Die Existenz von Ameisenkolonien stellte sogar den bedeutenden Naturforscher Charles Darwin vor ein Rätsel. Wie konnte die Evolution Arbeiterinnen hervorbringen, die sich nicht fortpflanzen können? Darwin nahm an, dass Arbeiterinnen den Fortpflanzungserfolg ihrer Königin steigern, und erklärte damit die sogenannte reproduktive Arbeitsteilung: Männchen liefern Spermien, die die Königinnen speichern und mit denen sie lebenslang ihre Eier befruchten. Arbeiterinnen suchen nach Nahrung, pflegen die Brut und verteidigen das Nest, pflanzen sich aber nicht fort. Dass Darwin richtiglag, ist seit den 1960er Jahren bekannt: Geschwister können genauso effektiv Genkopien an zukünftige Generationen weitergeben wie eigene Nachkommen. Wie aber eine vollständige Umgestaltung des Ameisenerbguts vonstattenging, um parallel die Baupläne für reproduktive Individuen und sterile Arbeiterinnen zu enthalten, war bisher unklar. Eine neue, internationale Studie liefert eine Reihe von Antworten auf diese fundamentale Frage.
Ein Großteil der Struktur des Ameisengenoms ist nur erklärbar, wenn man sie in Bezug zur Entstehung und zu den darauffolgenden Veränderungen der Königinnen- und Arbeiterinnenkasten setzt, die gemeinsam den „Superorganismus“ Ameisenkolonie bilden. Nachdem die Ameisen vor mehr als 150 Millionen Jahren entstanden waren, veränderte die natürliche Selektion ihre Genome weiter. Das führte zu einer Reihe evolutionärer Innovationen wie die Vervielfältigung der Koloniegröße oder immer extremere Unterschiede zwischen den Königinnen und Arbeiterinnen.
Auf genetischer Ebene bedeutet das: Nachdem sich das ursprüngliche Ameisengenom in der frühen Kreidezeit evolutionär stabilisiert hatte, wurden dessen Gene in ungewöhnlich starkem Ausmaß neu gemischt. Diese Neuordnung war in den heute artenreichsten Ameisenunterfamilien besonders umfangreich. Gleichzeitig blieben kleinere Gruppen verknüpfter Gene mehr als 100 Millionen Jahre von dieser Neuordnung ausgeschlossen, vor allem solche, die die reproduktive Arbeitsteilung zwischen Königinnen und Arbeiterinnen vermitteln. Das verdeutlicht, wie grundlegend und entscheidend eine gut funktionierende Kastendifferenzierung bei Ameisen war und ist, so ein Fazit des Teams.
Die Ergebnisse der interdisziplinären Forschung, die nun in der Fachzeitschrift „Cell“ veröffentlicht wurden, beruhen auf einer fast zehn Jahre währenden Zusammenarbeit von gut 50 internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus mehr als 25 Ländern. Die Studie wurde von Forschern aus Deutschland (Dr. Lukas Schrader/Universität Münster), Dänemark (Prof. Dr. Jacobus Boomsma/Universität Kopenhagen) und China (Prof. Dr. Guojie Zhang/Universität Zhejiang, Hangzhou, China) aus koordiniert.
Das Team („Global Ant Genomics Alliance“) sequenzierte und verglich das Erbgut (Genome) von mehr als 140 Ameisenarten und deckte dabei einen Großteil der biologischen Vielfalt dieser Insekten ab. Dazu gehörten Ameisen mit regulären Kolonien, beispielsweise Treiberameisen mit mehreren Millionen Arbeiterinnen pro Kolonie und Arten, bei denen Königinnen mehr als hundertmal größer sind als die kleinsten Arbeiterinnen, aber auch Arten ohne Königinnen, deren Arbeiterinnen sich selbst klonen, oder Sozialparasiten, die gänzliche ohne Arbeiterinnen auskommen. „Die Veröffentlichung ist ein Meilenstein für unser Verständnis der molekularen und genetischen Grundlagen von Ameisen und vermutlich auch anderer sozialer Insekten wie Honigbienen“, betont Lukas Schrader.
Die Forscherinnen und Forscher nutzten zahlreiche biologische Methoden wie Genomsequenzierungen, Genexpressionsanalysen, Analysen von phänotypischen („sichtbaren“) Merkmalen, funktionellen Analysen einzelner Gene, pharmakologischer Manipulation und morphologischen Untersuchungen.
Universität Münster
Originalpublikation:
Joel Vizueta et al. (2025): Adaptive radiation and social evolution of the ants. Cell 188, 1–21, September 4; DOI: https://doi.org/10.1016/j.cell.2025.05.030