aufgaben innerhalb der Zellen, damit diese reibungslos funktionieren. Bis jetzt ging die Wissenschaft nicht davon aus, dass Organellen während der Embryogenese eine direkte Rolle bei der Bildung von Organen spielen, da diese in den Zellen eingeschlossen sind.
Entdeckung: Kompression der Organellen ist entscheidend für Gewebefestigkeit
Der Zellkern ist dafür bekannt, dass er Informationen in den Zellen verarbeitet und Gene in Abhängigkeit der empfangenen Signale ein- und ausschaltet. Er ist jedoch auch die größte und steifste Organelle in der Zelle und könnte daher neben seiner Funktion der Verarbeitung von Informationen auch die physische Struktur des Gewebes beeinflussen. Prof. Otger Campàs, Inhaber der Professur für Gewebedynamik und geschäftsführender Direktor des Exzellenzclusters Physik des Lebens (PoL) der TU Dresden, war besonders fasziniert von der Frage, welche Rolle die physikalischen Eigenschaften des Zellkerns bei der Gewebebildung spielen könnten. Aufbauend auf seiner vorherigen Forschungstätigkeit an der University of California, Santa Barbara, beschloss Campàs, die Rolle der Zellkerne bei der Bildung des Auges und des Gehirns von Wirbeltieren zu untersuchen: "Wir haben die Festigkeit des Gewebes in der Netzhaut von Zebrafischen gemessen und festgestellt, dass sie von der Packungsdichte der Zellkerne abhängt. Dieser Zusammenhang kam völlig unerwartet, denn man ging davon aus, dass die Gewebemechanik von den Interaktionen an der Zelloberfläche abhängt, nicht von den Organellen im Inneren der Zellen.“ Das Campàs-Team entdeckte damit einen völlig neuen Forschungszweig, der für das Verständnis, wie Zellen die Embryonalentwicklung steuern, von entscheidender Bedeutung ist.
Heute veröffentlicht: bisherige Rolle des Zellkerns auf dem Prüfstand
Frühere Pionierarbeiten seiner Gruppe hatten gezeigt, wie die Kräfte zwischen den Zellen das Gewebe zu einem flüssigen Zustand "schmelzen" können, um Embryonen zu formen (https://www.nature.com/articles/s41586-018-0479-2). Nun entdeckte das Team, dass sich Zellkerne so stark zusammenballen können, dass sie das Gewebe versteifen. Dr. Sangwoo Kim, Mitautor der Studie, erklärt: "Durch die Erweiterung des Active Foam Models haben wir eine neue Art des Übergangs von fest zu flüssig identifiziert, die von der relativen Größe der Zellkerne und Zellen bestimmt wird.“ Als die Autoren die relative Größe des Zellkerns sowohl in experimentellen als auch in theoretischen Tests untersuchten, stellten sie fest, dass die Festigkeit des Gewebes durch die Eigenschaften der Zellkerne gesteuert wird, wenn der Zellkern einen Großteil des Zellraums einnimmt. Darüber hinaus fand Campàs‘ Gruppe heraus, dass die Kerne, wenn sie so stark komprimiert sind, die Zellen in nahezu kristallinen Strukturen anordnen. "Wenn die Zellkerne beginnen, mechanisch zu interagieren“, so Campàs, „werden sowohl die Gewebemechanik als auch die zelluläre Ordnung nicht von der Zelloberfläche diktiert, sondern durch den Zellkern selbst gesteuert. Damit ist der Zellkern eine Organelle, die die Steifigkeit des gesamten Gewebes bestimmt". Ihre Studie stellt den Status quo der Zellkerne in Frage und enthüllt eine neue Rolle bei der Steuerung der Gewebeorganisation und -mechanik.
Im Auge: Eingeklemmte Zellkerne bedingen kristalline Zellanordnung bei Organbildung
Um zu untersuchen, wie sich die Größe des Zellkerns auf die Organbildung auswirkt, verwendeten die Forscher Zebrafische. Diese Wirbeltiere sind unschätzbar für die Erforschung von Entwicklungsfragen: während ihrer Embryonalstadien sind sie völlig transparent und entwickeln sich schnell, was die Visualisierung der Organbildung in 3D ermöglicht. "Wir haben strukturelle Messungen und Quantifizierungen der Zellbewegung durchgeführt, wobei wir uns auf die sich entwickelnde Netzhaut und das Gehirn des Zebrafischs konzentriert haben", erläutert die Mitautorin Dr. Rana Amini. Mit diesen Messungen konnten die Autor:innen nachweisen, dass sich die Größe von Zelle und Zellkern während der wichtigsten Entwicklungsstadien verändert und die Zellkerne dabei durch ihre Nachbarn an ihrem Platz "eingeklemmt" werden. Während dieser Transformation schieben sich die Zellkerne wie Kaffeebohnen in einem Glas zusammen. Diese Organisation könnte für das Funktionieren des Auges wichtig sein. Denn im menschlichen Auge ist die Anordnung der Zellen sehr strukturiert und oft kristallin – eine Notwendigkeit für die Verarbeitung visueller Signale. So ist es auch beim Zebrafisch. Die "kristalline" Anordnung der Zellen scheint das Ergebnis des Zusammenschiebens der Zellkerne während der Entwicklung des Auges zu sein.
Ausblick: Defekte auf Zellkernebene und die Entstehung von Krankheiten
Aber nicht nur im Auge sind die Zellkerne derart eingeklemmt: Das Team um Prof. Campàs fand den gleichen Effekt auch im Hirngewebe, was eine neue Rolle des Zellkerns bei der Steuerung der Architektur verschiedener neuronaler Gewebe offenbart. Diese Arbeit unterstreicht auch eine mögliche Rolle von Defekten in der Struktur des Zellkerns bei der Entstehung von Krankheiten, die mit einer gestörten Gewebearchitektur einhergehen. Mit diesem neuen Teil des Puzzles bringt das Campàs-Team im Dresdener Exzellenzcluster die Forschung, wie Zellen während der Embryonalentwicklung Organe aufbauen, einen großen Schritt voran.
TU Dresden
Originalpublikation:
Kim, S., Amini, R., Yen, ST. et al. A nuclear jamming transition in vertebrate organogenesis. Nat. Mater. (2024). doi.org/10.1038/s41563-024-01972-3