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Wo laufen sie denn wirklich?

Das Räuber-Beute-Verhalten ist wahrscheinlich die eindrucksvollste Form der Begegnung unter Tieren. Unter Ökologen findet derzeit ein Umdenken der bisherigen Begegnungsmodelle statt. Sie sollen die Realität genauer abbilden, um bessere Voraussagen treffen zu können.
Das Räuber-Beute-Verhalten ist wahrscheinlich die eindrucksvollste Form der Begegnung unter Tieren. Unter Ökologen findet derzeit ein Umdenken der bisherigen Begegnungsmodelle statt. Sie sollen die Realität genauer abbilden, um bessere Voraussagen treffen zu können. Bild: Wilhelm Kuhnert / Public Domain

Von riesigen Gnu-Herden, die durch die Serengeti ziehen, bis hin zur malariabehafteten Mücke, die sich lautlos einem Menschen nähert – die Art und Weise, wie Tiere sich bewegen, ist ausschlaggebend für viele ökologische Zusammenhänge. Mit Hilfe sogenannter Begegnungsraten berechnen Forscher wie oft aktive Individuen miteinander in Kontakt kommen. Während GPS-Geräte eine Vielzahl an wertvollen Datensätzen generiert haben, gibt es bei der Modellierung der Bewegungsdaten jedoch großen Nachholbedarf. Ein internationales Team aus Ökologen und Physikern hat nun gezeigt, dass die erhobenen Daten und deren Abbildung anhand bisheriger Modelle stark voneinander abweichen.

Das aus der Chemie stammende Standardmodell für Begegnungen, das „Massenwirkungsgesetz“, wird seit über einhundert Jahren auch in der Ökologie angewendet. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich jedes Individuum gleichmäßig in seinem Habitat bewegt. „Unsere Untersuchungen zeigen aber, dass die meisten Tiere sich keineswegs gleichmäßig in der Fläche bewegen, sondern sich eher in einem verkleinerten Aktionsraum, sozusagen ihrem Zuhause, aufhalten“, erläutert Dr. Justin Calabrese, Gastprofessor am Center for Advanced Systems Understanding (CASUS) in Görlitz. Diese Abweichungen zwischen den erhobenen Daten und den Annahmen aus dem Massenwirkungsgesetz legen nahe, dass die bisher genutzten Modelle für Begegnungsraten überdacht werden müssen.

„Das ist wichtig, weil das Massenwirkungsgesetz überall in der Ökologie und in verwandten Bereichen Anwendung findet“, erklärt Calabrese. Als aktuelles Beispiel nennt er die epidemiologischen SIR-Modelle (Susceptible, Infected, Recovered), die hinzugezogen werden, um die Ausbreitung und Kontrolle ansteckender Krankheiten wie COVID-19 zu verstehen. Das interdisziplinäre Forscherteam fand heraus, dass die Modellierungsergebnisse vollkommen anders aussehen würden, wenn in die Begegnungsraten das Verhalten im Aktionsraum einbezogen würde. Denn die Begegnungen, die überwiegend auf der Annahme der Massenwirkung beruhen, konnten nur sehr begrenzt in den realistischeren Modellierungen abgebildet werden.

„Dies lässt vermuten, dass Populationsmodelle, wie beispielsweise SIR-Krankheitsmodelle, die sich auf das Massenwirkungsgesetz stützen, mit einer realistischeren Berechnung sehr verschiedene Vorhersagen des Bewegungsverhaltens liefern“, beschreibt Dr. Ricardo Martinez-Garcia, Assistenzprofessor am Internationalen Zentrum für Theoretische Physik in São Paulo. Auffallend ist, dass die neu berechneten Begegnungsraten im Vergleich zum bisherigen Modell höher oder niedriger ausfallen können und dass sie auf die Eigenheiten des Bewegungsverhaltens sensibel reagieren. Martinez-Garcia erklärt, dass „diese Art der Kontextabhängigkeit es uns erschwert beurteilen zu können, in welche Richtung die Vorhersagen überhaupt gehen. Hieraus resultiert ein zukünftiger Forschungsbedarf.“

Die Modellierung von Begegnungsraten in der Ökologie hat tiefe interdisziplinäre Wurzeln. Das Massenwirkungsgesetz beruht auf dem Konzept des idealen Gases und beschreibt somit Tiere als Partikel, die sich weitgehend zufällig bewegen und nicht mit ihrer Umwelt interagieren. Um den Rahmen für die neuartige Modellierung von Begegnungen zu entwickeln, bezog sich das Team auf präzisierte physikalische Konzepte, die der statistischen Mechanik des Ungleichgewichts entlehnt sind. „Die Übertragung von Konzepten aus einer Disziplin in eine andere ist eine wirkungsvolle Methode, um die Komplexität zu bewältigen, die wir in der Natur sehen. Diese Arbeit ist ein klares Beispiel dafür“, beurteilt Calabrese, der erst kürzlich ans neu gegründete CASUS wechselte, das selbst interdisziplinäre Systemforschung betreibt und unterschiedliche Forschungsdisziplinen miteinander verknüpft.

Bei CASUS wird Calabrese an der Schnittstelle von Ökologie und Erdsystemwissenschaften arbeiten. An den Untersuchungen waren neben der Princeton University, der Smithsonian Institution und der University of Maryland auch das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig (UFZ) und die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg beteiligt. Der interdisziplinäre Ansatz ist wichtig, da die Forschungsergebnisse zu den Begegnungsraten weit über die ökologischen Fragestellungen hinaus bedeutsam sein können. Denn Begegnungen zwischen Individuen, Gruppen oder anderen Einheiten, die einen begrenzten räumlichen Aktionsraum aufweisen, sind ein weit verbreiteter Untersuchungsgegenstand in den Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.

Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf


Originalpublikation:

R. Martinez-Garcia, C. H. Fleming, R. Seppelt, W. F. Fagan, J. M. Calabrese: How range residency and long-range perception change encounter rates, Journal of Theoretical Biology, 2020 (DOI: 10.1016/j.jtbi.2020.110267)

https://doi.org/10.1016/j.jtbi.2020.110267