Krebszellen halten sich bei der Zellteilung nicht so genau an die sonst dafür geltenden strengen Regeln. Sie verlieren dabei schon mal ein oder zwei Chromosomen oder erhöhen die Zahl beliebig. So zeigen Krebszellen viele verschiedene Chromosomen-Veränderungen, die sich mit der Zeit immer weiterentwickeln. Diese sogenannte chromosomale Instabilität ist typisch für Krebszellen. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass Tumoren aggressiv und unkontrollierbar wachsen und eine Resistenz gegenüber Anti-Krebs-Therapien entwickeln. Bisher ist nur wenig verstanden, wie diese Chromosomen-Veränderungen zustande kommen und welche Tumorfördernden Gene hierbei eine Rolle spielen.
Einem Forscherteam der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) unter Leitung von Prof. Dr. Holger Bastians vom Institut für Molekulare Onkologie und vom Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften ist es zusammen mit Biomathematikern um Prof. Dr. Maik Kschischo, Fachbereich Mathematik und Technik der Universität Koblenz, gelungen, neue Erkenntnisse über die Entstehung der chromosomalen Instabilität in Krebszellen zu gewinnen. Die Wissenschaftler*innen konnten zeigen: Bestimmte Gene agieren als Schlüssel-Regulatoren für die Erzeugung von chromosomalen Abnormalitäten und damit für die Tumorentwicklung.
„Diese Gene regulieren die Anzahl von Startstellen der Chromosomen-Vervielfältigung in einem wichtigen Schritt der Zellteilung, der DNA-Replikation. Die neu-gefundenen „Startstellen“-Gene sind als neue Klasse von Tumor-fördernden Onkogenen einzuordnen“, sagt Prof. Bastians. „Es ist uns zudem gelungen, Methoden zu entwickeln, die überzähligen Replikations-Startstellen in Krebszellen wieder zu reduzieren. Dies führte zu einer Unterdrückung der Genom-Instabilität und hat damit eine große Bedeutung für die Entwicklung neuer Therapie-Konzepte zur Behandlung von Krebs“, so Prof. Bastians.
Die Forschungen wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Forschungsgruppe 2800 „Chromosomen-Instabilität: Wechselwirkungen von DNA-Replikationsstress und mitotischer Fehlfunktion“ (FOR2800) gefördert und im Dezember 2022 in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift "Cell Reports" veröffentlicht.
Chromosomeninstabilität von Krebszellen
Krebszellen produzieren durch Zellteilungen – im Gegensatz zu normalen menschlichen Zellen – oft unkontrolliert und fehlerhaft neue Tochterzellen. Der Vorgang einer korrekt ablaufenden Zellteilung erfordert zunächst die Verdopplung der Chromosomen während der sogenannten DNA-Replikation. Die akkurat verdoppelte Erbinformation, die auf 46 Chromosomen verteilt ist, wird dann im nächsten Schritt während der sogenannten Mitose gleichgerecht auf zwei Tochterzellen verteilt. Fehler in dem einen oder anderen Prozess können zu Chromosomendefekten führen. Dies ist in den allermeisten Krebszellen der Fall und wird als Genom- oder Chromosomen-Instabilität bezeichnet. Die genetischen Veränderungen betreffen sowohl den Austausch von Teilen der genetischen Information auf den Chromosomen als auch den Verlust oder Zugewinn ganzer Chromosomen, also die Erzeugung von sogenannten Aneuploidien.
Mehr Startstellen bei der DNA-Replikation führen zu Chromosomeninstabilität
Am Anfang der Untersuchungen standen umfassende biomathematische Analysen anhand von fast 10.000 Tumorproben. Diese zeigten, dass sogenannte „Startstellen“-Gene immer dann besonders aktiv sind, wenn Tumoren eine hohe chromosomale Instabilität und eine ausgeprägte Aggressivität zeigen. Die Göttinger Forscher*innen konnten mittels zellbiologischer Analysen und unter Einsatz von Lebendzell-Mikroskopie belegen: Eine hohe Aktivität dieser neuen „Onkogene“ führt zu einer erhöhten Anzahl von Replikations-Startstellen. „Und genau dies ist der Schalter für die chromosomalen Veränderungen in Krebszellen“, sagt Prof. Bastians, Letzt-Autor der Publikation.
