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Selbstorganisation: So bringen Amöben die Robotik voran

Riesenamöbe Robotik
Riesenamöbe unter dem Mikroskop. © Tom Stack/WaterFrame

LMU-Forschende haben ein neues Modell entwickelt, um zu beschreiben, wie biologische oder technische Systeme ohne äußeren Einfluss komplexe Strukturen bilden.

Amöben gehören zu den Einzellern. Per Selbstorganisation können sie komplexe Strukturen formen, und zwar ausschließlich über lokale Wechselwirkungen: Haben sie viel Nahrung, verteilen sie sich gleichförmig in einem Nährmedium. Wird ihr Futter jedoch knapp, senden sie den Botenstoff cyclisches Adenosinmonophosphat (cAMP) aus. Dieses chemische Signal führt dazu, dass sich Amöben an einem Ort sammeln und einen vielzelligen Verband bilden. Daraus entsteht ein Fruchtkörper.

„Das Phänomen ist bekannt“, sagt Prof. Dr. Erwin Frey von der LMU-Fakultät für Physik. „Bislang hat jedoch keine Arbeitsgruppe untersucht, wie sich ganz allgemein Informationsverarbeitung auf die Aggregation von Systemen aus Agenten auswirkt, wenn einzelne Agenten, hier die Amöben, einen eigenen Antrieb haben.“ Mehr Wissen über diese Mechanismen sei auch deshalb interessant, um sie dann auf synthetische technische Systeme zu übertragen.

Zusammen mit weiteren Forschenden beschreibt Frey in Nature Communications, wie sich aktive Systeme, die Informationen ihrer Umgebung verarbeiten, nutzen lassen – entweder technologisch oder biologisch. Es geht nicht darum, alle Details der Kommunikation zwischen einzelnen Agenten zu verstehen. Vielmehr bilden sie aufgrund der Selbstorganisation bestimmte Strukturen. Das gilt für Amöben – oder auch für bestimmte Roboter. Die Arbeit ist zusammen mit Prof. Dr. Igor Aronson entstanden, der Humboldt-Preisträger an der LMU ist.

Vom biologischen Mechanismus zur technologischen Anwendung
Zum Hintergrund: Der Begriff „aktive Materie“ beschreibt biologische oder technische Systeme, aus denen per Selbstorganisation größere Strukturen entstehen. Grundlage solcher Vorgänge sind ausschließlich lokale Wechselwirkungen zwischen identischen, sich selbst bewegenden Einheiten, etwa Amöben oder auch Robotern.

Inspiriert von biologischen Systemen schlagen Frey und seine Koautoren ein neues Modell vor. Dabei kommunizieren Agenten mit eigenem Antrieb miteinander. Sie erkennen chemische, biologische oder physikalische Signale auf lokaler Ebene und treffen anhand ihrer internen Maschinerie individuelle Entscheidungen zur kollektiven Selbstorganisation. Dadurch entstehen zielgerichtet größere Strukturen, die sich über mehrere Längenskalen erstrecken können.

Grundlage ihrer Überlegungen ist das neue Paradigma der kommunizierenden aktiven Materie. Lokale Entscheidungsfindungen als Reaktion auf ein Signal beziehungsweise die Übertragung von Informationen führen zu einer kollektiv kontrollierten Selbstorganisation.
Das neue Modell ist geeignet für den Entwurf von Robotersystemen in der Nanotechnologie, um die kollektiven Eigenschaften von Roboterschwärmen zu beschreiben. Als möglichen Einsatzbereich des neuen Modells sieht Frey Softroboter, also Roboter, die aus weichen Materialien bestehen und sich eignen, um beispielsweise im Körper von Menschen Aufgaben zu erledigen. Sie können über elektromagnetische Wellen mit anderen Softrobotern kommunizieren, etwa, um an bestimmten Stellen Medikamente zu verabreichen.

„Es reicht, grob zu verstehen, wie einzelne Agenten miteinander kommunizieren; der Rest läuft dann per Selbstorganisation“, so Frey. „Gerade in der Robotik ist das ein Paradigmenwechsel – hier versuchen Forschende genau das Gegenteil, sie wollen eine extrem hohe Kontrolle erreichen.“ Doch das gelinge nicht immer. „Unser Vorschlag ist hingegen, die Fähigkeit der Selbstorganisation auszunutzen.“

Ludwig-Maximilians-Universität München


Originalpublikation:

Alexander Ziepke, Ivan Maryshev, Igor S. Aranson & Erwin Frey: Multi-scale organization in communicating active matter. Nature Communications, DOI: 0.1038/s41467-022-34484-2, online unter https://www.nature.com/articles/s41467-022-34484-2