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Neues Modell ermöglicht detaillierte Einblicke in die Informationsverarbeitung im Gehirn

Darstellung einer Synapse zwischen zwei Gehirnzellen mit Neurotransmittern (gelb).
Darstellung einer Synapse zwischen zwei Gehirnzellen mit Neurotransmittern (gelb). Kaori Serakaki, 2025

Vesikel sind kleine Bläschen, die Botenstoffe transportieren, die für die Kommunikation zwischen den Nervenzellen essentiell sind. Fehlfunktionen in diesem Zyklus können zur Entstehung neurologischer Erkrankungen führen. Forschende haben jetzt ein Computermodellierungssystem entwickelt, das den gesamten Zyklus – von der Bildung bis zum Recycling – sogenannter Vesikel darstellt. 

Denken, fühlen, erinnern oder bewegen – diese Prozesse beinhalten die Übertragung von Botenstoffen zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Daran beteiligt sind kleine Bläschen, sogenannte Vesikel, die die Botenstoffe durch die Nervenzelle transportieren. An den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, setzen die Vesikel die Botenstoffe frei, damit diese mit der gegenüberliegenden Nervenzelle interagieren können, um so die Informationsweiterleitung sicherzustellen. Die Vesikel hingegen werden entweder abgebaut oder für kommende Transporte wiederverwendet. Fehlfunktionen in diesem Prozess können die Entstehung neurologischer Erkrankungen begünstigen. Der Vesikel-Zyklus – von der Bildung bis zum Abbau oder Recycling – ist bisher nicht vollständig geklärt. 

Einem internationalen Team von Forschenden um Prof. Dr. Silvio O. Rizzoli, Direktor des Instituts für Neuro- und Sinnesphysiologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), Sprecher des Center for Biostructural Imaging of Neurodegeneration (BIN) sowie Mitglied des Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC), und Prof. Dr. Erik De Schutter, Leiter der Computational Neuroscience Unit im Okinawa Institute of Science and Technology (OIST) in Japan, ist es gelungen, den vollständigen Vesikel-Zyklus in einem noch nie dagewesenen Detaillierungsgrad am Computer abzubilden. Das neue Modellierungssystem berücksichtigt das komplizierte Zusammenspiel der Vesikel, ihrer zellulären Umgebung, Aktivitäten und Interaktionen, und zeichnet so ein realistisches Bild, wie Vesikel die synaptische Übertragung von Botenstoffen unterstützen. Da das Modell das Verhalten von Vesikeln vorhersagen kann, konnten die Wissenschaftler*innen erstmals überprüfen, wie sich die Vesikel unter hochfrequenten Stimulationsbedingungen verhalten. Eine Situation, weitab der natürlichen Bedingungen, die im Gehirn ablaufen. Das neue Modellierungssystem erweitert somit das Wissen über die Funktionalität von Synapsen und der Funktionsweise des Gehirns. Diese Erkenntnisse könnten als neue Ansatzpunkte für die Behandlung verschiedener neurologischer Erkrankungen dienen.

„Wir arbeiten seit über 20 Jahren an Synapsen, doch einige Funktionsschritte sind noch immer unklar und experimentell kaum zu testen. Nach mehrjähriger Feinabstimmung experimenteller und rechnerischer Arbeit mit unseren Kolleg*innen aus Japan verfügen wir nun über ein Modell, das viele neue Details erklärt und als Werkzeug für die Überprüfung neuer Hypothesen, insbesondere im Krankheitskontext, dienen soll“, sagt Prof. Rizzoli, Mitautor der Studie. 

„Das Vesikel-Recycling spielt bei verschiedenen Krankheiten eine Rolle, so ist beispielsweise die Freisetzung von Neurotransmittern bei einigen myasthenischen Syndromen gestört, wodurch es zu einer Muskelschwäche kommt. Auch die Behandlung von Depressionen und anderen schweren neurologischen Erkrankungen konzentriert sich häufig auf die synaptische Übertragung“, ergänzt Prof. De Schutter, ebenfalls Mitautor der Studie. „Wenn wir unsere Modelle erweitern, ergeben sich vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, sowohl für die Entwicklung neuer Therapeutika als auch für die Vertiefung unseres grundlegenden Verständnisses wie das Gehirn funktioniert.“

Was ist der synaptische Vesikel-Zyklus?

Der Vesikel-Zyklus beschreibt die Schritte für den Transport der Botenstoffe, auch Neurotransmitter genannt, durch die Nervenzelle bis zur Synapse, der Kontaktstelle zwischen den Nervenzellen. Die Vesikel docken an der synaptischen Membran an, verschmelzen mit dieser und setzen die Neurotransmitter in den synaptischen Spalt frei. Die Vesikel werden anschließend abgebaut oder recycelt. Dieser Prozess wird durch elektrische Stimulationen im Gehirn ausgelöst und durch eine komplexe Informationsweitergabe gesteuert. Je nach Situation müssen unterschiedliche Mengen an Neurotransmittern über unterschiedliche Zeiträume hinweg freigesetzt werden. Um eine kontrollierte und anhaltende synaptische Übertragung zu ermöglichen, stehen nur zehn bis 20 Prozent der Vesikel jederzeit zum Andocken bereit und werden als Recycling-Pool bezeichnet. Die Mehrheit der Vesikel befindet sich hingegen in einem Reservepool. Viele Details dieses Prozesses, einschließlich der Art und Weise, wie sich Vesikel zwischen dem Reserve- und dem Recycling-Pool bewegen, waren bisher nur unzureichend bekannt.

Die Mechanismen des Vesikel-Recyclings bei hoher Stimulationsfrequenz

Im Fokus der Studie steht der Vesikel-Recyclingprozess in den Synapsen des Hippocampus, dem Teil des Gehirns, der an der Gedächtnisbildung beteiligt ist. Ziel war es, mit dem Modell sowohl das Verhalten von Vesikeln bei experimentell erzeugten elektrischen Impulsen, die der Informationsweiterleitung dienen, zu untersuchen, als auch bei höheren Frequenzen. Die Forschenden entdeckten, dass der Vesikel-Zyklus bei hohen Stimulationsfrequenzen funktioniert, die weit über das hinausgehen, was normalerweise in der Natur vorkommt. Zudem konnten die Wissenschaftler*innen Schlüsselproteine identifizieren, die die Vesikel-Freisetzung aus dem Reservepool regulieren.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Effizienz des Vesikel-Zyklus von der molekularen Bindung abhängt. Durch die physische Verbindung einiger Vesikel mit der Membran mit Hilfe von „Bindegliedern“ könnte ein Vorrat an Vesikeln für das schnelle Andocken und die Freisetzung von Neurotransmittern bereitgestellt werden.

Universität Göttingen


Originalpublikation: 
Andrew R. Gallimore, Iain Hepburn, Silvio Rizzoli and Erik De Schutter. Dynamic Regulation of Vesicle Pools in a Detailed Spatial Model of the Complete Synaptic Vesicle Cycle. Science Advances (2025). DOI: https://doi.org/10.1126/sciadv.adq6477