Aus Höhlen in Nordostitalien stammen die Milchzähne, die vier Kinder vor 40.000 bis 70.000 Jahren beim Zahnwechsel verloren hatten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Frankfurt Isotope and Element Research Center (FIERCE) am Institut für Geowissenschaften der Goethe-Universität untersuchten sie mit chemischen Methoden. "Wir betteten die Zähne in Harz ein und schnitten sie dann in hauchdünne Schichten - ein für solch seltene Funde äußerst ungewöhnliches Vorgehen, zumal wir die kostbaren Proben hinterher wieder zusammensetzen mussten“, erklärt Wolfgang Müller, Leiter der Arbeitsgruppe. Jede dieser Lagen ist höchstens 150 Mikrometer dünn, das entspricht etwa der Dicke von zwei Blatt Papier. Anschließend trug ein spezieller Laser das Zahnmaterial ab. Dieses Material untersuchte Müllers Arbeitsgruppe mit moderner Massenspektrometrie auf den Gehalt der natürlichen Elemente Strontium und Kalzium: „Beides ist in Zähnen und Knochen enthalten“, erklärt Müller, „aber Strontium als natürliche Unreinheit von Kalzium scheidet der Körper nach und nach aus, sodass uns das Verhältnis von Strontium zu Kalzium (Sr/Ca) Hinweise auf die Nahrung gibt“. Bei Muttermilch ist dieses Verhältnis anders als etwa bei Körnern, Gemüse, Fleisch oder tierischer Milch.
Der Zahnschmelz bildet tägliche Wachstumsringe
Das Faszinierende: Jeden Tag lagert sich eine messbare Schicht Zahnschmelz ab, sodass jeder Zahn wie die Wachstumsringe eines Baums die Lebenstage widerspiegelt. Schon in der Zahnanlage im Ungeborenen zeigt eine klare Linie den Tag der Geburt an, die „Neonatallinie“. Jeder weitere Lebenstag bei gestillten Kindern ist geprägt von der Kalzium-reichen, Strontium-ärmeren Muttermilch – oder eben mit dem Beginn des Abstillens von höheren Konzentrationen an Strontium. Dank ihrer feinaufgelösten Methoden konnten die Arbeitsgruppen diesen Zeitpunkt anhand der Milchzähne sehr genau auf 3,8 bis 5,3 Monate - je nach Individuum - datieren.
Zähne erzählen auf den Tag genau von Geburt und Ortswechsel
Ein Vergleich mit in den jeweiligen Höhlen gefundenen Nagetierzähnen zeigt zudem, wie lange die Kinder oder ihre Mütter in dieser Umgebung lebten. „Das Strontium-Isotopen-Verhältnis (87Sr/86Sr) liefert uns Informationen über das Gestein und den Boden der Umgebung, in der die Menschen und Nagetiere lebten“, so Müller. Die Zähne erzählen damit Lebensgeschichten: So verbrachte eine der Mütter das Ende der Schwangerschaft sowie die ersten 25 Tage nach Geburt nicht am Fundort, denn die Isotopenzusammensetzung des Milchzahns berichtet von einer anderen Umgebung. Diese Mutter und ihr Kind zählen zu den modernen Menschen des Paläolithikums (40.000 Jahre) und unterscheiden sich deutlich von den früheren Neanderthalern (50.000 Jahre) aus derselben Höhle: Der jüngere Zahn weist – verglichen mit einem Neanderthaler-Zahn vom selben Fundort - auf unterschiedliche Nahrung und größere Migration in einem kälteren Klima hin. Alle drei Neanderthaler-Mütter und -Kinder lebten hingegen die ganze Zeit in derselben Region, waren also anders als bisher vermutet, sehr ortstreu.
Die Erkenntnisse des internationalen Forschungsteams aus Anthropologen, Archäologen, Chemikern, Physikern und Geologen aus den untersuchten vier Milchzähnen weisen darauf hin, dass spätes Abstillen nicht für das Aussterben der Neanderthaler verantwortlich ist. Die täglich angelagerten Zahnschmelzschichten ähneln chemisch jener heutiger Babys – ein Hinweis darauf, dass die Ernährung und Entwicklung erstaunlich ähnlich verliefen.
Universität Frankfurt
Originalpublikation:
Alessia Nava, Federico Lugli, Matteo Romandini, Federica Badino, David Evans, Angela H. Helbling, Gregorio Oxilia, Simona Arrighi, Eugenio Bortolini, Davide Delpiano, Rossella Duches, Carla Figus, Alessandra Livraghi, Giulia Marciani, Sara Silvestrini, Anna Cipriani, Tommaso Giovanardi, Roberta Pini, Claudio Tuniz, Federico Bernardini, Irene Dori, Alfredo Coppa, Emanuela Cristiani, Christopher Dean, Luca Bondioli, Marco Peresani, Wolfgang Müller, Stefano Benazzi: Early life of Neanderthals. Proceedings of the National Academy of Sciences Oct 2020, DOI: 10.1073/pnas.2011765117