Fossile Funde von Fraßschäden an Pflanzen, die auf Insekten zurückzuführen sind, sind Belege dafür, dass Insekten Pflanzen schon seit mehr als 400 Millionen Jahren als Nahrungsquelle nutzen. Wie pflanzenfressende Insekten überhaupt die schwerverdaulichen Bestandteile ihrer pflanzlichen Nahrung abbauen können, untersuchen Forschende um Roy Kirsch und Yannick Pauchet aus der Abteilung Insektensymbiose. Sie hatten bereits in früheren Arbeiten gezeigt, dass Pektin abbauende Enzyme weit verbreitet in pflanzenfressenden Käferarten vorkommen. Sie konnten auch nachweisen, dass die Käferenzyme ausnahmslos mikrobiellen Ursprungs waren. Die Fragestellung der aktuellen Studie lautete daher, welche Bedeutung diese Enzyme für die Ernährung der Käfer, in diesem Fall des Meerrettichblattkäfers Phaedon cochleariae, und ihre Fitness haben.
„Unser Ziel war es, besser zu verstehen, wie pflanzenfressende Insekten mit der pflanzlichen Zellwand umgehen, die den Großteil ihrer Nahrung ausmacht. Pektin ist die Matrix, die die Zellulose- und Hemizellulosefasern in die pflanzliche Zellwand einbettet, und es ist der Hauptbestandteil der zellverbindenden Mittellamellen. Folglich muss Pektin zuerst verdaut werden, damit die Enzyme Zellulase und Hemizellulase an ihre Substrate gelangen und die Pflanzenzellen schließlich von ihrer schützenden Zellwand befreit werden. In diesem Zusammenhang sind Pektinasen, also Pektin abbauende Enzyme, die Schlüssel für eine effiziente Verdauung der Nahrung eines Blattkäfers,“ sagt Erstautor Roy Kirsch.
Um die Rolle der Pektinasen zu überprüfen, erzeugten die Forschenden Käferlinien, in denen diese Enzyme nicht vorhanden waren. Dies stellte sich zunächst als schwieriger heraus als gedacht. „Nicht einmal eine drastische Verringerung der Pektinase-Aktivität durch Knockdown-RNAi-Experimente in Blattkäferlarven reichte aus, um die Pektinverdauung effektiv zu hemmen. Eine vollständige Ausschaltung der Pektinase-kodierenden Gene in den Blattkäfern war erst mit der Genom-Editierung CRISPR/Cas9 möglich“, unterstreicht Studienleiter Yannick Pauchet die Bedeutung der „Genschere“, einer Technologie, für die Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna 2020 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurden.
Die Larven der so erzeugten „Pektinase-Null-Mutanten“ stellten sich als wenig überlebensfähig heraus. Eine weitere Fragestellung war nun, ob die Abbauprodukte der Pektinverdauung die Überlebensfähigkeit dieser Käfer verbessern würde, wenn sie den Käferlarven oral verabreicht wurden. Dies war aber, wie Fütterungsexperimente ergaben, nicht der Fall. „Einerseits war dieses Ergebnis für uns eine kleine Überraschung, andererseits war es ein wichtiger Hinweis darauf, dass Blattkäfer Pektin nicht verdauen, um die Abbauprodukte zu nutzen, sondern dass die Zerstörung von Pektin und wahrscheinlich auch anderer pflanzlicher Zellwandpolysaccharide den Zugang zum proteinreichen Zytoplasma der Pflanzenzellen erleichtert,“ fasst Roy Kirsch die Ergebnisse zusammen.
Forschungsarbeiten der letzten Jahre, darunter auch aus der Projektgruppe von Yannick Pauchet, zeigten, dass der Erwerb von mikrobiellen Enzymen über horizontalen Gentransfer zum Artenreichtum der Blattkäfer, aber auch von Vertretern anderer Insektengruppen, wie Rüsselkäfer, Borkenkäfer und Gespenstschrecken, beigetragen hat. Die Aneignung der Enzyme aus anderen, mikrobiellen Organismen, könnte man als evolutionäre Abkürzung bezeichnen; in jedem Fall schaffte sie überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass sich Insekten pektinreiche Pflanzen als Nahrungsgrundlage erschließen konnten. „Es birgt vielleicht eine gewisse Ironie, dass sich Pektinasen vermutlich zuerst in Pflanzen entwickelten, um die Pektinstruktur dynamisch an die sich ändernden Bedürfnisse der Pflanze anzupassen. Diese Enzyme wurden dann von pflanzenpathogenen Mikroorganismen erworben, die sie wiederum an pflanzenfressende Insekten weitergaben. Pflanzliche Anpassungsstrategien bergen offenbar immer auch Risiken und Nebenwirkungen,“ meint Roy Kirsch.
Es gibt allerdings auch Blattkäferarten, die symbiotische Bakterien beherbergen, die Pektinasen für ihre Wirte produzieren. Sogenannte "Knockin“-Experimente, bei denen mittels Genschere ein Pektinase-Gen ins Käfergenom eingebracht wird, sollen nun zeigen, wie sich diese neue Eigenschaft des Käfers nicht nur auf Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und Insekten, sondern auch auf Interaktionen zwischen Insekten und ihren bakteriellen Partnern auswirken. Auch andere Enzyme, die nicht Pektin, sondern weitere pflanzliche Zellwandbestandteile abbauen, sollen in den Fokus zukünftiger Studien rücken. Die Arbeiten von Roy Kirsch, Yannick Pauchet und ihrem Team zeigen, dass für das Überleben eines Insekts auf einer Wirtspflanze nicht nur die Anpassung an pflanzliche Abwehrstoffe, wie Gifte und Fraßhemmer und andere sekundäre Stoffwechselprodukte, wichtig ist. Vielmehr rücken sie den bislang in der Forschung zu Pflanzen-Insekten-Interaktionen vernachlässigten Primärstoffwechsel in den Mittelpunkt. „Die Fähigkeit eines Insekts, diese primären Stoffwechselprodukte zu verdauen, ist ebenso wichtig für den evolutionären Erfolg von pflanzenfressenden Insekten,“ sagt Yannick Pauchet.
Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Originalpublikation:
Kirsch, R.; Okamura, Y.; Häger, W.; Vogel, H.; Kunert, G.; Pauchet, Y.: Metabolic novelty originating from horizontal gene transfer is essential for leaf beetle survival. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 119 (40), e2205857119 (2022) https://doi.org/10.1073/pnas.2205857119