Menschen haben das System Erde massiv verändert. Die Treibhausgasemissionen aus menschlichen Aktivitäten haben die globale Durchschnittstemperatur um mehr als 1,1 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit steigen lassen. Und in jedem Jahr kommen Kohlendioxid, Methan und andere Treibhausgase im Gegenwert von umgerechnet mehr als 55 Gigatonnen Kohlendioxid hinzu. Diese beispiellose Klimakrise hat Folgen für den ganzen Planeten – die Verteilung von Niederschlägen verschiebt sich, der globale Meeresspiegel steigt, Extremwetterereignisse nehmen zu, die Ozeane versauern immer mehr und Sauerstoffmangelzonen breiten sich aus.
„Die von ihm selbst hervorgerufene Klimakrise ist die wahrscheinlich größte Herausforderung, der sich Homo sapiens in seiner 300.000-jährigen Geschichte stellen muss“, sagt Prof. Dr. Hans-Otto Pörtner, Leiter der Sektion Integrative Ökophysiologie am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung. „Zeitgleich vollzieht sich jedoch eine zweite, ebenso bedrohliche Krise, die häufig etwas untergeht – der drastische Verlust von Tier- und Pflanzenarten auf dem ganzen Planeten. Beide Katastrophen – Klimakrise und Biodiversitätskrise – bedingen und verstärken sich gegenseitig und sollten deshalb keinesfalls isoliert betrachtet werden. In unserer Übersichtsstudie zeigen wir deshalb detailliert die Zusammenhänge von Biodiversitäts- und Klimakrise auf und schlagen Lösungen vor, mit denen die Menschheit beiden Katastrophen begegnen und die schon heute drastischen sozialen Folgen abmildern kann.“
An der nun im Fachmagazin Science erschienenen Studie haben 18 internationale Expertinnen und Experten mitgearbeitet. Sie ist das Ergebnis eines im Dezember 2020 virtuell abgehaltenen wissenschaftlichen Workshops, an dem 62 Forschende aus 35 Ländern teilgenommen hatten. Der Workshop wurde dabei von zwei Organisationen der Vereinten Nationen veranstaltet, der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) und dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), beide auch bekannt als „Weltbiodiversitätsrat“ und „Weltklimarat“. Hans-Otto Pörtner hat als Leitautor an mehreren Sachstands- und Sonderberichten des IPCC mitgewirkt und ist seit dem Jahr 2015 Ko-Vorsitzender der Arbeitsgruppe II des IPCC, die den Kenntnisstand zu den Folgen der globalen Erwärmung bewertet.
In ihrer Übersichtsstudie beschreiben die Forschenden den rasant fortschreitenden Artenverlust mit eindrücklichen Zahlen. Demnach haben menschliche Aktivitäten rund 75 Prozent der Landoberfläche und 66 Prozent der Ozeangebiete der Erde modifiziert. Und das so stark, dass heute unter anderem rund 80 Prozent der Biomasse natürlich vorkommender Säugetiere sowie 50 Prozent der Pflanzenbiomasse verloren sind und mehr Arten vom Aussterben bedroht sind, als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Die Erwärmung und die Zerstörung natürlicher Lebensräume führen dabei nicht nur zu Artenschwund, sondern auch zu einer Reduzierung der Speicherkapazitäten von Organismen, Böden und Sedimenten für Kohlenstoff, was wiederum die Klimakrise verschärft.
Weil Organismen bestimmte Toleranzfenster für Umweltbedingungen wie etwa die Temperatur haben, verschieben sich infolge der globalen Erwärmung weltweit die Lebensräume der Arten. Mobile Spezies folgen ihrem Temperaturfenster und wandern in Richtung der Pole, in größere Höhen (Gebirge an Land) oder in größere Tiefen (Ozeane). Ortsgebundene Organismen wie etwa Korallen können ihren Lebensraum nur sehr langsam und über Generationen hinweg verschieben: Sie stecken somit in der Temperaturfalle, so dass große Korallenriffe auf lange Sicht ganz verschwinden könnten. Und auch den mobilen Arten droht auf Berggipfeln, an den Rändern von Landmassen und Inseln, an den Polen und in der Tiefsee die klimatische Sackgasse, weil sich hier kein besiedelbarer Lebensraum mehr mit passenden Temperaturen findet.
