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Neuer Blick auf das Umschalten im Gehirn

Umschalten im Gehirn
Je nach Aktivitätszustand (aufmerksam oder dösend) ändert sich der Filter der Zellen von Tiefpass (basslastig) zu Hochpass (viel Höhen). Der Equalizer verdeutlicht, dass diese Frequenzpräferenzen analog zur Filterung von Tonsignalen verstanden werden. Jochen Staiger, Universitätsmedizin Göttingen

Das menschliche Gehirn ist extrem dynamisch. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen ändern sich, wenn wir etwas lernen oder vergessen. Die Rechenprozesse im Gehirn ändern sich sogar noch schneller als seine Struktur: In Sekundenbruchteilen können wir uns auf einen neuen Reiz fokussieren, und plötzlich nehmen wir den Kaffeeduft wahr, der schon lange unbemerkt in der Luft lag. Ein transdisziplinäres Forschungsteam am Göttingen Campus hat nun experimentelle und mathematische Ansätze verbunden und so einen neuen Blickwinkel auf solche schnellen Schaltvorgänge im Gehirn gefunden.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Göttingen Campus-Institut für Dynamik biologischer Netzwerke (CIDBN) sind den zellulären Mechanismen hinter diesen Vorgängen auf den Grund gegangen. Zellen, die an Gehirnfunktionen wie der Verarbeitung von Sinneseindrücken, aber auch an der Verfestigung des Gedächtnisses beteiligt sind, weisen eine kollektive rhythmische Aktivität auf. „Normalerweise werden Nervenzellen mit eher unnatürlichen Reizen wie kurzen Impulsen oder Schwingungen untersucht“, erklärt Dr. Andreas Neef, Leiter des Labors für Neurophysik am CIDBN. „Wir wollten die Zellen aber mit natürlicheren, zufällig schwankenden Reizen untersuchen.“

Frühere Zellcharakterisierungen mit herkömmlichen Methoden schienen ein einfaches Bild zu zeichnen: Einige Nervenzelltypen sind darauf spezialisiert, an schnellen Aktivitätsrhythmen teilzunehmen, während ein anderer Zelltyp – die adaptierenden Interneuronen – hauptsächlich an langsamen Rhythmen beteiligt ist. Als das Göttinger Team die Reaktionen der Nervenzellen auf die neuen, natürlicheren Reize analysierte, zeigte sich dagegen ein ganz anderes Bild. Die adaptierenden Interneuronen folgten nicht den erwarteten, langsamen Hirnrhythmen, sondern waren in der Lage, zwischen sehr langsamen und sehr schnellen Rhythmen zu wechseln.

Während bestimmter Schlafphasen oder beim inaktiven Tagträumen können die adaptiven Interneuronen nach den neuen Erkenntnissen zu Hirnrhythmen von bis zu 200 Zyklen pro Sekunde beitragen. Das ist mehr als 20 Mal schneller, als man es für diese Zellen für möglich hielt. „Wir waren überrascht, wie flexibel diese Zellen reagieren können“, sagt Erstautor Dr. Ricardo Martins Merino. „Aber was mich noch mehr erstaunt, ist die Geschwindigkeit, mit der sie sich neu einstellen. In einem Moment tragen sie zu den schnellen Oszillationen bei, im nächsten schon nicht mehr. Sie können zehn Mal pro Sekunde hin- und herwechseln!“

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen an, dass diese Fähigkeit zum schnellen Umschalten der lange gesuchte Mechanismus hinter der rätselhaften Interaktion verschiedener Rhythmen im Gehirn ist, und damit die Basis für das schnelle Umschalten zwischen Reizen. „Das nächste Ziel ist es, die Rolle der flexibel agierenden Zellen sowohl im Computer, als auch im lebenden Gehirn zu untersuchen. Dafür bietet das CIDBN ideale Bedingungen, weil wir theoretische und experimentelle Forschungsansätze unter unserem Dach kombinieren“, so Co-Autor Prof. Dr. Fred Wolf, Gründungsdirektor des CIDBN.

Georg-August-Universität Göttingen


Originalpublikation:

Ricardo Martins Merino et al. Theta activity paradoxically boosts gamma and ripple frequency sensitivity in prefrontal interneurons. Proceedings of the National Academy of Science 2021. https://doi.org/10.1073/pnas.2114549118