Kabelbakterien können zwar in der Natur nachgewiesen, aber noch nicht isoliert im Labor vermehrt werden. Ihr wichtigster Vertreter trägt daher den vorläufigen Namen Candidatus Electronema. Kabelbakterien bilden bis zu fünf Zentimeter lange Ketten aus Zehntausenden von Bakterienzellen. Diese sind durch stromleitende Proteinfasern in ihrer Zellhülle verbunden. Ihre Kettenform ermöglicht dem mehrzelligen "Körper" der Kabelbakterien eine einzigartige Arbeitsteilung: Während in unserem Körper jede einzelne Zelle „essen“ (Nahrung oxidieren) und „atmen“ (Sauerstoff reduzieren) muss, teilen Kabelbakterien diese lebenserhaltende Redoxreaktion auf. Tausende von Zellen jedes einzelnen Kabels leben im tieferen Teil des Sediments, wo es zwar reichlich Sulfid, aber keinen Sauerstoff gibt - dieser ist Zentimeter entfernt an der Sedimentoberfläche. Dennoch können die Kabelbakterien das Sulfid zu Sulfat oxidieren, indem sie die dabei anfallenden Elektronen über die stromleitenden Fasern auf den Sauerstoff am anderen Ende des Kabels übertragen. Dank ihrer Zentimeter-langen Stromleiter können Kabelbakterien Elektronen vom Ort der Oxidation (im Sediment) zum Sauerstoff (an der Sedimentoberfläche) hin fließen lassen - und damit als einzige Organismen das Sulfid in einer Zone verbrauchen, wo es keinen Sauerstoff gibt: ein großer Vorteil gegenüber konkurrierenden Mikroorganismen.
Kabelbakterien reduzieren Schadstoffe und Treibhausgase
Kabelbakterien produzieren im Sediment nicht nur Sulfat, sondern stellen durch ihre Stromleiter eine Art Verlängerungskabel als indirekte Verbindung zum Sauerstoff an der Sedimentoberfläche zur Verfügung. Damit stimulieren sie mikrobielle Aktivitäten, die sonst nur mit Sauerstoff möglich sind, und Populationen, die dort sonst nicht leben könnten. So finden sich Kabelbakterien häufig in Gewässern, die mit Kohlenwasserstoffen belastetet sind – etwa nach Benzin- oder Ölkontamination. Die Aktivität der Kabelbakterien kann den Schadstoffabbau erheblich ankurbeln: Sie steigern den Abbau aromatischer Kohlenwasserstoffe oder organischer Stoffe wie Faulschlamm in den Sedimenten überdüngter Seen. Es gibt bereits Ideen, Kabelbakterien gezielt zur Wiederaufarbeitung kontaminierter Standorte zu nutzen. Beispielsweise lässt sich die Wirkung der Kabelbakterien gezielt durch Elektroden im Sediment stimulieren. Kabelbakterien könnten auch helfen, Treibhausgase zu verringern. So entsteht in überfluteten Reisfeldern jährlich eine große Menge des klimaschädlichen Methans. Kabelbakterien leben im Wurzelbereich von Reispflanzen und können dort die Methanbildung verringern. Versuche im Gewächshaus zeigen, dass sich nach der Zugabe von Candidatus Electronema zum Boden die Methanemissionen um über 90 Prozent verringern. Vermutlich zapfen die Bakterien die Sauerstoffversorgung der Reiswurzel an. So ermöglichen die Kabelbakterien ein ständiges Recycling von Sulfat im Boden. Dies verhindert die Bildung von Methan. Es gilt nun herauszufinden, wie Kabelbakterien im Reisanbau oder etwa in Mooren gezielt stimuliert werden können, um den Methanausstoß zu verringern.
Biokabel statt Elektroschrott?
Die Stromleitung in den Proteinfasern der Kabelbakterien ähnelt der eines metallischen Kabels. Damit sind sie für eine auf Biomaterialien basierende Elektronik äußerst interessant. Weltweit wird nur ein Fünftel der jährlich über 50 Millionen Tonnen Elektroschrott recycelt. Biologisch abbaubare Stromleiter könnten einen wichtigen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten. Die leitfähigen Strukturen der Kabelbakterien wurden bereits patentiert, doch von einer kommerziellen Umsetzung ist die Entwicklung noch weit entfernt.
Die spanische Künstlerin Anna Pasco Bolta nutzt die elektrische Leitfähigkeit der Kabelbakterien bereits in ihren Projekten: Mit Electronema-Filamenten verbindet sie Mikrofon und Verstärker für ihre über Kabelbakterien gelesene Gedichte. Mittlerweile sind zwölf Kabelbakterien-Arten beschrieben. Wie Candidatus Electronema können sie noch nicht als Reinkulturen im Labor vermehrt werden, aber dank genauer Genomdaten sind sie sehr gut charakterisiert. Vermutlich über 99 Prozent der Mikroben unserer Welt wurde noch nicht im Labor isoliert und beschrieben; viele spannende Eigenschaften dieser unsichtbaren Lebenswelt bleiben uns daher bisher verborgen.
Anja Störiko (VAAM)
Weitere Informationen: http://mikrobe-des-jahres.de