Um den Krisen zu begegnen, schlagen die Forschenden ein ambitioniertes Aktionspaket aus Emissionsreduktion, Renaturierungs- und Schutzmaßnahmen, intelligentem Management von Nutzflächen sowie institutionsübergreifenden Kompetenzen der politischen Akteure vor. „Ganz oben auf der Prioritätenliste steht natürlich nach wie vor die massive Reduktion der Treibhausgasemissionen und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels“, sagt Hans-Otto Pörtner. „Darüber hinaus müssen mindestens 30 Prozent der Land-, Süßwasser- und Ozeanflächen unter Schutz gestellt oder renaturiert werden, um die größten Biodiversitätsverluste zu vermeiden und die Funktionsfähigkeit der natürlichen Ökosysteme zu erhalten. Das hilft uns dann auch im Kampf gegen den Klimawandel. So könnte schon eine weitgehende Renaturierung von lediglich 15 Prozent der zu Nutzland umgeformten Flächen ausreichen, um 60 Prozent der noch zu erwartenden Aussterbeereignisse zu verhindern. Zudem könnten damit bis zu 300 Gigatonnen Kohlendioxid langfristig aus der Atmosphäre entnommen und gebunden werden, das entspricht 12 Prozent allen seit Beginn des Industriezeitalters ausgestoßenen Kohlenstoffs.“
Weiterhin schlagen die Studienautorinnen und -autoren einen modernen Ansatz im Flächenmanagement vor. Schutzgebiete sollten demnach nicht als isolierte Rettungsinseln für Artenvielfalt begriffen werden. Vielmehr müssen sie Teil eines weltumspannenden Netzwerks zu Wasser und zu Land sein, welches Gebiete mit naturnaher Wildnis über Migrationskorridore für die Arten miteinander verbindet. Dabei müssen hier vor allem indigene Gesellschaften in das Schutzmanagement eingebunden und staatlich unterstützt werden. Für von Landwirtschaft und Fischerei intensiv genutzte Flächen sollte wiederum die Nachhaltigkeit im Fokus stehen. Mit modernen Konzepten müssen hier einerseits eine ressourcenschonende Nutzung und andererseits eine sichere Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln sichergestellt werden. Dabei sollten Konzepte bevorzugt werden, die zu einer verstärkten Kohlendioxidaufnahme und Kohlenstoffbindung in Biomasse und Böden führen. Zudem müssen hier auch ausreichend Refugien für Arten geschaffen werden, die ihrerseits den Ertrag erst möglich machen – ein Beispiel sind Insekten, die Obstbäume bestäuben. In Städten schließlich sollte vor allem die Verbesserung der Kohlendioxid-Bilanz absolute Priorität haben.
„All das funktioniert in Zukunft nur, wenn bei allen beschlossenen Maßnahmen Klimaschutz, Biodiversitätserhalt und soziale Vorteile für die lokale Bevölkerung zusammengedacht werden“, sagt Hans-Otto Pörtner. „Die für 2030 und 2050 geplanten neuen globalen Biodiversitäts-, Klima- und Nachhaltigkeitsziele werden wahrscheinlich scheitern, wenn die einzelnen Institutionen nicht verstärkt fachübergreifend zusammenarbeiten. Ein Beispiel sind die separaten UN-Konventionen zu Biodiversität und Klimaschutz, also das Übereinkommen über die biologische Vielfalt und das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen. Beide internationalen Abkommen betrachten die zwei Krisen zu isoliert und sind noch dazu fokussiert auf die nationalen Interessen der Vertragsstaaten. Hier brauchen wir dringend einen ganzheitlichen Ansatz, wenn die Ziele erreicht werden sollen.“
AWI
Originalpublikation:
H.-O. Pörtner, R. J. Scholes, A. Arneth, D.K.A. Barnes, M.T. Burrows, S.E. Diamond,
C.M. Duarte, W. Kiessling, P. Leadley, S. Managi, P. McElwee, G. Midgley, H.T. Ngo, D.
Obura, U. Pascual, M. Sankaran, Y.J. Shin, A.L. Val: Overcoming the coupled climate and biodiversity crises and their societal impacts. Science (2023). DOI: https://doi.org/10.1126/science.abl4881