VBIO

Tierversuche in der biomedizinischen Forschung

Der Standpunkt des VBIO

Der VBIO hat im Juni 2017 seine "Grundsatzposition Wissenschaftliche Tierversuche" veröffentlicht. Diese wird hier für den speziellen Bereich der biomedizinischen Forschung erweitert.

Das Leiden von Tieren lässt kaum einen Menschen unberührt. Deshalb befinden sich Wissenschaftler, die für Verbesserungen der Gesundheit von Mensch und Tier forschen, in einem besonderen Dilemma: Auf der einen Seite werden in wissenschaftlichen Versuchen Tiere verwendet, die dadurch Schmerzen, Leiden und Schäden erfahren können. Auf der anderen Seite können die durch Tierversuche erreichbaren Erkenntnisse Menschen und Tieren helfen. Auch wenn Tierversuche nicht für die Beantwortung aller biomedizinischen Fragestellungen erforderlich oder geeignet sind, so tragen sie doch entscheidend zu einem verbesserten Verständnis von Erkrankungen bei. Auf dieser Basis werden neue Medikamente und Impfstoffe, innovative chirurgische Techniken, verträglichere Strahlentherapien und neue diagnostische Verfahren entwickelt. Dabei ist entscheidend, dass durch Grundlagenforschung nicht zuletzt mit Hilfe von Tierversuchen ein genaues Verständnis der grundlegenden, biologischen Prozesse gewonnen werden kann, welches die Erforschung vieler Krankheitsprozesse und die Entwicklung von Therapien erst möglich macht.

Neue Therapien dürfen laut der Helsinki Deklaration[1] am Menschen nur dann angewandt werden, wenn deren Sicherheit gewährleistet ist. Da nur am ganzen Organismus die Wirkung einschließlich der Nebenwirkungen umfassend untersucht werden kann, schließt dies Tierversuche im Vorfeld implizit mit ein.

Trotz aller medizinischer Fortschritte gibt es viele Erkrankungen, für die es bisher keine befriedigenden Therapien gibt. Der VBIO und seine im Bereich der Biomedizinischen Forschung tätigen Mitgliedsgesellschaften sind deshalb der Überzeugung, dass Tierversuche zur Entwicklung zukünftiger Therapien und zum grundsätzlichen Verständnis von Lebensvorgängen entscheidend beitragen.

Den wissenschaftlichen Notwendigkeiten stehen ethische Bedenken gegenüber. Daher werden alternative Testmethoden bereits seit Jahren vielfältig und in großem Umfang angewendet und neu entwickelt. Ziel ist es, Tierversuche zu vermindern oder zu ersetzen. Trotz großer Forschungsanstrengungen bei der Entwicklung alternativer Methoden können Tierversuche derzeit noch nicht vollständig ersetzt werden. Ohne Tierversuche würde zum jetzigen Zeitpunkt und in naher Zukunft ein bedeutendes Standbein der Grundlagen- und angewandten Forschung fehlen. Dies hätte einen weitgehenden Stillstand in der Entwicklung von neuen Therapien zur Folge. Die immer wieder geforderte komplette Abschaffung von Tierversuchen in der biomedizinischen Forschung hätte weitreichende Konsequenzen und ist aus Sicht des VBIO auf absehbare Zeit ethisch nicht vertretbar.

Der VBIO teilt daher die Einschätzung der Richtlinie 2010/63/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2010 zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere:

„Obwohl es erstrebenswert ist, den Einsatz lebender Tiere in Verfahren möglichst durch andere Methoden zu ersetzen, bei denen keine lebenden Tiere verwendet werden, ist der Einsatz lebender Tiere weiterhin notwendig, um die Gesundheit von Mensch und Tier sowie die Umwelt zu schützen“.

Vor diesem Hintergrund hält der VBIO die streng regulierte Durchführung von Tierversuchen in der Biomedizin wie sie im Tierschutzgesetz geregelt ist für ethisch vertretbar und aus wissenschaftlichen und medizinischen Gründen für sinnvoll und begründet dies wie folgt:


1. Strenge Regulation

Vor jedem Tierversuch steht eine strenge Abfolge von Planung, Beantragung der Tierhaltung und Genehmigung des Tierversuchs.

Einrichtungen, die Wirbeltiere und Kopffüssler für die Forschung halten, benötigen eine behördliche Genehmigung
Wer Tiere zu wissenschaftlichen Zwecken hält oder züchtet, benötigt eine Erlaubnis nach §11 TierSchG. Das gilt für alle Formen der Tiernutzung zu wissenschaftlichen Zwecken, d.h. für Tierversuche, aber auch für Tiere, die zum Zweck der Organ- oder Gewebegewinnung (z.B. für Zellkulturverfahren) gezüchtet, gehalten und schmerzlos getötet werden. Diese Einrichtungen unterliegen den ständigen Kontrollen durch Tierschutzbeauftragte und Veterinärämter.

