Landnutzungs- und Klimaforscher kritisieren die EU-Pläne zur CO2-Reduzierung im Rahmen des Pakets „Fit for 55“. In einem Kommentar im Fachjournal „Nature“ weist ein Team von Wissenschaftlern, darunter Dr. Thomas Kastner vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt, auf die Versäumnisse und Risiken der geplanten Regelungen hin. Das geplante „Fit for 55“-Paket enthalte viele sehr gute Ansätze – gleichzeitig würden durch falsche Anreize in der EU aber künftig noch mehr wertvolle Flächen für den Holz- statt Nahrungsmittelanbau sowie für die Gewinnung von Bio-Kraftstoffen genutzt. Dies treibe unter anderem die Auslagerung der Nahrungsmittelproduktion ins Ausland und damit die Abholzung von Wäldern weiter voran, so die Forscher. Die Förderung der Bioenergie wirke sich so negativ auf CO2-Speicherung und Biodiversität aus.
Bis zum Jahr 2050 soll die Europäische Union klimaneutral werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wird im Rahmen des europäischen „Green Deal“ das Maßnahmenpaket „Fit for 55“ auf den Weg gebracht − bis 2030 sollen so die CO2-Emissionen in der EU um 55 Prozent gegenüber dem Wert von 1990 reduziert werden. Nachdem im November eine Einigung für den Sektor Landnutzung erzielt wurde, gibt es deutliche Kritik von Forschenden aus diesem Bereich. In ihrem jetzt im renommierten Fachjournal „Nature“ erschienenen Kommentar kritisieren fünf Wissenschaftler den im Maßnahmenpaket vorgesehenen Umgang mit Bioenergie. Sie weisen mit Nachdruck auf die verdeckten Gefahren hin, wenn in der EU und darüber hinaus künftig noch mehr Flächen für die Bioenergiegewinnung genutzt und dafür weitere Teile der Nahrungsmittelproduktion ins Ausland verlagert werden. Statt CO2-Einsparung droht in der EU und global der weitere Verlust von CO2-Speichern und Biodiversität, so die Wissenschaftler.
„Das Problematische am „Fit for 55“-Paket ist, dass der Anbau von Biomasse generell für CO2-neutral erklärt und deshalb gefördert wird“, erläutert Thomas Kastner vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt und fährt fort: „Bioenergie ist aber nicht CO2-neutral! Die EU ignoriert die Folgen gesteigerter Landnutzung. Einerseits stehen Flächen, die für die Produktion von Bioenergie genutzt werden, nicht für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung. Lebensmittel müssen importiert werden, wofür in anderen Ländern wiederum Wälder abgeholzt werden. Das Problem wird so nur verlagert. Gleichzeitig fehlen zur Bioenergiegewinnung genutzte Flächen als CO2-Speicher und Lebensraum für gefährdete Arten.“
Nach Berechnungen der EU werden 2050 in Europa 22 Millionen Hektar Agrarland und damit 20 Prozent aller Anbauflächen zur Produktion von Biokraftstoff genutzt. Für denselben Zweck und die Bewirtschaftung von Nutzwäldern verschwindet bis dahin etwa die Hälfte naturnaher Wiesenflächen. So verliert Europa in signifikantem Umfang Flächen, die zur Erhaltung der Artenvielfalt und als CO2-Speicher von Bedeutung sind.
„Gleichzeitig werden falsche Anreize für Energie-Kund*innen gesetzt: Die Industrie, Energie- und Transportunternehmen erhalten Emissionsgutschriften für die Nutzung von Bioenergie, unabhängig von den tatsächlichen Auswirkungen auf die CO2-Bilanz. Dabei führt beispielsweise der Abbau von Holz zur Energiegewinnung nachweislich auf Jahrzehnte zu einer höheren CO2-Konzentration in der Atmosphäre“, kritisiert Erstautor des Kommentars Timothy D. Searchinger vom Center for Policy Research on Energy and the Environment der Universität Princeton (USA).
Die Forscher sehen aber auch Potenziale, um bis 2050 bis zu 17 Millionen Hektar Anbauflächen „einzusparen“. Dazu müsste Europa unter anderem den Biokraftstoffverbrauch in moderatem Umfang auf das Level von 2010 senken. Der geringere Flächenverbrauch würde es erlauben, Moore zu renaturieren und Altwälder zu erhalten – als wichtige CO2-Speicher und Raum für biologische Vielfalt.
Um das „Fit for 55“-Paket zu verbessern und falsche Anreize zu reduzieren, plädieren die Forscher dafür, die CO2-Bilanz von Bioenergie realistischer zu berechnen: „Die EU sollte die CO2-Opportunitätskosten der Bioenergie – also das durch die Landnutzung entgangene CO2-Speicher-Potenzial − in die Berechnungsgrundlagen für alle Klima- und Energiegesetze einbeziehen“, schlägt Kastner vor. „Landnutzung ist nie ‚umsonst‘, für das Klima und die CO2-Bilanz hat sie immer einen Preis. Der muss in den EU-Klimazielen abgebildet sein. Nur so können die geplanten Maßnahmen effektiv den Klimaschutz und die Biodiversität fördern.“
Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum
Originalpublikation:
Searchinger, T., James, O., Dumas, P., Kastner, T., Wirsenius, S. EU climate plan sacrifices carbon storage and biodiversity for bioenergy. A Comment published in Nature 612, 27–30 (2022). https://doi.org/10.1038/d41586-022-04133-1