Scheibentiere (Placozoen) sind die einfachsten vielzelligen Tiere und kommen weltweit in küstennahen Meeresgebieten vor. Bisher ging man davon aus, dass die nur wenige Millimeter großen Tiere entweder auf harten Oberflächen – etwa Steine, Korallen und Mangrovenwurzeln – leben oder in Form sogenannter Schwärmerstadien durch das küstennahe Freiwasser schweben. Durch die Analyse von DNA-Spuren im Magen räuberischer Meeresschnecken konnte ein Team um den LMU-Geobiologen Professor Gert Wörheide nun zeigen: Die Tiere besiedeln auch das Sediment und erschließen sich damit einen weiteren Lebensraum. Zudem sind sie genetisch noch vielfältiger als bisher bekannt, wie die Forschenden im Fachmagazin Ecology and Evolution berichten.
Alle Scheibentiere weltweit sehen mit ihrem linsenartig abgeflachten Körper völlig identisch aus. Dennoch konnte Wörheide mit seinem Team bereits in früheren Studien nachweisen, dass es riesige genetische Unterschiede gibt. „Diese Unterschiede sind vergleichbar mit denen zwischen Mensch und Maus“, betont der Geobiologe.
Aufgrund ihrer geringen Größe und ihrer Unauffälligkeit sind Scheibentiere in der freien Natur nur schwer zu untersuchen. Um einen besseren Einblick in die Ökologie der Tiere zu bekommen, machten sich die Forschenden deshalb nun zunutze, dass kleine schalenlose Meeresschnecken aus der Familie der Rhodopidae sich von Scheibentieren ernähren.
Entdeckt durch Gefressen-Werden
„Wir hofften, dass sich im Mageninhalt der Schnecken noch unverdaute Reste von Scheibentieren finden lassen, die molekular untersucht werden könnten“, erzählt Dr. Michael Eitel, Erstautor der Studie. „Um dem nachzugehen, haben wir daher öffentlich zugängliche genetische Daten der Schnecken bioinformatisch auf Spuren von Placozoen-DNA untersucht.“
Zur Überraschung der Forschenden identifizierten sie dabei DNA von Scheibentieren auch im Magen von Schnecken, die ausschließlich im Meeresboden-Sediment leben – ein Lebensraum, der bisher von allen Experten für die sehr fragilen Scheibentiere ausgeschlossen wurde. „Offensichtlich ist jedoch ihr Vorkommen im Sediment eine normale Erscheinung und könnte sogar für ihre Biologie, insbesondere bei der bisher nur ansatzweise verstandenen sexuellen Vermehrung, eine zentrale Rolle spielen“, sagt Eitel.
Zudem entdeckten die Wissenschaftler eine unerwartet große genetische Vielfalt: Im Mageninhalt von nur zwei Schnecken fanden sie fünf genetisch verschiedene Linien, von denen drei bislang noch nie beschrieben wurden. Dies deutet nach Ansicht der Forschenden darauf hin, dass die Diversität der Scheibentiere noch deutlich höher ist als angenommen. „Unsere Ergebnisse werden große Auswirkungen auf unser Bild der Entwicklungsgeschichte eines der ältesten Tierstämme der Erde haben“, sagt Wörheide. „gleichzeitig fügt die starke Erweiterung ihres Lebensraumes der Ökologie der Scheibentiere buchstäblich eine weitere Dimension hinzu.“
LMU München
Originalpublikation:
Michael Eitel, Hans-Jürgen Osigus, Bastian Brenzinger, Gert Wörheide: Beauty in the beast - Placozoan biodiversity explored through molluscan predator genomics. Ecology and Evolution 2024, https://doi.org/10.1002/ece3.11220