Fast die Hälfte der jungen Erwachsenen aus Deutschland nimmt heute ein Studium auf – noch 2005 war es weniger als jede*r Dritte. Jedoch scheint nach Jahren des Wachstums der Trend zur voranschreitenden Akademisierung vorerst zum Stillstand gekommen zu sein. „Wir haben offenbar ein Sättigungsniveau erreicht“, sagt Professor Dr. Sandra Buchholz vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Sie ist eine der Autor*innen des heute veröffentlichten 9. nationalen Bildungsberichts, der von verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen verantwortet wird. Im Bericht ziehen die Wissenschaftler*innen auch eine erste Bilanz zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Hochschulbildung. „Die Pandemie hat einen Digitalisierungsschub in der Hochschullehre ausgelöst“, so Dr. Christian Kerst vom DZHW, Co-Autor des Bildungsberichts. Unklar sei, ob die Pandemie die Art des Lehrens und Lernens an deutschen Hochschulen wirklich dauerhaft verändert habe, so die beiden Wissenschaftler*innen. Einige pandemiebedingte Folgen ließen sich zudem erst in den kommenden Jahren ablesen.
Zentrale Befunde zur Hochschulbildung aus dem Bildungsbericht 2022:
▪ Es gibt deutliche sektorale Verschiebungen in der Hochschulbildung. Private Hochschulen haben sich in der deutschen Hochschullandschaft fest etabliert, insbesondere im Fachhochschulsektor. 28 % der Studienanfänger*innen an Fachhochschulen entscheiden sich heute für eine private Hochschule. „Mit einem hochspezialisierten Studienangebot richten sich private Hochschulen sehr
gezielt an beruflich Qualifizierte und Berufstätige“, erklären Buchholz und Kerst. „Mit ihrer ausgeprägt weiterbildenden Orientierung reagieren private Hochschulen auf einen offenkundig bestehenden Bedarf, den der öffentliche Hochschulsektor – auch aus wettbewerbsrechtlichen Gründen – bisher nicht in gleicher Weise abdecken kann.“
▪ Obschon Deutschland über viele Jahre hinweg einen starken Akademisierungsschub erlebt hat, gibt es bisher keine Anzeichen für eine strukturelle Überakademisierung am deutschen Arbeitsmarkt. Den allermeisten Hochschulabsolvent*innen gelingt eine berufliche Platzierung, die ihrem akademischen Ausbildungsniveau entspricht. Das gilt auch für Bachelorabsolvent*innen, eine Gruppe, für die im deutschen Kontext immer wieder die Frage gestellt wird, ob ihre Abschlüsse am Arbeitsmarkt Akzeptanz finden.
▪ Nur 15 % der herkunftsspezifischen Unterschiede beim Übergang ins Studium lassen sich auf dessen wahrgenommene finanzielle Kosten zurückführen. „Das ist ein sehr viel kleinerer Teil, als viele Beteiligte der aktuellen Bafög-Debatte wohl vermuten würden“, stellt Buchholz fest. Vor dem Hintergrund der geplanten, stufenweisen Reform des Bafög sei dies ein bildungspolitisch besonders wichtiger Befund des neuen Bildungsberichts. Zwar seien die Kosten ein wichtiger Faktor – aber: „Am Geld allein liegt es nicht, dass Studienberechtigte aus sozial schwächeren Familien seltener studieren“, erklärt Buchholz.
▪ Der bereits seit mehreren Jahren zu beobachtende Trend länger werdender Studienzeiten setzt sich fort. Die Regelstudienzeit wird von den meisten Studierenden überschritten. Nur ein gutes Drittel aller Studierenden erreicht den Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit. Knapp ein Viertel überschreitet die Regelstudienzeit sogar um mehr als 2 Semester. Zwar kein neuer Befund, erläutern Buchholz und Kerst, vor dem Hintergrund der sehr intensiv geführten Debatte um die Reform des BAföG sei es jedoch besonders erwähnenswert. „Die aktuellen Förderhöchstdauern des Bafög spiegeln die Studienrealität der meisten Studierenden nicht wider“, fassen Buchholz und Kerst zusammen.
▪ Wie alle Bildungsbereiche hat die Corona-Pandemie auch die hochschulische Bildung vor große Herausforderungen gestellt. Eine der größten Herausforderungen war, dass Hochschulen ihr Studien- und Lehrangebot sehr kurzfristig, nur wenige Tage vor Beginn des Sommersemesters, auf digitale Lehr-Lern-Formate umstellen mussten. Insgesamt ist Hochschulen die Umstellung auf den digitalen Betrieb vergleichsweise reibungslos gelungen. Das Bildungsangebot konnte für Studierende weitgehend aufrechterhalten werden. Nur wenige Studierende berichten einen umfassen deren Ausfall von Lehrveranstaltungen.
▪ Die soziale und akademische Integration von Studierenden hat darunter jedoch gelitten. Die Mehrheit der Studierenden sagt, dass ihnen im digitalen Lehrbetrieb der Austausch mit Lehrenden und anderen Studierenden gefehlt hat. Auch war die Wohnsituation einiger Studierender nicht geeignet, um an digitalen Lehrveranstaltungen teilzunehmen. Die psychische Belastung von Studierenden hat sich in der Pandemie erhöht.
▪ Gerade zu Beginn der Pandemie kam es zu vermehrten Jobverlusten bei Studierenden. Für Studierende, die ihren Job verloren haben, unbezahlt freigestellt wurden oder deren Arbeitszeit reduziert wurde, führte dies zu deutlichen finanziellen Einbußen. Eine der im Bildungsbericht präsentierten Studien zeigt, dass das diesen Studierenden monatlich zur Verfügung stehende Budget um ein Viertel einbrach.
Über den nationalen Bildungsbericht:
Der nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland“ erscheint alle 2 Jahre. Als systematische Bestandsaufnahme des gesamten Bildungswesens verfolgt er langfristige Entwicklungslinien in der Bildung. Er wird von einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftler*innen verschiedener Einrichtungen verantwortet. Eine dieser Einrichtungen ist das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Die Kultusministerkonferenz (KMK) und das Bundesministerium für Bildung
und Forschung (BMBF) fördern die Erarbeitung des Berichts. Weitere Informationen unter
https://www.bildungsbericht.de/de. Dort kann auch die Onlinefassung des gesamten aktuellen Berichts heruntergeladen werden. Dier Ergebnisse zur Hochschulbildung finden sich in Kapitel F des Bildungsberichts.
(Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung)