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Das Bildungssystem arbeitet am Anschlag und steht unter großem Anpassungsdruck

Studenten im Labor
Bild: Pixabay

Wie der aktuelle nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2024“ zeigt, steht das Bildungssystem vor großen Herausforderungen. Dazu zählen der Mangel an Fachpersonal, eine unzureichende Finanzierung, ein hoher Transformationsbedarf durch Zuwanderung und Digitalisierung, stagnierende und zum Teil sogar sinkende Schulleistungen sowie anhaltende soziale Ungleichheiten. Zugleich ist in einigen Bildungsbereichen die Nachfrage höher als das Angebot. Eine stärkere Abstimmung zwischen Politik, Verwaltung, Praxis und Wissenschaft erscheint geboten. Das macht auch das Schwerpunktkapitel des Berichts zur beruflichen Bildung deutlich.

„Angesichts der vielschichtigen Herausforderungen für das Bildungssystem gilt es, bereichsübergreifend alle Aktivitäten und Ressourcen klug, kohärent und nachhaltig miteinander zu verzahnen. Denn das System arbeitet vielerorts bereits am Anschlag, nicht zuletzt aufgrund stetiger Aus- und Umbaumaßnahmen und der angespannten Situation beim Fachpersonal“, sagt Professor Dr. Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und Sprecher der für den Bildungsbericht verantwortlichen Gruppe von Wissenschaftler*innen. Er fügt hinzu: „Verschiedene weitreichende Entwicklungen bringen zusätzlichen Anpassungsdruck mit sich. So stellt etwa die Integration von Personen mit Flucht- und Migrationserfahrung inzwischen eine Daueraufgabe und große Herausforderung dar, für die es bislang keine nachhaltigen Konzepte gibt. Bildungsprozesse müssen zudem vermehrt digital gestaltet und der Kulturwandel durch die Digitalisierung mitgedacht werden.“

Der nationale Bildungsbericht wird alle zwei Jahre auf Basis von amtlichen Statistiken und sozialwissenschaftlichen Daten und Studien erstellt. Als systematische Bestandsaufnahme des gesamten Bildungswesens analysiert auch die aktuelle Ausgabe langfristige Entwicklungen und benennt neue Impulse.

Übergreifende Trends im Bildungssystem:

Die finanziellen Investitionen in Bildung steigen, decken aber nicht ausreichend den Bedarf. In den vergangenen zehn Jahren sind die Ausgaben für Bildung um 46 Prozent gestiegen. Bezogen auf die Wirtschaftskraft Deutschlands ist ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt allerdings nur um 0,2 Prozentpunkte angewachsen. Um über alle Lebensphasen hinweg ein hochwertiges Bildungsangebot zu sichern, müsse das Bildungssystem flexibel und bedarfsorientiert ausfinanziert werden, so die Autor*innengruppe.

Die Zahl der Bildungseinrichtungen lag 2022 um 6 Prozent über dem Stand von 2012. Auch die Anzahl der Bildungsteilnehmer*innen hat sich 2022 im Vergleich zu 2012 erhöht – auf 17,9 Millionen Personen. Die Expansion von Bildungsangeboten hält also bei teils steigender Nachfrage an. In einigen Bereichen, etwa bei der Ganztagsbetreuung, übersteigt die Nachfrage oftmals das Angebot.

Insgesamt wird das Bildungssystem stetig, aber eher reaktiv als proaktiv um- und ausgebaut. Gerade in den vergangenen zwei Dekaden seien viele Maßnahmen ergriffen worden, um Bildungsangebote auszuweiten, ihre Qualität zu verbessern und große Förderprogramme auf den Weg zu bringen. Diese könnten jedoch allenfalls Impulse geben, aber keine strukturbildenden Maßnahmen auf rechtlicher Grundlage ersetzen, heißt es in dem Bericht.

„Vor dem Hintergrund großer gesamtgesellschaftlicher Veränderungen gilt es, einen Verständigungsprozess darüber anzustoßen, welche Ziele, Verantwortlichkeiten und Aufgaben das Bildungssystem und seine Institutionen übernehmen können und sollen“, sagt Kai Maaz. „Insgesamt müssen die Strukturen für die Steuerung des Bildungswesens so gestaltet sein, dass alle relevanten Akteur*innen abgestimmt und auf Augenhöhe zusammenarbeiten können – innerhalb und zwischen den Bildungsbereichen. Wichtig ist dabei, auf geteilte Ziele hinzuarbeiten und zu evaluieren, ob diese erreicht werden.“ Er spricht sich für ein wissenschaftsbasiertes Monitoring-System aus, das es noch nicht in allen Bundesländern gibt, das es aber ermöglichen würde, Daten von der Individualebene bis auf die Systemebene zu aggregieren. Das könne helfen, steuerungsrelevante Informationen zu individuellen Lernverläufen und den Wirkungen von Bildungsreformen zu generieren und den Aufwand in den Bildungseinrichtungen zu minimieren.

Personalmangel:

Die Rekrutierung von Fachpersonal gestaltet sich in vielen Bildungsbereichen weiterhin sehr schwierig. Beispiel Kindertageseinrichtungen: Dort ist die Zahl des pädagogischen Personals in den vergangenen zehn Jahren zwar um 54 Prozent gestiegen. In Westdeutschland wird dennoch eine bis 2035 anhaltende Personallücke erwartet. In Ostdeutschland kann der Personalbedarf inzwischen weitestgehend gedeckt werden, allerdings stellt sich der Personal-Kind-Schlüssel ungünstiger dar als in den westdeutschen Bundesländern.