Tierversuche sind genehmigungspflichtig
Tierversuche in der biomedizinischen Forschung dürfen nur nach behördlicher Genehmigung durchgeführt werden und unterliegen ebenfalls den ständigen Kontrollen durch die zuständigen Behörden.

Die Anzahl der Tiere ist begrenzt
Die Anzahl der Tiere, die in einem bestimmten Versuch verwendet werden darf, beschränkt sich auf die minimale Zahl, die erforderlich ist, um statistisch gesicherte Daten zu erhalten. Dies ist im Antragsverfahren zu einem Tierversuch anhand einer sogenannten “biometrischen Versuchsplanung” darzulegen. Sollten in einem genehmigten Tierversuchsvorhaben Änderungen erforderlich sein, dann müssen sie der Behörde angezeigt und von dieser genehmigt werden.

Nur speziell ausgebildetes Personal darf Tierversuche durchführen
Die Durchführung von Tierversuchen darf gemäß Tierschutzgesetz nur durch Tierärzte und Mediziner oder anderweitig für die Durchführung von Tierversuchen ausgebildetes und geschultes Personal erfolgen. Im Tierversuchsantrag sind die vom Gesetzgeber geforderten Kenntnisse und Fähigkeiten aller Personen, die im Tierversuch mitarbeiten, vorab nachzuweisen. Nur Personen, die im Tierversuchsantrag genannt werden, dürfen in diesem mitarbeiten.

Auch das Töten von Tieren, um Zellen zu isolieren, die in Zellkulturen verwendet werden, setzt eine fachliche sowie wissenschaftlich-ethische Schulung voraus und darf nur nach erlaubten Methoden erfolgen. Der Gesetzgeber fordert definierte Kenntnisse und Fähigkeiten

Jeder genehmigte Tierversuch ist Ergebnis einer sorgfältigen Güterabwägung
Versuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern dürfen nach dem Tierschutzgesetz (§ 7a (2) Satz 3) nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Tiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Die ethische Bewertung ist Teil des Genehmigungsprozesses. Die Wissenschaftler müssen wissenschaftlich begründen, dass der zu erwartende Nutzen die Belastung des Tieres rechtfertigt. Das gesetzlich festgelegte 3R Prinzip (replace, reduce, refine) ersetzt, reduziert und verfeinert  Tierversuche zusätzlich.


2. Ethik

Tierversuche in der Biomedizin sind ethisch vertretbar, wenn sie zum Ziel haben, das Wissen um biologische Vorgänge zu vermehren (Grundlagenforschung) oder substanziell zur Entwicklung von Therapien oder Medikamenten beizutragen. Das grundlegende Verständnis darüber, wie ein Organismus funktioniert, ist die Voraussetzung für die Entwicklung medizinische Anwendungen. Erst wenn bekannt ist, welche Funktionen beispielsweise ein gesundes Herz erfüllt und welche Ursachen zu krankhaften Veränderungen dieser Funktion führen, kann man eine fundierte Therapie für diese Erkrankung  entwickeln.

Ethik beschäftigt sich u.a. mit Fragen wie "Was sollen wir tun?", wie es Immanuel Kant kürzest möglich auf den Punkt gebracht hat. Allerdings kommen ethische Abwägungen je nach ihren Grundprämissen zu sehr unterschiedlichen Urteilen[2]. Sie reichen vom Primat des Menschen (Descartes; Anthropozentrismus) bis hin zur Einschätzung, dass Tiere und Menschen dieselben Rechte haben (Biozentrismus). Die Debatte schließt auch das Spannungsfeld ein, ob das Leiden von kranken Menschen, das durch das Unterlassen von Tierversuchen in der medizinischen Forschung nicht geheilt oder zumindest gelindert wurde, gerechtfertigt ist. Letztlich unterliegen die Antworten auf ethische Fragen einem stetigen Wandel und sind von äußeren Umständen und persönlichen Werten geprägt. Die Bundesrepublik trägt dieser Tatsache dadurch Rechnung, dass beispielsweise der rein anthropozentrische Standpunkt von Descartes heute nicht mehr vertreten wird. Dementsprechend wurde 2002 der Schutz von Tieren in das Grundgesetz integriert und 2013 das Tierschutzgesetz durch Umsetzung der EU Richtlinie 2010/63 deutlich verbessert.

