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Die Nasen von Säugetieren sind eine Neuheit der Evolution

Schrägansicht des frühen Säugetiervorfahrens Stahleckeria potens
Schrägansicht des frühen Säugetiervorfahrens Stahleckeria potens mit reptilienartiger Schnauze Wolfgang Gerber, Paläontologische Sammlung Tübingen

Gemeinsam mit japanischen Wissenschaftlern weist Ingmar Werneburg vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen in einer neuen Studie nach, dass die für Säugetiere typische Gesichtsstruktur mit ihren prominenten Nasen evolutionär ein vergleichsweise neues Phänomen darstellt. Der hochentwickelte Geruchssinn der meisten Säugetiere hat wahrscheinlich auch die Gehirnentwicklung begünstigt. Die Studie erschien im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences”.

Im Gegensatz zu anderen Landwirbeltieren haben die meisten Säugetiere vorstehende, bewegliche Nasen, die eine erhebliche Verbesserung von Geruchs- und Tastsinn bedeuten.
„Bisher sah die Wissenschaft die Entwicklung der Gesichter von Reptilien und Säugetieren dennoch als relativ vergleichbar an”, erläutert PD Dr. Ingmar Werneburg, Ko-Autor der Studie und Forscher am Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen und fährt fort: „Nun können wir zeigen, dass die Schnauze der Säugetiere eine drastische Abweichung vom gemeinsamen Grundplan ist – und evolutionär eine neue Entwicklung.”

Werneburg und ein Wissenschaftler-Team rund um Dr. Hiroki Higashiyama von der Universität Tokio erforschten die Entwicklung jener Zellpopulationen, aus denen sich später Gesichtsstrukturen formen, die sogenannten „facial prominences“. Diese Zellen wurden markiert, ihre Bewegung und ihr Wachstum nachvollzogen und zuletzt die Nervenversorgung der Schnauzenbereiche verglichen. „Vor zwanzig Jahren wäre diese Detailtiefe technologisch noch undenkbar gewesen”, sagt Ingmar Werneburg. Die Forscher verglichen die Entwicklung bei verschiedenen Spezies, darunter auch Hühner, Ameisenigel, Geckos und Mäuse, und zogen auch fossile Präparate aus der 200 Jahre alten Paläontologischen Sammlung in Tübingen heran. Diese Sammlung beherbergt das umfassendste Konvolut früher Säugetiervorfahren weltweit.

Das Ergebnis ist eindeutig: „Der Knochen an der Spitze des Reptilienkiefers, der sogenannte Zwischenkieferknochen, verkleinerte sich, um die Nasenpartie bei Säugetieren zu bilden. Der dahinterliegende Knochen vergrößerte sich, um selbst zur Spitze des Säugetierkiefers zu werden”, erklärt der Tübinger Wissenschaftler und ergänzt: „Dies macht das ‚Schnüffeln‘ anatomisch überhaupt erst möglich – Nüstern können bewegt, Gerüche eingesogen werden. Eine Vielzahl neuer Informationen über die Umwelt steht so zur Verfügung.” Der hochentwickelte Geruchssinn der meisten Säugetiere hat so wahrscheinlich auch die Gehirnentwicklung begünstigt. Die Forschung in diesem Bereich könnte außerdem helfen, Fehlentwicklungen der menschlichen Gesichtsentwicklung, wie etwa Gaumenspalten, besser zu verstehen und rechtzeitig zu erkennen, so die Forscher in ihrer Studie.

Der Gesichtsaufbau der Säugetiere faszinierte schon den Dichter und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe. Nach seinen anatomischen Studien bei Justus Christian Loder an der Universität Jena entdeckte er am 27. März 1784 den Zwischenkieferknochen bei einem menschlichen Fötus. Die Existenz dieses Knochens nahm Goethe als Hinweis darauf, dass „ein Unterschied des Menschen vom Tier in nichts einzelnem” zu finden sei, was seinem Weltbild einer ganzheitlich gestalteten Natur entsprach. „Auch wenn die Forschungsgeschichte der Gesichtsknochen schon lang ist – unsere Ergebnisse zeigen, dass sie noch lange nicht auserzählt, die Vergleichende Anatomie unerschöpflich ist“, schließt Werneburg.

Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen


 

Originalpublikation:

Hiroki Higashiyama, Daisuke Koyabu, Tatsuya Hirasawa, Ingmar Werneburg, Shigeru Kuratani, Hiroki Kurihara (2021): Mammalian face as an evolutionary novelty. Proceedings of the National Academy of Sciences Nov 2021, 118 (44) e2111876118; DOI: 10.1073/pnas.2111876118

doi.org/10.1073/pnas.2111876118