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Wie Konzepte ins Gehirn gelangen und welche Rolle Sprache dabei spielt

Abstrakte Konzepte gehirn
Abstrakte Konzepte im gehirnähnlichen Netzwerk. Das neuronale Netzwerk ist der menschlichen Großhirnrinde nachempfunden. Die Forscher:innen haben Bereiche der Großhirnrinde simuliert, die für Hören (blau) und Artikulation (rot bis pink) relevant sind. Fynn R. Dobler

Der Einfluss der Sprache auf das menschliche Denken könnte stärker sein als bislang angenommen. Das geht aus einer neuen Studie des Sprach-, Kognitions- und Neurowissenschaftlers Prof. Dr. Friedemann Pulvermüller und seinem Team aus dem Labor für Gehirn- und Sprachforschung der Freien Universität Berlin hervor. Untersucht wurde dabei die Modellierung der menschlichen Begriffsbildung und der Einfluss von Sprachmechanismen auf die Entstehung von Konzepten.

Menschen können nahezu mühelos eine oder mehrere Sprachen lernen. Dafür müssen sie nicht nur lernen, wie man Wörter ausspricht, sondern diese Wörter mit Inhalten – mit Konzepten wie ‚Kaffee‘, ‚Montag‘ und ‚Schönheit‘ – verbinden. Aber wie funktioniert das in den neuronalen Netzwerken des Gehirns? Und können Wörter beim Lernen von Konzepten helfen?

Um diese Fragen zu beantworten, entwickeln Friedemann Pulvermüller und sein Forschungsteam neuronale Netzwerke, die strukturell dem menschlichen Gehirn nachempfunden sind und auf Erkenntnissen aus der Neurobiologie basieren. Diese Netzwerke sind nicht nur in ‚Areale‘ unterteilt, die denen des menschlichen Gehirns ähneln, sondern auch die Verbindungsstruktur zwischen diesen Arealen wurde der Großhirnrinde des Menschen nachgebildet. Die Bereiche bestehen aus Gruppen künstlicher ‚Nervenzellen‘, die wiederum über lokale Verbindungen miteinander kommunizieren. Diese individuellen ‚Nervenzellen‘ können ihre Verbindungen verstärken, wenn sie gemeinsam aktiv sind, oder abschwächen, wenn sie unabhängig voneinander aktiv sind. Dieses Lernprinzip, bekannt als Hebb'sches Lernen, ist in biologischen Systemen gut erforscht. Mit Hilfe dieser gehirnähnlichen Netzwerke (engl. ‚brain-constrained networks‘) können die Forschenden neurobiologisch fundierte Theorien zur Sprache und Kognition testen und kognitive Phänomene erklären.

Zum Beispiel können sie diese Netzwerke in simulierten "Perzeptionsexperimenten" dazu bringen, "Objekte" wahrzunehmen. In anderen Lernaufgaben werden sie mit sprachlichen Informationen versorgt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Netzwerke mühelos lernen, welche Wörter für welche Gegenstände verwendet werden können.

Für die Forschenden ist besonders interessant und unerwartet, dass innerhalb der gehirnähnlichen Netzwerke stark verschaltete Nervenzellpopulationen entstehen, die als biologische Grundlage von Konzepten fungieren. Diese Nervenzellpopulationen sind nicht nur für bestimmte Gegenstände aktiv, sondern auch für ganze Klassen ähnlicher Gegenstände und Entitäten wie etwa ‚Roboter‘, ‚Katzen‘ oder ‚Sonnenaufgänge‘. Selbst bei neuen, bisher nicht beobachteten Gegenständen aktivieren die Netzwerke den relevanten konzeptuellen ‚Nervenzellschaltkreis‘. Bei gleichzeitigem Lernen sprachlicher Ausdrücke ist diese Konzeptbildung sogar noch effizienter und schneller, als bei nicht-sprachlichem Lernen: „Diese Resultate deuten darauf hin, dass Sprache auf dem biologischen Niveau die Konzeptbildung unterstützen und beschleunigen kann“, betont der Neurobiologe Friedemann Pulvermüller.

Besonders ausgeprägt ist der Einfluss der Sprache auf die Bildung abstrakter Begriffe wie „Schönheit“ oder „Frieden“. Diese umfassen viele verschiedene Sinneseindrücke, die aufgrund ihrer Vielfalt vom biologischen Lernmechanismus nicht erfasst werden können – ein Gemälde, ein Sonnenuntergang und ein Konzert haben nicht viel gemeinsam, können aber alle „schön“ sein. Die Verschiedenartigkeit dieser Sinneseindrücke macht es dem biologischen Lernmechanismus zunächst unmöglich, bestimmte Ähnlichkeiten zu erfassen, bis dem Netzwerk eine sprachliche Grundlage für jeden Begriff beigebracht wird: Erst dann bildet es auch abstrakte Begriffsrepräsentation, die jedoch eng mit den sprachlichen Repräsentationen verschmolzen sind.

Diese neuen Forschungsergebnisse legen nahe, dass der Einfluss von Sprache auf unser Denken viel stärker und wichtiger ist, als das bisher angenommen wurde. Obwohl schon Wilhelm von Humboldt und eine Reihe von Linguist:innen darauf hingewiesen haben, dass Denken und Sprache miteinander zusammenhängen, war die Idee, dass Sprache unser Denken stark beeinflusst, bisher unter Sprachwissenschaftler:innen eher unpopulär oder zumindest hoch umstritten. Die neuen Ergebnisse mit gehirnähnlichen Netzwerken zeigen nun einen starken Einfluss von Sprache auf die Konzeptbildung im Simulationsexperiment. Sie legen zudem einen neurobiologischen Mechanismus für den kausalen Einfluss der Sprache auf das Denken nahe.

FU Berlin


Originalpublikation:

Friedemann Pulvermüller: “Neurobiological mechanisms for language, symbols and concepts; Clues from brain-constrained deep neural networks”, Progress in Neurobiology: https://doi.org/10.1016/j.pneurobio.2023.102511