Bei der Bewertung des Leidens der Tiere durch den Menschen wird häufig übersehen, dass über das tatsächliche Leiden der Tiere oft nur Mutmaßungen angestellt werden können, die sich oft mehr an den Wertvorstellungen des Betrachters als am Tierwohl orientieren[3]. Beispielsweise werden immer wieder aus dem Zusammenhang gerissene Bilder von Tierversuchen gezeigt, bei denen Elektroden in das Gehirn von Affen implantiert wurden. Solche Tierversuche werden von vielen als extrem belastend für das Tier und grausam angesehen. Nicht erwähnt wird, dass auch beim Menschen für die Therapie bestimmter Erkrankungen Elektroden dauerhaft in das Gehirn implantiert werden. Dies wird von den Patienten als sehr wenig bis gar nicht belastend empfunden. Daher sind Forschungsaktivitäten, die das Ziel haben, objektive Kriterien für Einschätzung der Belastung von Tieren in Tierversuchen entwickeln, sehr zu begrüßen.

Biomedizinische Forschung auch mit Tieren dient zwar primär dem Wohle des Menschen. Sie dient nachgeordnet auch dem Wohl der Tiere, wenn Therapien und diagnostische Verfahren, die für den Menschen entwickelt wurden, in der Tiermedizin eingesetzt werden.

Tiere werden vom Menschen nicht nur in der biomedizinischen Forschung, sondern für vielfältige Zwecke genutzt, so vor allem zur Ernährung, als Haus und Zootiere, im Reitsport und bei der Jagd. Während Mäuse und Ratten in der Landwirtschaft und im häuslichen Umfeld weithin als Schädlinge bekämpft werden, erfüllen sie einen wertvollen Beitrag in der biomedizinischen Forschung. Sie können mit genetischen Veränderungen versehen werden, die genaue molekulare Studien in verschiedenen Organen erlauben um Abläufe im gesamten Organismus umfassend zu verfolgen. In der subjektiven Wahrnehmung dieser Nutzungsformen stehen Tierversuche allerdings bei weiten Teilen der Bevölkerung an letzter Stelle der Akzeptanz. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen können nur schwer nachvollziehen, dass die Verwendung von Tieren in der Forschung von vielen Menschen negativ betrachtet wird, während die meisten anderweitigen Verwendungen von Tieren oder gar deren Vernichtung als Schädlinge viel positiver angesehen werden.


3. Tierversuche in der Grundlagenforschung

Die Erforschung grundlegender biologischer Funktionen ist zunächst erkenntnis- und nicht anwendungsbezogen. Aber ohne Grundlagenforschung auch unter Einsatz von Tierversuchen hätte es viele bedeutende Fortschritte in der Human- und Tiermedizin nicht gegeben, wie die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen:

  • In der Grundlagenforschung zum Verständnis der Hirnfunktion wurden und werden bei Verhaltensexperimenten Mikroelektroden ins Gehirn von Tieren implantiert. Die Erkenntnisse die aus diesen Versuchen gewonnen wurden, ermöglichen es heute, dass Menschen mit Parkinson´scher Erkrankung durch die Tiefenhirnstimulation, auch Hirnschrittmacher genannt, zu therapieren und damit zu helfen. Hierbei werden bestimmte Bereiche des Gehirns mittels Elektroden, die dauerhaft implantiert werden, stimuliert. Mit anderen Arten von ins Gehirn implantierten Elektroden werden elektrische Potenziale abgeleitet und computergestützt so aufgearbeitet, dass Menschen, die aufgrund einer neurologischen Erkrankung oder Querschnittslähmung weder Arme noch Bein bewegen können (Tetraplegie) und oft nicht mehr sprechen können, mittels dieser „Brain-Computer-Interfaces“ lernen können, einen Roboterarm zu bewegen[4]. Sie können auch lernen, einen Computer anzusteuern, und dadurch wieder mit anderen kommunizieren. Auch dafür wurden die Voraussetzungen in langjähriger Forschung mit trainierten Affen gelegt.
  • Vielen Erkrankungen liegen Störungen der Signalübertragung, d.h. der Kommunikation zwischen Zellen zugrunde. Erst wenn verstanden ist, wie bestimmte Signalmoleküle miteinander kommunizieren, kann man über die Blockade oder Stimulation von Signalwegen im Rahmen des medizinischen Einsatzes nachdenken. Die Erforschung dieser zellulären Kommunikationsprozesse ist extrem komplex und dauert in der Regel viele Jahre. Zunächst werden diese Signalwege in vitro z.B. in der Zellkultur untersucht. Ob die medikamentöse Beeinflussung eines solchen Signalwegs dann auch im Menschen den gewünschten Effekt (und nur diesen Effekt) ohne Nebenwirkungen zeigt, muss am Gesamtorganismus getestet werden. Hierbei liefern Tierversuche in der Mehrzahl der Fälle immer noch die wichtigsten Hinweise.
  • Der Fortschritt in der Organtransplantation beruht nicht zuletzt darauf, dass man erforscht hat, wie man ein Organ über mehrere Stunden außerhalb des Körpers konservieren kann, um es zum Empfänger zu transportieren. Zur erfolgreichen Unterdrückung der Abstoßungsreaktion musste die Signalübertragung, die zur Abstoßung von Organen führt, aufgeklärt werden. Diese Fortschritte im Verständnis grundlegender Prozesse der Immunologie führten aber auch zu Fortschritten in der Behandlung von Krebs oder Erkrankungen des Nervensystems wie der Multiplen Sklerose.
  • Heute kann die Zeit bis zur Herztransplantation durch künstliche Herzen überbrückt werden. Auf dem Weg dahin mussten viele Hürden genommen werden, da die eingesetzten Pumpen, die das Blut anstelle des Herzens durch den Körper fördern, das Blut schädigen. Diese Hürden konnten nur durch Tierversuche überwunden werden.

