Schnecken (Gastropoda) sind für Paläontolog:innen ein Glücksfall: Wegen ihrer harten Schale sind diese Tiere sehr häufig als Fossilien erhalten. Schnecken bilden daher eine bedeutende und gut vertretene Tiergruppe im Fossilbefund der Erdgeschichte. Die meisten Schneckenarten lebten im Meer, aber auch Fossilien von Land- und Süßwasserschnecken finden Paläontolog:innen häufig.
Thomas A. Neubauer, Konservator an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG) stellte die bisher umfangreichste Datenmenge für fossile Süßwasser-schnecken in einer Übersicht zusammen, um Muster und Zusammenhänge in deren Entwicklungsgeschichte zu erkennen. Er analysierte die globale Aus- und Verbreitung von Arten von den frühen Anfängen im Steinkohlezeitalter (Karbon) vor rund 340 Millionen Jahren bis ins Eiszeitalter (Pleistozän) vor etwa 12.000 Jahren.
Die neue Studie zur Entwicklungsgeschichte von Süßwasserschnecken hat nun unter anderem gezeigt: Seen, die über hunderttausende oder mehrere Millionen Jahre in der Erdgeschichte existierten, waren für Schnecken ein Motor für deren Evolution. In den sogenannten Langzeitseen entwickelten die Schnecken eine ganz besonders große Vielfalt an Arten, oftmals mit speziellen morphologischen Anpassungen. Ein Beispiel aus der jüngeren erdgeschichtlichen Vergangenheit ist der Pannon-See, der sich etwa vor 11,6 bis 4,5 Millionen Jahren zwischen Österreich im Westen und Rumänien im Osten erstreckte. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung bedeckte der See eine Fläche von etwa zwei Dritteln der Fläche Deutschlands. Dieser Paläo-See überliefert die bisher höchste bekannte Vielfalt an Süßwasserschnecken weltweit. Während den über 7 Millionen Jahren seines Bestehens war der Pannon-See Heimat von etwa 580 Schneckenarten und brachte viele einzigartige Evolutionslinien hervor. Auch heute noch existierende Langzeitseen wie etwa der Ohridsee auf der Balkanhalbinsel, der Baikalsee in Sibirien sowie der Malawi- und Tanganyika-See in Ostafrika sind vergleichbare Inseln der Evolution.
"Diese seltenen Ökosysteme sind Archive der Evolution", sagt Neubauer. "Durch ihre Langlebigkeit – wir sprechen von oft mehreren Millionen Jahren – unterscheiden sie sich deutlich von den meisten anderen Seen, die oftmals nur wenige Tausend Jahre alt sind. Sie erlauben einen genaueren Blick in die Veränderung von Arten durch die Zeit. Zeit spielt für die Evolution dabei die entscheidende Rolle. Nur in langlebigen Ökosystemen haben Arten genug Zeit zu 'experimentieren'. Die außergewöhnlichsten Beispiele für morphologische Veränderungen, besondere ökologische Anpassungen oder Größenzunahmen in Schnecken kommen aus Langzeitseen. Ähnliche Beispiele gibt es auch für viele andere Tiergruppen."
Langzeitseen haben die Diversität und Verbreitung von Süßwassergastropoden weltweit beeinflusst. Ihre Entstehung und Langlebigkeit sind von tektonischen und klimatischen Prozessen über Millionen von Jahren bestimmt. Diese alten Ökosysteme sind seltene und wichtige Inseln für die Entwicklung von Süßwasserorganismen – laut Neubauer eine sogenannte „ökologische Gelegenheit“, in der sich Tiere und Pflanzen über lange Zeiträume ungestört entfalten konnten und dies auch heute noch tun.
Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Originalpublikation:
Neubauer, T.A. (2023), The fossil record of freshwater Gastropoda – a global review. Biol Rev. https://doi.org/10.1111/brv.13016