Auch andere Mechanismen können zum gleichen Ergebnis der Genom-Instabilität führen, stellten die Forscher*innen fest: In Situationen von sogenannten Replikationsstress. kommt es zu einer abnormalen Verlangsamung der DNA-Vervielfältigung. „Interessanterweise zeigen Krebszellen sehr häufig diesen Replikationsstress. Und genau diese Zellen zeigen auch viel mehr aktive Startstellen für die DNA-Replikation, was wiederum zu Erzeugung von chromosomalen Verände-rungen in den Krebszellen führt“, sagt Prof. Dr. Holger Bastians.
Forschungsergebnisse im Detail
Für die Forscher*innen überraschend zeigten die biomathematischen Analysen der Tumorproben, dass vor allem Gene, die üblicherweise die DNA-Replikation regulieren, auch direkt die ordnungsgemäße Chromosomenverteilung in der Mitose beeinflussen. Diese Gene haben insbesondere eine Funktion bei der Regulation der Startpunkte der DNA-Replikation an bestimmten Stellen auf den Chromosomen. Normalerweise sind diese Startstellen gleichmäßig auf den Chromosomen verteilt, um eine genaue Verdopplung der Erbinformation für die nachfolgende Zellteilung zu gewährleisten. In Krebszellen steigt aber die Anzahl der Startpunkte dramatisch an, was durch die Hyper-Aktivität der in der Studie identifizierten Startstellen-Gene bedingt sein kann.
Weitere zell- und molekularbiologische Untersuchungen im Labor zeigten dann, dass nicht nur eine hohe Aktivität der Startpunkt-Gene für die Defekte bei der Chromosomenverteilung wichtig sind. Auch eine Verlangsamung der DNA-Replikation kann zu einer Erhöhung der Anzahl der Startpunkte führen. Um die Chromosomenverteilung in lebenden Krebszellen und die DNA-Replikation direkt an den Chromosomen zu verfolgen, setzten die Doktorandinnen am Institut für Molekulare Onkologie der UMG und Erst-Autorinnen der Studie, Nicolas Böhly und Ann-Kathrin Schmidt, insbesondere verschiedene Mikroskopieverfahren ein.
„Unsere Einzelzell-Analysen haben gezeigt, dass die Verlangsamung der DNA-Replikation gleich zwei Defekte in Krebszellen auslösen können“, sagt Prof. Basti-ans, „Zum einen werden Teile der Erbinformation nicht vollständig verdoppelt, wobei dies zu teilweisem DNA-Informationsverlust in den Krebszellen führen kann. Zum anderen werden zusätzliche Startpunkte bei der DNA-Replikation erzeugt. In der Folge kommt es zum Zugewinn oder Verlust ganzer Chromosomen. Dies erklärt, warum in besonders aggressiven Krebszellen fast immer diese strukturellen und numerischen Chromosomen-Defekte gleichzeitig vorhanden sind“, sagt Prof. Kschischo, der seit Jahren mit biomathematischen Methoden Tumorproben auf ihre Genominstabilität analysiert.
„Da wir bereits Möglichkeiten gefunden haben, um die Startstellen-Defekte in Tumorzellen zu korrigieren, haben unsere Ergebnisse auch eine Bedeutung für die Entwicklung von neuen Therapieverfahren“, sagt Prof. Bastians. „Wir wollen als Nächstes analysieren, wie sich die Korrektur der Defekte auf das Verhalten der Krebszellen auswirkt und inwieweit wir möglicherweise damit Therapien verbessern können.“
Universitätsmedizin Göttingen, Georg August Universität
Originalpublikation:
Nicolas Böhly, Ann-Kathrin Schmidt, Xiaoxiao Zhang , Benja-min O. Slusarenko, Magdalena Hennecke, Maik Kschischo, Holger Bastians (2022). Increased replication origin firing links replication stress to whole chromosomal in-stability in human cancer. Cell Rep. 2022 Dec 13;41(11):111836. doi: 10.1016/j.celrep.2022.111836, https://doi.org/10.1016/j.celrep.2022.111836