Gerade Wissenschaftler und Mediziner wissen, dass der Mensch keine Maus ist. Aus diesem Grund werden neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung oder für die medizinische Anwendung nicht einzig und allein nur in Tierversuchen getestet, bevor sie in klinischen Studien am Menschen eingesetzt werden, sondern auch mit molekularen oder biochemischen Methoden an humanen Zelllinien, humanen Geweben überprüft. Zusätzlich werden mathematische Algorithmen ständig optimiert, um möglichst exakte Voraussagen über die Wirkungsweise im Menschen zu machen. Erst wenn ein möglichst umfassendes Gesamtbild der Wirkungen unter Einbeziehung von geeigneten Tiermodellen zur Verfügung steht, hält der VBIO in Übereinstimmung mit der Helsinki-Deklaration den Einsatz von Medikamenten in klinischen Studien am Menschen für vertretbar.

Allerdings münden nicht alle durchgeführten Tierversuche unmittelbar oder später in medizinische Therapien. Warum das so ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, wie bei der Klärung wissenschaftlicher Fragestellungen vorgegangen werden muss. Dasselbe gilt auch für wissenschaftliche Versuche, bei denen es zunächst um die Erarbeitung fundamental wichtiger biochemisch-physiologischer Zusammenhänge geht. Zunächst wird eine Hypothese für die Fragestellung formuliert. Danach wird ein „Versuch“ oder „Experiment“ durchgeführt. Bei vielen Versuchen wird die Hypothese nicht bestätigt, was oft als „negatives Ergebnis“ angesehen wird, auch wenn die Bestätigung und die Nicht-Bestätigung einer Hypothese wertneutral und damit qualitativ gleichwertig sind, da die wissenschaftliche Frage beantwortet ist: „So ist es nicht“. Tatsächlich wird von Erkenntnistheoretikern wie Popper vertreten, dass Hypothesen oder Theorien, die nicht falsifiziert werden können, keine wissenschaftliche Grundlage haben[5]. Ein (Tier-)Versuch bei dem eine Hypothese falsifiziert, d.h. nicht bestätigt wird, ist folglich nicht ergebnislos und ist damit ethisch vertretbar, da auch dies ein wichtiger Schritt im Erkenntnisgewinn ist.

Davon abzugrenzen sind Versuche, die aufgrund mangelnder Qualität bei der Planung und Durchführung fehlgeschlagenen sind und die dazu führen, dass Ergebnisse nicht reproduziert werden können. Die fehlende Reproduzierbarkeit wird von manchen als Argument angeführt, dass Tierversuche nicht übertragbar sind. Eine fehlende Reproduzierbarkeit kann viele Gründe haben und in der Regel ist der Grund nicht die mangelnde Qualität von Tierversuchen. Vielmehr reflektiert eine fehlende Reproduzierbarkeit häufig die Tatsache, dass noch unbekannte Faktoren oder schwer kontrollierbare genetische oder äußere Einflüsse das Versuchsergebnis beeinflussen. Die Aufklärung der Ursachen von unterschiedlichen Resultaten kann daher zu einem zusätzlichen Erkenntnisgewinn führen. Von vielen hochrangigen wissenschaftlichen Zeitschriften wurde diese Problematik erkannt. Als Konsequenz wurden Kriterien entwickelt, denen Tierversuche genügen müssen, damit sie publiziert werden können[6]. Diese werden ständig überprüft und gegebenfalls erweitert mit dem Ziel, die Aussagekraft tierexperimenteller Forschung zu verbessern.

