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Detaillierte Kartierung des Genoms von Meeresschildkröten zeigt: Ihre Zukunft könnte in ihrer Geschichte liegen

Eine frisch geschlüpfte Lederschildkröte
Eine frisch geschlüpfte Lederschildkröte auf ihrem Weg ins Meer (Foto: Christian Del Rosario)

Eine detaillierte Karte des Genoms zweier Arten von Meeresschildkröten der Grünen Meeresschildkröte und der Lederschildkröte wurde jetzt von einem  internationalem  Wissenschaftsteam in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ veröffentlicht. Damit können zum ersten Mal jene genetischen Grundlagen analysiert werden, die es den einst an Land lebenden Schildkröten ermöglichten, in den Ozeanen zu leben. Vor etwa 100 Millionen Jahren wandten sich ihre Vorfahren dem Meer zu und entwickelten sich schließlich zu jenen Meeresschildkröten, die wir heute kennen.

Die Kenntnis des genetischen Hintergrunds dieser bemerkenswerten Anpassung könnte sich in Zeiten rascher Umweltveränderungen als entscheidend für Schutz und Erhalt der Arten erweisen. Die Kartierung der Genome der Grünen Meeresschildkröte (Chelonia mydas) und der Lederschildkröte (Dermochelys coriacea) ist das Ergebnis eines internationalen Kooperationsprojekts unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und der University of Massachusetts Amherst(UMass) in Zusammenarbeit mit dem Vertebrate Genomes Project. „Wir stellten zwei der bisher vollständigsten Reptiliengenome zusammen, die zwei uralte Familien von Meeresschildkröten repräsentieren“, sagt Camila Mazzoni, eine der beiden Seniorautoren und Gruppenleiterin für Evolutions- und Naturschutzgenomik am Leibniz-IZW sowie Wissenschaftlerin am Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research (BeGenDiv).

Die Sequenzierung des Genoms einer Art ist ein enormer Arbeitsaufwand, der einer Übersetzung einer gesamten Bibliothek in eine für die Wissenschaft lesbare Sprache gleichkommt. Dies wurde erst mit technologischen Entwicklungen in den letzten zwei Jahrzehnten möglich. Für Grüne Meeresschildkröten liegt seit 2013 ein Genom-Entwurf vor, der etwa 100.000 genetische Informationen enthält – „aber“, so Blair Bentley, Wissenschaftler am Department of Environmental Conservation der UMass Amherst und Erstautor des neuen Aufsatzes, „diese 100.000 genetischen Informationen waren nicht kartiert. Es war, als ob man eine Bibliothek betritt und 100.000 Bücher verstreut auf dem Boden liegen, anstatt nach einem logischen System in Regale und Abteilungen einsortiert zu sein.“

Um die Genome der Schildkröten genauer zu katalogisieren, wandte das internationale Team neue Technologien an, darunter die Pacbio-Langzeitsequenzierung - eine Innovation, die kürzlich zur Methode des Jahres 2022 gekürt wurde (https://www.nature.com/articles/s41592-022-01759-x). Damit ist es möglich, die Genome von praktisch jeder lebenden Art mit weitaus größerer Präzision als bisher zu sequenzieren. Die Sequenzierung der Genome der Schildkröten wurde an der Rockefeller University im Vertebrate Genome Laboratory (VGL) unter der Leitung von Erich Jarvis und Olivier Fedrigo sowie am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) unter der Leitung von Eugene Myers durchgeführt, die alle als Koautoren an der neuen Publikation beteiligt sind. „Diese Fortschritte haben uns das ermöglicht, was in einer Bibliothek bedeuten würde, alle Bände nach der Dewey-Dezimalklassifikation für Bibliotheksbestände zu ordnen. Wir können jetzt damit beginnen zu verstehen, wie alles zusammenpasst“, sagt Bentley.

Die Kartierung der vollständigen Genome durch die Zusammenarbeit der Forschungsgruppen von Mazzoni und Lisa Komoroske, Professorin für Umweltschutz an der UMass und zweite Seniorautorin des Aufsatzes, brachte mehrere Überraschungen ans Licht. Die erste ist, dass sich die Genome der Grünen Meeresschildkröte und der Lederschildkröte bemerkenswert ähnlich sind, obwohl sich beide Arten seit etwa 60 Millionen Jahren getrennt voneinander entwickelten. Ähnlich, aber nicht identisch. „Es sind diese feinen Unterschiede, die sie einzigartig machen“, sagt Komoroske. Und genau diese Unterschiede könnten der Schlüssel zum Überleben beider Arten sein, denn die Bestände sowohl der Grünen Meeres- als auch der Lederschildkröte sind in jüngerer Zeit aufgrund menschlicher Aktivitäten drastisch zurückgegangen und somit ihre Anpassungsfähigkeit an die veränderten Lebensbedingungen wichtiger denn je.

Es stellte sich heraus, dass die Grüne Meeresschildkröte mehr Gene für das Immunsystem besitzen, was darauf schließen lässt, dass sie besser auf neue Krankheitserreger vorbereitet ist als die Lederschildkröte. Zudem verfügt sie über mehr Geruchsrezeptoren – sie haben einen besseren Geruchssinn. Das Lederschildkröten-Genom zeigt hingegen, dass die Bestände dieser Art in der Vergangenheit schon einmal deutlich kleiner waren. „Dies ist sowohl ein Segen als auch ein Fluch“, sagt Komoroske, „denn es bedeutet, dass die Lederschildkröte zwar eine widerstandsfähige Art ist, ihre genetische Vielfalt jedoch auch gering ist. Eine hohe genetische Vielfalt würde es ihnen eher ermöglichen, sich weiterzuentwickeln und den Herausforderungen ihrer sich schnell verändernden Umwelt angemessen zu begegnen.“ Erkenntnisse wie diese könnten dem Artenschutz helfen, fundiertere Entscheidungen über geeignete Maßnahmen zum Schutz und Erhalt der Arten zu treffen.
Je mehr Zeit die Forschergruppen von Mazzoni und Komoroske mit den Genomen der Schildkröten verbrachten, desto deutlicher wurde, dass ein Großteil der genetischen Unterschiede zwischen beiden Arten nicht auf den großen (Haupt-)Chromosomen zu finden ist, die mehr als 80 % des Genoms der Meeresschildkröten ausmachen, sondern auf Mikrochromosomen oder kleinen genetischen Einheiten. Mikrochromosomen existieren bei Säugetieren nicht, sind aber charakteristisch für das Erbgut von Vögeln und Reptilien. „Wir fanden die meisten Unterschiede zwischen der Grünen Meeresschildkröte und der Lederschildkröte auf eben diesen Mikrochromosomen“, sagt Mazzoni. „Unsere Arbeit ist daher auch ein Beitrag zum wachsenden Verständnis über die Bedeutung von Mikrochromosomen in der Evolution der Wirbeltiere.“

„Wir konnten diese Arbeit nur dank eines großen Kooperationsnetzwerks durchführen, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen mit Organisationen wie dem Vertebrate Genomes Project, dem Israeli Sea Turtle Rescue Center und dem NOAA Southwest Fisheries Science Center zusammenbrachte, unterstützt von Geldgebern aus der ganzen Welt“, sagt Komoroske. Die Forschung wurde von einer Vielzahl von Organisationen unterstützt, darunter National Science Foundation, National Oceanic and Atmospheric Administration, National Research Council, National Institutes of Health, Vertebrate Genomes Project, Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, CONICYT-DAAD, Sanger Institute, São Paulo Research Foundation, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Generalitat de Catalunya, La Caixa Foundation, Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds, Stadt Wien, Welsh Government Sêr Cymru II, Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 der Europäischen Union im Rahmen des Marie Skłodowska-Curie-Stipendiums, Florida Sea Turtle Grants Program sowie von einzelnen internationalen Spendern.

Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung


Originalpublikation:

Bentley BP et al.: Divergent sensory and immune gene evolution in sea turtles with contrasting demographic and life histories. PNAS 120 (7) e2201076120. 2023, https://doi.org/10.1073/pnas.220107612