Im schulischen Sektor waren 2023 unter allen neuangestellten Lehrkräften 12 Prozent Seiteneinsteiger*innen ohne klassische Lehramtsausbildung – mit deutlichen Unterschieden zwischen den Ländern. Für Lehrberufsqualifikationen, die im Ausland erworben worden sind, bestehen in den Bundesländern unterschiedliche Anforderungen für deren Anerkennung. Lediglich in 14 Prozent der Fälle werden die Qualifikationen als voll gleichwertig anerkannt. Bei zwei Dritteln aller Anträge wird die Anerkennung an die Erfüllung einer Ausgleichsmaßnahme, zum Beispiel Sprachkurse, gekoppelt.

In der beruflichen Bildung ist die Lehrkräftesituation ebenfalls sehr angespannt, zumal mehr als die Hälfte der Lehrenden bereits 50 Jahre und älter ist. Auch im Weiterbildungssektor fehlt Lehrpersonal: 65 Prozent der Einrichtungen berichteten von wachsenden Problemen, geeignete Fachkräfte zu finden.

„Der Mangel an Lehrpersonal in den verschiedenen Bildungsbereichen bettet sich in einen allgemeinen Fachkräftemangel in allen Berufen und Sektoren ein. Hier braucht es kreative Ansätze, jedoch dürfen diese eine ausreichende Professionalisierung des Bildungspersonals nicht aus dem Blick verlieren“, so die Einschätzung von Kai Maaz.

Bildungserfolg und soziale Ungleichheit:

Internationale und nationale Bildungsstudien haben gezeigt, dass die Schulleistungen sowohl im Primarbereich als auch in der Sekundarstufe I stagnieren oder sogar zurückgehen. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die die Mindeststandards im Lesen – dem Kompetenzbereich, der die Voraussetzung für anschlussfähiges Lernen in anderen Fächern und höheren Klassenstufen darstellt – nicht erreichen, ist insgesamt und im internationalen Vergleich groß. Am Ende der Schulzeit verließen 2022 erneut mehr Jugendliche die allgemeinbildenden Schulen ohne Abschluss. Das sind 6,9 Prozent gegenüber 5,7 Prozent im Jahr 2013.

Sozial bedingte Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung und dem Bildungserfolg bestehen weiterhin in erheblichem Maße. Nur 32 Prozent der Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien erhalten eine Gymnasialempfehlung, verglichen mit 78 Prozent aus privilegierten Familien. Diese Disparitäten verringern sich deutlich, wenn man die Schulleistungen und Schulnoten berücksichtigt. Dennoch zeigen sich erhebliche Unterschiede in der Umsetzung der Gymnasialempfehlung: Während nur 7 Prozent der Kinder aus privilegierten Familien trotz Empfehlung kein Gymnasium besuchen, sind es bei benachteiligten Familien 17 Prozent.

Kai Maaz: „Soziale Bildungsungleichheiten ziehen sich durch die Biographie bis in die Erwachsenenbildung hinein. Vor allem, dass bei der Wahl von Bildungsangeboten Unterschiede nach sozialer Herkunft bestehen, stellt eine unverändert große Problemlage dar. Hier muss man wirksam gegensteuern, begleitend und auch präventiv. Das erfordert wiederum einen systemischen Blick auf das Bildungsgeschehen und eine lebenslaufbezogene Perspektive. Wir sollten uns außerdem bewusst machen, dass soziale Bildungsungleichheiten nicht ausschließlich dort entstehen, wo sie in Bildungsstudien sichtbar werden, sondern auch und vor allem schon in der frühen Kindheit.“

Schwerpunktkapitel „Berufliche Bildung“:

In seinem Schwerpunktkapitel widmet sich der nationale Bildungsbericht der beruflichen Bildung – in den drei Bereichen Berufsausbildung, Hochschulbildung und Weiterbildung. „Die berufliche Bildung stellt sich als lebenslanger Prozess dar, der unter sehr heterogenen Bedingungen erfolgt“, fasst Kai Maaz die Analysen zusammen. Die berufliche Orientierung im Jugendalter ist von zentraler Bedeutung, da am Ende der Schulzeit erstmals ein Beruf gewählt wird, der zu den fachlichen Interessen und Kompetenzen passen sollte. Diese Passung ist entscheidend für den weiteren Bildungsverlauf. Bisherige Befunde deuten darauf hin, dass sich Jugendliche trotz zahlreicher Informationsangebote nicht ausreichend auf die Berufswahl vorbereitet fühlen. Es besteht daher weiterhin Forschungsbedarf zur Wirkung von Angeboten zur beruflichen Orientierung.

Auch die Maßnahmen im Übergangssektor sollten stärker evaluiert werden. Befunde zeigen aber, dass einige Jugendliche, die zunächst nicht in eine Ausbildung einmünden, ihre Chancen verbessern können. Dies gilt insbesondere bei Maßnahmen mit starker Betriebsanbindung oder wenn die Jugendlichen einen ersten Schulabschluss nachholen. Die Qualität der beruflichen Bildung wird insgesamt nicht systematisch gesteuert und evaluiert. Beim Einstieg in die Ausbildung oder das Studium kommt es häufig zu Verzögerungen und Kompromissen. Einmal begonnen, verlaufen beide aber in der Mehrheit der Fälle ohne Unterbrechungen. Nach dem Abschluss einer Berufsausbildung oder eines Studiums gelingt überwiegend ein Übergang in eine angemessene Erwerbstätigkeit.

DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation


Weitere Informationen und der gesamte aktuelle Bericht: http://www.bildungsbericht.de