Erfolgsquote von Tierversuchen
Wie verhält es sich mit der Erfolgsquote von Tierversuchen und den dafür angeführten Zahlen? Es wird oft behauptet, dass 92% Prozent der Medikamente, die erfolgreich an Tieren getestet wurden, später in klinischen Studien am Menschen scheitern. Dieses Zitat bezieht sich allerdings nicht nur auf Tierversuche alleine, sondern schliesst auch Tests an menschlichen Zellen oder Geweben ein, um möglichst viele Informationen zu sammeln, bevor das Medikament überhaupt an einem Tier getestet wird. In der zugrunde liegenden Studie der amerikanischen Arzneimittelzulassungsbehörde FDA[7] wird daher nicht von Tierversuchen, sondern generell von "preclinical screening and evaluation" gesprochen,. Dies bedeutet, dass diese Medikamente alle auch bei in vitro-Tests an menschlichen Zellen und bei sonstigen präklinischen Analysen durchgefallen sind. Zweitens wird an dieser Stelle der FDA-Quelle auf eine weitere Studie verwiesen[8], die zur Verbesserung der Erfolgsquote die Notwendigkeit zur Entwicklung von verbesserten präklinischen toxikologischen Tests anspricht ("development of more predictive preclinical toxicology screening"). Dies bedeutet, dass die Zahl 92% sich weder strikt auf Tierversuche bezieht, noch Aussagen über andere spezifische Methoden der toxikologisch-präklinischen Prüfung Versuche erlaubt.

Unabhängig von der fehlerhaften Zahleninterpretation belegen solche Aussagen auch die weit verbreitete falsche Erwartung an die Planbarkeit von Versuchsergebnissen und funktionalem Erkenntnisgewinn.

Die Zahl besagt tatsächlich, dass 100% aller präklinischen Versuchsarten einen Beitrag dazu geleistet haben, um für 8% der getesteten Substanzen eine erfolgreiche Anwendung am Menschen zu ermöglichen. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Zahl wäre jeder Wissenschaftler um eine Steigerung dieser Prozentzahl sehr dankbar. Die niedrige Zahl von in die Klinik eingeführten Medikamenten beruht auch darauf, dass alle Substanzen, bei denen präklinische Tests erhebliche unerwünschte Nebenwirkungen wahrscheinlich machen, nicht am Menschen eingesetzt werden.

Unabhängig davon gilt, dass aus Tierversuchen bessere Risikoabschätzungen gewonnen werden können als aus anderen präklinischen Testverfahren[9]. Die präklinische Testung von Wirkstoffen an geeigneten Tiermodellen gewährleistet eine hohe Sicherheit, da nur 10% aller Wirkstoffe, die später in klinischen Studien getestet werden, aufgrund von unerwarteten Nebenwirkungen beim Menschen nicht weiter entwickelt werden. In der Phase der klinischen Prüfung scheitert ein Großteil der Medikamente nicht an unerwarteten Nebenwirkungen, sondern an unzureichender Wirksamkeit oder Verteilung des Wirkstoffes[10].

Übertragbarkeit von Tierversuchen auf die Wirksamkeit beim Menschen
Die Durchführung von Tierversuchen ist deshalb erfolgreich möglich, weil Wirbeltiere viele genetische, physiologische und krankheitsbezogene Übereinstimmungen mit dem Menschen aufweisen. So haben viele Gene der Maus eine direkte genetische Entsprechung im Menschen und weisen generell eine weitgehende Übereinstimmung in den Mechanismen der Genregulation und der Funktion der Genprodukte auf[11]. Deshalb kann man die Funktionen der meisten Gene mit Hilfe von gentechnisch veränderten Mäusen sinnvoll studieren. So führen beispielsweise Genveränderungen von bestimmten Enzymen, die bei der Verarbeitung von Stoffwechselprodukten im Gehirn beteiligt sind, bei Maus und Mensch zu denselben Symptomen. Auf diese Weise kann man seltene Erkrankungen in einem Tier untersuchen, um sie dann zu verstehen und Therapien zu entwickeln[12]. Allerdings können viele höhere Hirnfunktionen nicht mehr allein an Nagern untersucht werden sondern erfordern auch die Forschung mit trainierten Affen.

Die zunehmende Verwendung gentechnisch veränderter Tiere ermöglicht die langfristige Entwicklung von Therapien zu Krankheiten, die bisher nicht oder nur unbefriedigend behandelbar sind, da die Krankheitsbilder komplex und multifaktoriell sind. Dennoch kann der Erfolg nicht in Zahlen gemessen werden. Vielmehr liefern Tierversuche zunächst wichtige Hinweise, um solche Prozesse überhaupt zu verstehen.

