Der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) gilt aufgrund seiner Beiträge zu den geologischen und biologischen Wissenschaften als einer der weltweit bedeutendsten Naturwissenschaftler. Sein einflussreiches Werk „On the Origin of Species“ (1859) bildet mit seiner streng wissenschaftlichen Erklärung der Vielfalt des Lebens die Grundlage der modernen Evolutionsbiologie. Darwin kam zu dem Schluss, dass sich die Arten durch natürliche Auslese entwickeln: Gut angepasste Organismen überleben, andere nicht.
Dass die meisten genetischen Veränderungen im Laufe der Evolution dem Individuum jedoch keine direkten Vor- oder Nachteile bieten, sondern neutral sind, schlug Ende der 1960er Jahre der japanische Genetiker Motoo Kimura (1924–1994) vor. Laut seiner „Neutrale[n] Theorie der molekularen Evolution“, erstmals 1968 veröffentlicht, entsteht der größte Teil der genetischen Variation innerhalb und zwischen den Arten durch zufällige Fluktuationen neutraler Mutationen.
Stehen diese beiden Theorien nun im Widerspruch zueinander, oder lassen sie sich miteinander vereinbaren? Dies ist eine der Fragen, die Forscher der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, der britischen Universitäten Durham und East Anglia sowie des Hessischen LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) in einer Literaturübersicht diskutieren. In ihrem in der Zeitschrift „Biological Reviews“ veröffentlichten Beitrag listen sie mehrere Aspekte der Neutralen Theorie auf, die unterschiedlich interpretiert werden können. Diese Unklarheiten haben nach Ansicht der Autoren die jahrzehntelange Debatte zwischen ihren Befürwortern („Neutralisten“) und Gegnern („Selektionisten“) getrübt.
Eine dieser Unklarheiten, und wohl die umstrittenste, betrifft die Auswirkungen der Neutralen Theorie auf die Entwicklung der sichtbaren Merkmale eines Organismus, des so genannten Phänotyps. Bedeuten zahlreiche neutrale Mutationen auf genomischer Ebene, dass phänotypische Unterschiede innerhalb und zwischen Arten ebenfalls neutral sind und nicht, wie von Darwin angenommen, das Ergebnis natürlicher Selektion?
Selbst innerhalb der Gruppe der „Neutralisten“ können die Meinungen zu diesem Thema auseinandergehen, wie die Autoren der Studie betonen. So vertreten einige ihrer Anhänger*innen die Auffassung, dass neutrale Mutationen hauptsächlich im nicht-kodierenden Teil des Genoms (zum Beispiel in der sogenannten „Junk-DNA“) auftreten, der keine Auswirkungen auf das Aussehen oder die Funktion eines Organismus hat. Andere wiederum vermuten, dass neutrale Mutationen auch im funktionellen Teil des Genoms (zum Beispiel in den Genen) vorkommen und daher phänotypische Unterschiede verursachen.
„Die erste Position ist voll und ganz mit Darwins Konzept der Artbildung durch natürliche Selektion vereinbar, während die zweite mitunter eine alternative Erklärung bietet“, erklärt der Hauptautor der Studie Dr. Menno de Jong vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum. „Wir bezeichnen diese unterschiedlichen Interpretationen als die enge und die erweiterte Version der Neutralen Theorie, weil im zweiten Fall die Neutrale Theorie auf den Phänotyp ausgedehnt wird. Kimura vertrat ursprünglich die enge Version, akzeptierte aber schließlich die erweiterte Version.“ Selbst Darwin schloss nicht aus – mehr als 100 Jahre bevor Kimura die Neutrale Theorie vorschlug –, dass Variationen, die weder nützlich noch schädlich seien („On the Origin of Species“, Kapitel 4), sich im Laufe der Zeit als sichtbare Unterschiede innerhalb und zwischen den Arten manifestieren könnten.
De Jong und seine Mitautoren betonen, dass „Neutralisten“ die Idee der Evolution durch Selektion nicht ablehnen. „Neutralisten stellen zum Beispiel nicht in Frage, dass Giraffen ihre Flecken durch natürliche Auslese erhalten haben. Sie plädieren lediglich für Neutralität, wenn es um subtilere Unterschiede geht, wie etwa die genaue Form und Größe der Flecken, die die verschiedenen Giraffenarten und -unterarten kennzeichnen“, sagt De Jong. „Befürworter der Selektionstheorie und der engen Version der Neutralen Theorie gehen davon aus, dass sich jedes Fellmuster so entwickelt hat, dass es in die jeweilige regionale Umgebung passt, während Neutralisten, die an der erweiterten Version der Theorie festhalten, argumentieren, dass die genauen Details der Fellfärbung keine wesentlichen Überlebensvorteile bieten.“
„Mit unserer Literaturübersicht wollen wir zu einer konstruktiveren Debatte zwischen den Befürwortern und Gegnern der Neutralen Theorie beitragen“, sagt Mitautor Axel Janke, Professor für Vergleichende Genomik bei Senckenberg und LOEWE-TBG. „Als die ‚Neutrale Theorie der molekularen Evolution‘ in den späten 1960er Jahren begründet wurde, gab es nur eine Handvoll Daten zu Proteinen. Inzwischen sind wir in der Ära der Genomik angekommen, die uns völlig neue Einblicke in die Evolution ermöglicht. Zahlreiche Genomsequenzierungsinitiativen weltweit tragen dazu bei, die Geheimnisse der Evolution zu entschlüsseln und ein besseres Verständnis der Artbildung und der zugrunde liegenden Prozesse zu erlangen.“
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Originalpublikation:
Menno J. de Jong, Cock van Oosterhout, A. Rus Hoelzel, Axel Janke: “Moderating the neutralist–selectionist debate: exactly which propositions are we debating, and which arguments are valid?”, Biological Reviews, https://doi.org/10.1111/brv.13010