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Im Pflanzenblatt organisieren die Zellen selbst eine optimale Fläche für die Fotosynthese

Zu sehen sind drei unterschidliche Pflanzenblätter
Wie kleine RNAs eine große Vielfalt an Blattformen schaffen: In dieser Simulationsserie zeigen Schnitte durch das Blatt, wie kleine Variationen in den Wechselwirkungen der Gene zu unterschiedlichen räumlichen Mustern der Genaktivität führen. Diese Unterschiede zwischen den oberen (rot) und unteren (blau) Schichten bestimmen die endgültige Blattform. Links: Ein typisches flaches Blatt, in dem ein stabiles bipolares Genaktivitätsmuster erhalten bleibt. Mitte: Blatt mit einer verschobenen Polarität, was zu einer Struktur führt, wie sie in der spezialisierten Ausformung fleischfressender Pflanzen zu finden ist. Rechts: Verlust der Polarität, wodurch ein radiales Genaktivitätsmuster zur Ausbildung von Rankenstrukturen führt, wie sie häufig in Kletterpflanzen vorkommen. Universität Tübingen

Pflanzenblätter brauchen eine große Fläche, um Sonnenlicht für die Fotosynthese einzufangen. Dr. Emanuele Scacchi und Professorin Marja Timmermans vom Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen der Universität Tübingen haben nun gemeinsam mit einem internationalen Team entdeckt, welche genetischen Mechanismen das flächige Wachstum der Blätter steuern: Eine Art eingebautes GPS informiert jede Blattzelle über ihre relative Position im wachsenden Blatt. Das Ordnungsmuster entspricht einem biologischen Konzept der Selbstorganisation, das der legendäre Mathematiker und Denker Alan Turing vorhergesagt hatte.

„Wenn sich Zellen teilen und vermehren, entsteht in der Regel ein Zellklumpen. Wir wollten wissen, wie im Fall eines Blatts daraus eine große Fläche werden kann“, berichtet Scacchi. Dazu arbeitete ein Team aus der Mathematik und praktischen Biologie zusammen, um mit Hilfe von Computermodellen, Methoden der molekularen Genetik und bildgebenden Verfahren am lebenden Organismus die Prozesse zu verfolgen.

„Grundlage einer solchen Musterbildung ist eine Polarität, also die Möglichkeit in diesem Fall, zwischen oben und unten zu unterscheiden. Sie entsteht in der Regel durch einen Konzentrationsgradienten eines Stoffs, Morphogen genannt, der an der einen Seite gering, an der anderen höher ist“, erklärt der Wissenschaftler.

Autonome Steuerung

Das Team entdeckte, dass im wachsenden Blatt sogenannte kleine RNAs eine entscheidende Rolle bei der Steuerung spielen. Als mobile Boten sind sie bei der Kommunikation der Zellen untereinander im Einsatz und helfen den Zellen, ihre relative Position zueinander im Gefüge wahrzunehmen – wie ein GPS. Außerdem übermitteln die kleinen RNAs Informationen, über die koordiniert wird, welche Gene jeweils an der Ober- und Unterseite aktiviert oder gehemmt werden müssen, damit das Blatt die richtige Form und Funktion erhält. „Dieser Regelmechanismus arbeitet autonom im wachsenden Blatt, dafür gibt es keine zentrale Steuerung in der Pflanze“, sagt Timmermans. „Uns fiel auf, dass unsere Ergebnisse einer Theorie entsprechen, die Alan Turing vor mehr als sieben Jahrzehnten aufgestellt hat. Er ist zwar vor allem wegen seiner zentralen Beiträge zur Informatik bekannt, aber er hat sich auch mit den Rätseln der Natur befasst.“

Turing habe vorgeschlagen, dass einfache Wechselwirkungen bestimmter Moleküle in den Zellen von Lebewesen zur Entstehung komplexer Muster führen können, wie beispielsweise die Flecken auf dem Leopardenfell oder die Streifen eines Zebras. „Mathematisch beschrieb er diese Prozesse in seiner Theorie der Morphogenese oder Gestaltbildung. Unsere neue Studie baut auf dieser Theorie auf. Wir haben einen von kleinen RNAs gesteuerten Mechanismus entdeckt, der Turings Konzept von der Musterbildung durch Selbstorganisation entspricht“, sagt die Forscherin.

In diesem Fall beziehe sich die Selbstorganisation auf das genetisch gesteuerte Verhalten der Zellen, die wie ein Vogelschwarm im Einklang vorgehen, ein kollektives Verhalten bilden, um das richtige Muster und die flache Struktur eines Blatts zu erzeugen. Jeder Vogel im Schwarm reagiert auf die Bewegungen seiner Nachbarn, und obwohl es keinen Anführer gibt, erzeugen die kollektiven Interaktionen ein zusammenhängendes organisiertes Muster.

Anpassungsfähiges System

„Die Kleinen-RNA-Moleküle in den Zellen des wachsenden Blatts setzen einen genetischen Prozess in Gang, der es den Zellen ermöglicht, ihre Umgebung wahrzunehmen und zu interpretieren“, sagt Scacchi. Die Genaktivitäten würden unter den Zellen so koordiniert, dass in jedem Blatt die Ober- und Unterseite scharf voneinander getrennt sind und eine perfekte flache Leinwand für die Fotosynthese bilden. Ein solcher selbstorganisierender Turing-Mechanismus könne die Genaktivität an interne und externe Störungen bei der Blattentwicklung anpassen. Dadurch erhalten die Blätter auch bei drastischen Änderungen der Umweltbedingungen die gleiche Form. „Außerdem bietet dieses geneti-sche System viele Möglichkeiten zur Feinjustierung. So lässt sich die Vielfalt der in der Natur beo-bachteten Blattformen erklären von der einfachen Ranke der Kletterpflanzen bis hin zur komplexen Kannenfalle fleischfressender Pflanzen.“

„Unsere Entdeckung ist aber nicht nur wichtig, um Turings Erbe ein neues Kapitel hinzuzufügen“, sagt Timmermans. „Wir haben die grundlegenden Mechanismen dekodiert, durch die kleine RNAs selbstorganisierende genetische Prozesse ermöglichen. Nun kann erforscht werden, wie der Mensch diese biologischen Funktionen verändern und sich zunutze machen kann. Bei einem weltweit steigenden Lebensmittelbedarf brauchen wir optimierte Nutzpflanzen mit hohen Erträgen, die robust gegen Stressfaktoren wie die Klimaerwärmung sind.“

Universität Tübingen


Originalpublikation:

Emanuele Scacchi, Gael Paszkiewicz, Khoa Thi Nguyen, Shreyas Meda, Agata Burian, Walter de Back & Marja C. P. Timmermans: A diffusible small-RNA-based Turing system dynamically coordinates organ polarity. Nature Plants, https://doi.org/10.1038/s41477-024-01634-x