Die Überlebensrate von Tumorpatienten ist nur aufgrund der besseren Kenntnis der Tumorbiologie und der darauf basierenden Entwicklungen neuer Therapien aus Tierversuchen deutlich gestiegen. Alle bereits seit langem bekannten und neuen Therapieformen gegen Tumoren, die momentan im Einsatz sind, haben sich zuvor im Tiermodell als wirksam bewährt[13]. Beispiele für Tierversuche, die essenziell zur Entwicklung neuere Therapien beigetragen haben:

  • Die Immuntherapie beim Melanom durch sogenannte "Checkpoint-Inhibitoren"[14],[15] wurde 2013 als wissenschaftlicher Durchbruch des Jahres gefeiert. Diese „Checkpoint-Inhibitoren wurden zuerst erfolgreich im Tierversuch und haben dazu beigetragen, das Überleben von Hautkrebspatienten dramatisch zu verbessern. Das gleiche gilt für selektive Tyrosinkinase-Inhibitoren bei der Behandlung von Blutkrebs (Leukämien) die ebenfalls zu einer erheblichen Verbesserung der Therapie und des Überlebens der Patienten beigetragen haben.
  • Die Beziehungen zwischen Tierversuch und humanrelevanten Befunden sind wechselseitig. Durch die Möglichkeiten das menschliche Genom umfassend zu untersuchen, werden neue Mutationen von Genen entdeckt, die mit dem Auftreten von Krankheiten zu korrelieren scheinen. Ob diese Mutationen tatsächlich krankheitsrelevant sind, kann wegen der Komplexität des menschlichen Organismus oft nicht mit Sicherheit gesagt werden. Hier helfen entsprechend genmodifizierte Mäuse weiter. Manchmal findet man bei genomweiten Kopplungs-Studien, dass Gene an der Erkrankung beteiligt sein könnten, von denen die Funktion nicht bekannt ist. Wie an zwei Beispielen nachfolgend erläutert wird, können Tierversuche helfen, die Genfunktionen aufzuklären:
  • Bei Angsterkrankungen, einer der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen, zeigten genetische Kopplungsstudien bei betroffenen Patienten Unterschiede in der Expression des Serotonintransporters. Mittels genmodifizierter Mäuse konnte ein kausaler Zusammenhang zwischen der veränderten Expression des Serotonintransporters und Ängstlichkeit nachgewiesen werden[16].
  • Im zweiten Beispiel wurde durch genetische Kopplungsstudien beim Menschen mit hochgradigem Übergewicht ein Gen, das FTO-Gen, identifiziert, dessen Funktion für die Entwicklung von Übergewicht jedoch völlig unklar war. So erwies es sich als außerordentlich wertvoll, dass aus der Grundlagenforschung heraus ein Mausmodell zur Verfügung stand, bei dem dieses Gen ausgeschaltet worden war, um die Bedeutung dieses Gens bei der Mausentwicklung zu untersuchen. Die modifizierten Mäuse waren überraschenderweise untergewichtig. Die Bedeutung dieses Befundes wurde erst durch die Kopplungsstudien beim Menschen erkannt. Mit diesem Mausmodell kann nun die Bedeutung dieses Gens für die Gewichtsregulation umfassend untersucht werden mit dem Ziel, neue therapeutische Ansätze für Patienten zu entwickeln[17].

Ersatzmethoden
Oft wird behauptet, dass Tierversuche generell irreführend wären und Ersatzmethoden bessere Aussagen zu wissenschaftlichen Fragen ermöglichen würden.

Tatsächlich ist es so, dass das Zusammenspiel der verschiedenen wissenschaftlichen Methoden, von denen der Tierversuch nur eine ist, für die Aufklärung komplexer biologischer Mechanismen ausschlaggebend ist. Der Einsatz von Ersatzmethoden hängt davon ab, ob sie für die betreffende wissenschaftliche Fragestellung geeignet sind. Die zahlreichen Einzelfragen, die zur Aufklärung eines solchen Mechanismus beantwortet werden müssen, müssen mit mehreren geeigneten Methoden adressiert. Hierbei spielen Tierversuche eine entscheidende Rolle. Computermodelle, an deren Entwicklung intensiv gearbeitet wird, können einfache Zusammenhänge aufklären. So kann z.B. die Bindung einer Substanz an einen Eiweißkörper simuliert werden. Wie sich diese Substanz in einem komplexen Organismus verhält, kann aber nur sehr begrenzt in Computerprogrammen simuliert werden. Ein Computermodell kann vor allem wiedergeben, was es bereits kennt, oder fehlende Parameter und Komponenten vorhersagen. Es ist jedoch nicht in der Lage, ein bisher unbekanntes Molekül zu entdecken und vollständig zu charakterisieren. Momentan kann kein Computermodell einen Impfschutz oder unbekannte Nebenwirkungen von Medikamenten vollständig vorhersagen.

