Wirbellose, zu denen Insekten, aber auch andere Gliederfüßer, Schnecken und Würmer gehören, machen ca. 75 % aller bisher beschriebenen Arten aus. Sie bilden die funktionellen Grundpfeiler vieler Ökosysteme, indem sie wichtige Ökosystemleistungen gewährleisten: Bestäubung, Zersetzungsprozesse, natürliche Schädlingseindämmung und vieles mehr. In den letzten Jahrzehnten wurde weltweit ein Rückgang der Wirbellosen verzeichnet, vorangetrieben durch menschlich verursachte Umweltveränderungen, insbesondere veränderte Landnutzung, die Vereinfachung von Landschaften und die Urbanisierung, die mit dem Verlust von Lebensräumen und einer verstärkten chemischen Belastung einhergeht. Doch bisher war es schwierig, die Auswirkungen dieses Rückganges messbar zu machen. „Die Manipulation oberirdischer Wirbelloser war für die Forschung aufgrund der großen funktionellen Vielfalt und Mobilität dieser Tierarten eine echte Herausforderung“, erklärt Nico Eisenhauer, Erstautor und Professor für Experimentelle Interaktionsökologie bei iDiv und an der Universität Leipzig.
Um die Auswirkungen dieser komplexen Gemeinschaften zu untersuchen, nutzte sein Forschungsteam das iDiv Ecotron, eine gemeinsame Forschungsplattform von iDiv und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Es besteht aus mehreren kontrollierbaren Mini-Ökosystemen, sogenannten EcoUnits. „Das Ecotron schlägt eine Brücke zwischen hochkontrollierten Experimenten im Kleinen und weniger gut kontrollierbaren Feldversuchen in großem Maßstab“, sagt iDiv-Ehrenmitglied Francois Buscot, Emeritus an der Universität Leipzig und bis letztes Jahr Leiter des UFZ-Departments Bodenökologie. „Es ermöglicht außerdem Experimente, bei denen Veränderungen der Biodiversität auf verschiedenen Ebenen in der Nahrungskette simuliert werden, und zwar sowohl über als auch unter der Erdoberfläche.“
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler simulierten drei Biomasse-Level oberirdisch vorkommender Wirbelloser (100 %, 36 % und 0 %) in 24 eigenständigen Grünland-Ökosystemen und testeten, welche Auswirkungen das auf verschiedene Ökosystemleistungen und die pflanzliche Vielfalt hat. Ein Anteil von 36 % Biomasse entspricht dem dramatischen Rückgang von Wirbellosen, der in den vergangenen Jahrzehnten auf deutschen Grünlandflächen verzeichnet wurde. Alle Pflanzenarten und Wirbellosen stammten von einer angrenzenden Wiese, die intensiv zur Heugewinnung genutzt wurde. Die natürlichen jahreszeitlichen Veränderungen bei den oberirdischen Artengemeinschaften simulierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, indem sie die Wirbellosen dreimal im Zeitraum von Mai bis November 2018 austauschten. „Diese Simulation der natürlichen Entwicklung von Wirbellosen-Gemeinschaften im Jahresverlauf lag mir besonders am Herzen – meines Wissens wurde das bisher so noch nicht gemacht“, fügt Nico Eisenhauer, Leiter des iDiv Ecotrons, hinzu.
Das Forschungsteam fand heraus, dass mit dem Rückgang der Biomasse von Wirbellosen eine Verringerung der Ökosystemleistungen einherging. So spielen die komplexen Gemeinschaften von Wirbellosen eine wichtige Rolle bei der natürlichen Schädlingskontrolle. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten beobachten, dass ein Rückgang bei den Wirbellosen Hand in Hand mit einem erhöhten Blattlausbefall ging. Das deutet darauf hin, dass Schädlingsbefall eine verbreitete Folge des Rückgangs der Biodiversität auf höheren trophischen Ebenen sein könnte, was zu Kaskadeneffekten für Pflanzenerträge und andere Ökosystemleistungen führen kann.
Der Verlust oberirdischer Wirbelloser führte zudem zu einer deutlich verringerten Zersetzung organischer Stoffe im Boden. „Ober- und unterirdische Prozesse sind durch die Wirbellosen, die Pflanzen und Laub fressen, miteinander verknüpft. Gehen diese Verbindungen verloren, dann verändert das den Nährstoffkreislauf und wie viel Kohlenstoff gebunden werden kann“, erklärt Ecotron-Koordinatorin Dr. Jes Hines von iDiv und der Universität Leipzig.
Die Menge von Wirbellosen-Biomasse hatte auch Einfluss auf die Pflanzen, die in den experimentellen Grünland-Ökosystemen wuchsen. In den EcoUnits, in denen die Biomasse der Wirbellosen reduziert wurde, erhöhte sich etwa die Pflanzenbiomasse, weil die Wirbellosen normalerweise mehr Pflanzenbiomasse fressen würden. „Auf diese Weise gelangt in intakten Gemeinschaften Energie von den Pflanzen zu höheren trophischen Ebenen“, erklärt Jes Hines. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten außerdem fest, dass die Konzentration von Kohlenstoff und Stickstoff im Pflanzengewebe deutlich sank, was sich wiederum auf die Qualität der Ressourcen und Nährstoffe auswirken kann, die für die biologischen Aktivitäten im Boden wichtig sind.
“In einem gesunden Ökosystem sind biotische und biogeochemische Faktoren miteinander verbunden. Unsere Studie zeigt, dass sich ein Rückgang der oberirdischen Wirbellosen negativ auf diese Verbindung auswirkt. Das kann eine Gefahr für die Nährstoffversorgung von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen und damit auch für die Artenvielfalt darstellen“, sagt Nico Eisenhauer. Trotz dieser alarmierenden Erkenntnisse könnten sich die Ökosysteme wieder erholen, wenn entsprechende Gesetzesänderungen in Kraft treten, die helfen, die Vielfalt der Wirbellosen zu schützen. So ist bereits bewiesen, dass entsprechende Gesetzgebungen zum Schutz von Gewässern zu einer Erholung der Bestände von Süßwasserinsekten geführt haben. Sofortige Schutzmaßnahmen könnten das Blatt wenden und vielfältige Gemeinschaften von Wirbellosen sowie wichtige Ökosystemfunktionen schützen.
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Originalpublikation:
Nico Eisenhauer et al.: Ecosystem consequences of invertebrate decline. Current Biology, 2023, DOI: https://doi.org/10.1016/j.cub.2023.09.012