Pflanzen bilden eine beeindruckende Bandbreite von Stoffwechselprodukten, darunter auch viele medizinisch wertvolle Steroide. Bekannte Beispiele dieser Stoffklasse, die aus Pflanzen gewonnen werden, sind Herzglykoside, auch Cardenolide genannt. Bereits im Jahr 1785 veröffentlichte der britische Arzt William Withering (1741-1799) eine Abhandlung über den roten Fingerhut und dessen Anwendung in der Medizin (An account of the foxglove, and some of its medical uses: with practical remarks on dropsy, and other diseases. Birmingham 1785). Er hatte in Experimenten herausgefunden, dass die Einnahme von Extrakten dieser Pflanze den Harnfluss von Erkrankten steigerte und somit Wasseransammlungen im Körper behandelt werden konnten. Dass die Inhaltsstoffe des Fingerhuts direkt auf das Herz wirken, war ihm allerdings nicht bekannt. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden pflanzliche Herzglykoside aufgrund ihrer Wirkung auf den Herzmuskel für die Behandlung von Herzinsuffizienz oder Herzrhythmusstörungen verwendet. „Neben ihrer Wirkung auf die Kontraktionskraft des Herzens wurden Cardenolide in den letzten Jahren mit großem Erfolg zur Behandlung verschiedener Krebserkrankungen eingesetzt. Die entsprechenden pflanzlichen Biosynthesewege sind jedoch trotz der Erfolge dieser Steroidmoleküle in der Humanmedizin weitgehend unbekannt geblieben. Unser Ziel war es daher, zu verstehen, wie Pflanzen diese hochkomplexen Moleküle aus vorhergesagten, aber einfachen Ausgangsstoffen herstellen,“ erklärt Erstautorin Maritta Kunert.
Neben dem Fingerhut untersuchte das Forschungsteam noch eine weitere Pflanzenart, den Fettlaubbaum oder Oscher. Beide Pflanzen gehören zwar unterschiedlichen Pflanzenfamilien an, bilden jedoch große Mengen von Herzglykosiden. Da es sich bei den untersuchten Pflanzenarten nicht um Modellpflanzen handelt, deren Genom entschlüsselt ist und in denen viele Genfunktionen bekannt sind, war das Projekts für das Forschungsteam anfangs eine Art „Black Box“, denn das Team konnte nicht auf bereits vorhandene Datensätze und Standardmethoden zurückgreifen. Ausgangspunkt der Studie war, dass frühere Arbeiten in einer verwandten Fingerhutart nahelegten, dass die Biosynthese über das Molekül Pregnenolon erfolgt, das auch manchmal als die „Mutter aller Steroidhormone“ bezeichnet wird, denn alle wichtigen Steroidhormone wie Testosteron, Progesteron und Östrogen gehen beim Menschen auf den Ausgangsstoff Pregnenolon zurück.
„Wir identifizierten die an der Cardenolid-Biosynthese beteiligten Kandidaten-Gene durch eine vergleichende Analyse beider Pflanzenarten. Die Strukturen der Herzglykoside in diesen Pflanzen weisen sowohl überlappende als auch abweichende Profile auf. Daher war der Vergleich von Informationen über das Genom der Pflanzen, insbesondere welche Gene exprimiert wurden im Hinblick auf die Bildung von Stoffwechselprodukten in diesen beiden Pflanzen, sehr hilfreich, um Enzyme zu identifizieren, die an der Bildung von Pregnenolon beteiligt sind“, sagt Studienleiter Prashant Sonawane, der in der Abteilung Naturstoffbiosynthese die Projektgruppe „Spezialisierter Steroid-Stoffwechsel in Pflanzen“ leitet.
Es war auch noch nicht bekannt, wo die Wirkstoffe von Interesse in den jeweiligen Pflanzenteilen angereichert werden. „Die Cardenolide gewebespezifisch zu lokalisieren, war entscheidend, um die genetischen Datensätze so zu nutzen, dass eine Auswahl von 13 Kandidaten-Genen möglich wurde. Der Vergleich dieser Datensätze über verschiedene Pflanzen hinweg half uns, die Zahl der in Frage kommenden Gene für die weitere Charakterisierung zu reduzieren“, erklärt Prashant Sonawane.
Schließlich gelang es, zwei Enzyme aus der Cytochrom-P450-Familie 87A zu identifizieren, die im Fingerhut und im Fettlaubbaum sowohl Cholesterol als auch Phytosterol in Pregnenolon umwandeln. Somit was der erste Schritt in der Biosynthese der Herzglykoside in diesen beiden nur entfernt verwandten Pflanzen ermittelt. Wichtig ist, dass dies die erste enzymatische Funktion ist, die für diese Unterfamilie von Cytochrom P450 berichtet wird.
Ihren Fund überprüften die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, indem sie Pflanzen des Modellsystems Arabidopsis thaliana so veränderten, dass diese die CYP87A-Enzyme vermehrt bildeten. Die genetisch derart veränderten Arabidosis-Pflanzen reicherten ungewöhnlich viel Pregnenolon an. Ein weiterer Beleg für die Beteiligung der CYP87A-Enzyme an der Bildung von Pregnenolon waren genetisch veränderte Fingerhutpflanzen, denen CYP87A-Enzyme in den Blättern fehlten. In diesen Pflanzen war die Bildung von Pregnenolon und Herzglykosiden stark verringert. Das Forschungsteam konnte erstmals ein stabiles Transformationssystem entwickeln, um Fingerhutpflanzen für die Untersuchung spezieller Metaboliten zu verändern.
Mit der Entschlüsselung des ersten enzymatischen Schritts der Cardenolid-Biosynthese will sich das Forschungsteam noch lange nicht zufriedengeben. „Wir arbeiten bereits an den nachgeschalteten Schritten zur Bildung von Herzglykosiden in verschiedenen Pflanzenarten. Dieser Biosyntheseweg ist lang und hochkomplex. Mit der Möglichkeit, neueste Methoden der Sequenzierung, Bioinformatik und Metabolomik über mehrere Pflanzenarten hinweg anzuwenden, können wir dieses Rätsel hoffentlich bald lösen,“ meint Prashant Sonawane.
Viele pharmazeutische Wirkstoffe werden von Pflanzen produziert. Die Gewinnung dieser Naturstoffe ist häufig immer noch sehr aufwändig und oft wenig nachhaltig. Die Abteilung Naturstoffbiosynthese am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie unter der Leitung von Sarah O’Connor hat es sich zum Ziel gesetzt, die Biosynthesewege wichtiger sekundärer Pflanzenstoffe von medizinischer Relevanz aufzuklären. „Die Entdeckung von Enzymen wie CYP87A kann dazu beitragen, biologische Plattformen für die nachhaltige Herstellung hochwertiger pflanzlicher Verbindungen zu entwickeln, indem wir andere Pflanzen für ihre Biosynthese nutzen“, sagt Sarah O‘Connor.
Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Originalpublikation:
Kunert, M., Langley, C., Lucier, R. et al. Promiscuous CYP87A enzyme activity initiates cardenolide biosynthesis in plants. Nat. Plants (2023). doi.org/10.1038/s41477-023-01515-9