Medikamente können zunächst an sogenannten Miniorganen untersucht werden, aber auch dies liefert keine Aussagen zur Wirkung auf andere Organe oder zu systemischen Nebenwirkungen auf andere Organe. Letzteres kann bisher nur im Gesamtorganismus (also in einem Tier) bewertet werden. Immer wieder werden neue Funktionen von Genen, neue epigenetische Vorgänge, neue molekulare Funktionen oder physiologische Zusammenhänge oder gar neue Zelltypen entdeckt. Bisher kann man sich somit nicht sicher sein, dass man alle Komponenten, Zusammenhänge und Funktionen eines Organs kennt und diese in Gewebekultur nachbauen oder am Computer simulieren kann?

An der Entwicklung neuer Ersatzmethoden zum Tierversuch wird vielfältig und intensiv gearbeitet. Ziel ist es, die gesetzlich vorgeschriebene Tierversuche im Rahmen der Zulassung von Medikamenten und anderen therapeutischen Verfahren wie auch bei toxikologischen Prüfungen zu reduzieren. Diese müssen in hoher Zahl und immer in der gleichen Art und Weise durchgeführt werden. Aussagekräftige Alternativmethoden haben ein besonders hohes Potential, den Tierverbrauch zu verringern. Es ist nicht absehbar, wann neue experimentelle Methoden oder Computersimulationen in der Lage sein werden, einen vollständigen Organismus zu verstehen und zu simulieren.

 

Vorgelegt vom AK Wissenschaftliche Tierversuche 
Ansprechpartner: Prof. Dr. Manfred Lutz und Prof. Dr. Gabriele Pfitzer      
Stand: Mai 2018


[1] Zugänglich unter https://www.wma.net/policies-post/wma-declaration-of-helsinki-ethical-principles-for-medical-research-involving-human-subjects/

[2] Pinsdorf, Christina, Ethische Aspekte in Ethik in den Biowissenschaften – Sachstand des DRZE, Band 17: Tiere in der Forschung, Hrsg: Brandstetter H., Spielmann H., Löwer, W., Spranger T.M., Pinsdorf, Ch. 2016, Verlag Karl Alber, Freiburg / München

[3] Pinsdorf, Christina, Ethische Aspekte in Ethik in den Biowissenschaften – Sachstand des DRZE, Band 17: Tiere in der Forschung, Hrsg.: Brandstetter H., Spielmann H., Löwer, W., Spranger T.M., Pinsdorf, Ch. 2016, Verlag Karl Alber, Freiburg / München

[4] Bacher, D., B. Jarosiewicz, N.  Masse, S. D. Stavisky, J. D. Simeral, K. Newell, E. M. Oakley, S. S. Cash, G. Friehs & L. R. Hochberg (2014): Neural Point-and-Click Communication by a Person With Incomple Locked-In Syndrome – Neurorehabilitation and Neurorepair 1-10. DOI: 10.1177/1545968314554624

[5] Popper KR. 1963 Science as Falsification in: K.R. Popper, Conjectures and Refutations. Basic Books New York.

[6] Van der Worp, H.B et al., 2010. Can animal models of disease reliably inform human studies. PlosMed 7, e1000245;  Kilkenny C, Browne WJ, Cuthill IC, Emerson M, Altman DG. 2010. Improving bioscience research reporting: the ARRIVE guidelines for reporting animal research. PLoS Biol 8:e1000412.

[7] Administration, F. a. D. 2004. Challenge and Opportunity on the Critical Path to New Medical Products.  http://www.fda.gov/downloads/ScienceResearch/SpecialTopics/CriticalPathInit iative/CriticalPathOpportunitiesReports/ucm113411.pdf.

[8] Gilbert, J., P. Henske, and A. Singh. 2003. Rebuilding Big Pharma's Business Model. In Vivo. The Business & Medicine                  Report, www.bain.com/bainweb/PDFs/cms/Marketing/rebuilding_big_pharma.pdf

[9] Greaves, P., A. Williams, and M. Eve. 2004. First dose of potential new medicines to humans: how animals help. Nat Rev Drug Discov 3: 226-236.

[10] Kubinyi, H. 2003. Drug research: myths, hype and reality. Nat Rev Drug Discov 2: 665-668.

