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Erste Woche nach Geburt ist entscheidend für Entwicklung der Sinnesorgane

Mutter mit Baby im Arm
Geruchsreize haben vermutlich eine positive Wirkung darauf, wie sich verschiedene sensorische und kognitive Fähigkeiten von Babys entwickeln. Bild: Pixabay

Bei Mäusen ist die Reifung von Geruchs- und Tastsinn eng miteinander verbunden. Die Wechselwirkung findet in einem engen Entwicklungszeitfenster statt. Die Erkenntnisse von UZH-Forschenden unterstreichen, wie bedeutend Umweltreize für die Hirnentwicklung im frühen Leben sind, und wie stark die Entwicklung der Sinne voneinander abhängt.

Geruchs- und Berührungsempfindungen sind die ersten Eindrücke, die Säugetiere wahrnehmen. Sie ermöglichen es Neugeborenen etwa, zu säugen und eine Bindung zu ihrer Mutter aufzubauen. Defizite in einer dieser beiden frühen Sinneswahrnehmungen tragen zu verschiedenen neurologischen Entwicklungsstörungen beim Menschen bei. «Unsere Sinne sind entscheidend, damit sich die Hirnschaltkreise richtig bilden und korrekt funktionieren», sagt Theofanis Karayannis, Professor für Neurowissenschaften und Co-Direktor des Instituts für Hirnforschung der Universität Zürich (UZH).

Gerüche beeinflussen Gehirn von Neugeborenen

Frühere Forschungsarbeiten haben gezeigt, wie wichtig Sinneseindrücke für die Entwicklung der Sinne sind – Gerüche für den Geruchssinn, Geräusche für den Hörsinn und so weiter. Bisher ist jedoch nur wenig darüber bekannt, wie die verschiedenen Sinne die Reifung des jeweils anderen beeinflussen können.

Ein Team um Karayannis hat nun die Wirkung von Geruchsreizen auf die Gehirne neugeborener Mäuse unter die Lupe genommen. Dazu verabreichten die Forschenden den Jungtieren feine Gerüche in die Nasenlöcher. Anschliessend kartierten sie das dadurch hervorgerufene Aktivitätsmuster der Gehirnzellen mit Hilfe modernster Bildgebung. Bei neugeborenen Mäusen lösten die Gerüche neuronale Aktivitäten in einem grossen Teil der Grosshirnrinde aus, darunter auch in Bereichen, die Berührungen verarbeiten.

Zeitfenster nach Geburt ist kritisch

Beobachten konnten die Forschenden diese weitreichende Aktivierung der Hirnrinde nur innerhalb eines sehr begrenzten Zeitfensters: in der ersten Woche nach der Geburt. Bei älteren Welpen sowie bei erwachsenen Mäusen hingegen wirkten sich die Gerüche nur auf begrenztere Hirnbereiche aus. «Dies zeigt, dass der Geruchsinput in der ersten postnatalen Woche ein spezielles Muster elektrischer Hirnaktivität hervorruft. Dies könnte wesentlich zur Bildung von Hirnschaltkreisen für die sensorische Informationsverarbeitung, also den Tastsinn, beitragen», sagt Karayannis.

Reifung von Geruchs- und Tastsinn sind verbunden

Die Forschenden untersuchten daraufhin, ob eine frühe olfaktorische Stimulation mit Düften für die Reifung des Tastsinns entscheidend ist. Dazu trainierten sie erwachsene Mäuse darin, mit ihren Schnurrhaaren feines und grobes Sandpapier zu unterscheiden. Es ist eine der ersten Methoden, mit der Mäuse ihre Umgebung erfassen. Wie die Wissenschaftler zeigen, schnitten Tiere, die in der ersten Lebenswoche keine geruchlichen Stimuli erhalten hatten, bei dieser Aufgabe deutlich schlechter ab als Tiere, die Gerüchen ausgesetzt waren. «Ein ungenügender oder fehlender Geruchssinn während der ersten Woche nach der Geburt wirkt sich auch auf die Berührungsverarbeitung im späteren Leben aus», sagt Karayannis.

Die vorübergehende, starke Interaktion zwischen den beiden frühen Sinnen wurde auch in der Hirnanatomie beobachtet: In der ersten Lebenswoche – während des kritischen Zeitfensters – entdeckten die Forschenden eine Reihe von Nervenverbindungen, die sich zwischen den Hirnarealen erstreckten, die den Geruchssinn und den Tastsinn verarbeiten. Diese Verbindungen verschwanden dann innerhalb einiger Wochen.

Frühe Geruchsreize sind wichtig

«Unsere Studie zeigt, dass der frühe Kontakt mit Gerüchen für die Entwicklung und Reifung des Tastsinns wichtig ist», sagt Karayannis. Möglicherweise gilt das auch für andere, später reifende Sinne wie Gehör oder Sehen. Obwohl die Experimente mit Mäusen durchgeführt wurden, deuten frühere Ergebnisse darauf hin, dass ähnliche Prozesse auch im menschlichen Gehirn ablaufen. «Die Frage, wie sich Geruchsdefizite insbesondere in frühen Lebensjahren auf die Reifung der allgemeinen sensorischen und kognitiven Verarbeitung auswirken, sollte mehr Aufmerksamkeit erhalten.» Solche Defizite können durch genetische Veränderungen, aber auch durch Umwelteinflüsse hervorgerufen werden.

Geruchstherapie auf Neugeborenen-Intensivstationen?

Ein Beispiel dafür sind Frühgeborene, die auf der Neugeborenen-Intensivstation untergebracht werden, wo ihnen die normale sensorische Umgebung vorenthalten wird. Möglicherweise hinterlässt dies langfristige affektive und kognitive Spuren bei den Betroffenen. «Während die Krankenhäuser bestrebt sind, diesen Babys optimale taktile, auditive und visuelle Reize zu bieten, wird der Geruchssinn weniger stark berücksichtigt», sagt Karayannis. «Gemäss unseren Ergebnissen können geeignete Geruchsreize eine positive Wirkung auf die Entwicklung verschiedener sensorischer und kognitiver Fähigkeiten von Babys haben.»

Universität Zürich


Originalpublikation:

Linbi Cai, Ali Özgür Argunsah, Angeliki Damilou, and Theofanis Karayannis. A nasal chemosensation-dependent critical window for somatosensory development. Science. May 10, 2024. DOI: 10.1126/science.adn5611, https://www.science.org/doi/10.1126/science.adn5611