[11] Yue, F., Y. Cheng, A. Breschi, J. Vierstra, W. Wu, T. Ryba, R. Sandstrom, Z. Ma, C. Davis, B. D. Pope, Y. Shen, D. D. Pervouchine, S. Djebali, R. E. Thurman, R. Kaul, E. Rynes, A. Kirilusha, G. K. Marinov, B. A. Williams, D. Trout, H. Amrhein, K. Fisher-Aylor, I. Antoshechkin, G. DeSalvo, L. H. See, M. Fastuca, J. Drenkow, C. Zaleski, A. Dobin, P. Prieto, J. Lagarde, G. Bussotti, A. Tanzer, O. Denas, K. Li, M. A. Bender, M. Zhang, R. Byron, M. T. Groudine, D. McCleary, L. Pham, Z. Ye, S. Kuan, L. Edsall, Y. C. Wu, M. D. Rasmussen, M. S. Bansal, M. Kellis, C. A. Keller, C. S. Morrissey, T. Mishra, D. Jain, N. Dogan, R. S. Harris, P. Cayting, T. Kawli, A. P. Boyle, G. Euskirchen, A. Kundaje, S. Lin, Y. Lin, C. Jansen, V. S. Malladi, M. S. Cline, D. T. Erickson, V. M. Kirkup, K. Learned, C. A. Sloan, K. R. Rosenbloom, B. Lacerda de Sousa, K. Beal, M. Pignatelli, P. Flicek, J. Lian, T. Kahveci, D. Lee, W. J. Kent, M. Ramalho Santos, J. Herrero, C. Notredame, A. Johnson, S. Vong, K. Lee, D. Bates, F. Neri, M. Diegel, T. Canfield, P. J. Sabo, M. S. Wilken, T. A. Reh, E. Giste, A. Shafer, T. Kutyavin, E. Haugen, D. Dunn, A. P. Reynolds, S. Neph, R. Humbert, R. S. Hansen, M. De Bruijn, L. Selleri, A. Rudensky, S. Josefowicz, R. Samstein, E. E. Eichler, S. H. Orkin, D. Levasseur, T. Papayannopoulou, K. H. Chang, A. Skoultchi, S. Gosh, C. Disteche, P. Treuting, Y. Wang, M. J. Weiss, G. A. Blobel, X. Cao, S. Zhong, T. Wang, P. J. Good, R. F. Lowdon, L. B. Adams, X. Q. Zhou, M. J. Pazin, E. A. Feingold, B. Wold, J. Taylor, A. Mortazavi, S. M. Weissman, J. A. Stamatoyannopoulos, M. P. Snyder, R. Guigo, T. R. Gingeras, D. M. Gilbert, R. C. Hardison, M. A. Beer, B. Ren, and E. C. Mouse. 2014. A comparative encyclopedia of DNA elements in the mouse genome. Nature 515: 355-364.

[12] Klein, D., A. Patzko, D. Schreiber, A. van Hauwermeiren, M. Baier, J. Groh, B. L. West, and R. Martini. 2015. Targeting the colony stimulating factor 1 receptor alleviates two forms of Charcot-Marie-Tooth disease in mice. Brain 138: 3193-3205.

[13] Coffelt, S. B., and K. E. de Visser. 2015. Immune-mediated mechanisms influencing the efficacy of anticancer therapies. Trends Immunol 36: 198-216.

[14] Hamid, O., C. Robert, A. Daud, F. S. Hodi, W.-J. Hwu, R. Kefford, J. D. Wolchok, P. Hersey, R. W. Joseph, J. S. Weber, R. Dronca, T. C. Gangadhar, A. Patnaik, H. Zarour, A. M. Joshua, K. Gergich, J. Elassaiss-Schaap, A. Algazi, C. Mateus, P. Boasberg, P. C. Tumeh, B. Chmielowski, S. W. Ebbinghaus, X. N. Li, S. P. Kang, and A. Ribas. 2013. Safety and tumor responses with lambrolizumab (anti-PD-1) in melanoma. N Engl J Med 369: 134-144.

[15] Wolchok, J. D., H. Kluger, M. K. Callahan, M. A. Postow, N. A. Rizvi, A. M. Lesokhin, N. H. Segal, C. E. Ariyan, R.-A. Gordon, K. Reed, M. M. Burke, A. Caldwell, S. A. Kronenberg, B. U. Agunwamba, X. Zhang, I. Lowy, H. D. Inzunza, W. Feely, C. E. Horak, Q. Hong, A. J. Korman, J. M. Wigginton, A. Gupta, and M. Sznol. 2013. Nivolumab plus ipilimumab in advanced melanoma. N Engl J Med 369: 122-133.

[16] Sachser, N Lesch, K-P. 2013. Das Zusammenspiel von Genotyp und Umwelt bei der Entwicklung von Furcht und Angst. Neuroforum 3/13:

[17] Fischer J, Koch L, Emmerling C, Vierkotten J, Peters T, Brüning JC, Rüther U. 2009. Inactivation of the Fto gene protects from obesity, Nature 458:894-898;