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Hohe Zahl ausgerotteter Vogelarten verleitet zur Fehleinschätzung evolutionärer Dynamik

Die Anaga-Berge auf Teneriffa
Die Anaga-Berge auf Teneriffa. Die hier ausgestorbene Ammer Emberiza alcoveri und der ausgestorbene Stieglitz Carduelis aurelioi sind seltene Beispiele für kleine flugunfähige Vögel (Ordnung der Sperlingsvögel), von denen Fossilien gefunden wurden. Foto: Manuel Steinbauer.

Mit dem Verlust ihrer Flugfähigkeit haben sich Vögel im Laufe der Evolution an die einzigartigen Lebenswelten abgelegener ozeanischer Inseln angepasst. Seit der Mensch diese Inseln besiedelte, hat er jedoch die meisten flugunfähigen Vogelarten ausgerottet. Eine internationale Forschungsgruppe mit dem Bayreuther Ökologen Prof. Dr. Manuel Steinbauer hat das Ausmaß dieses Artenverlustes erstmals umfassend untersucht. Die in „Science Advances“ veröffentlichte Studie zeigt, dass ein falsches Bild von der evolutionären Dynamik im Vogelreich entsteht, wenn die flugunfähig gewordenen, vom Menschen ausgerotteten Arten unbeachtet bleiben.

Die Anzahl der Vogelarten, die sich an die einzigartigen Bedingungen auf Inseln angepasst und ihre Flugfähigkeit verloren haben, ist – wie die neue Studie zeigt – erheblich größer, als in der Forschung weithin angenommen wird. Tatsächlich hat diese evolutive Anpassung ungefähr vier Mal häufiger stattgefunden als es scheint, wenn sich Berechnungen allein auf die von Ausrottung verschonten Vogelarten stützen.

„Was wir als ursprüngliche ‚Natur‘ wahrnehmen, ist in Wahrheit durch Eingriffe des Menschen erheblich beeinflusst. Oft können wir aufgrund des heutigen Zustands die natürlichen Prozesse der Vergangenheit nicht mehr verstehen. Der Verlust der Flugfähigkeit im Vogelreich ist dafür ein gutes Beispiel. Unsere Analysen zeigen, dass in mehr als der Hälfte aller Vogel-Ordnungen mindestens eine Vogelart ihre Flugfähigkeit verloren hat. Der Verlust der Flugfähigkeit hat sich für die betroffenen Arten ursprünglich als evolutionärer Vorteil erwiesen, und das in mindestens 150 voneinander unabhängigen Fällen“, sagt Prof. Dr. Manuel Steinbauer von der Universität Bayreuth.

Wenn es auf abgelegenen, isolierten ozeanischen Inseln keine am Boden lebenden Fressfeinde gab, brachte die Flugfähigkeit für die dort lebenden Vögel oft mehr Nachteile als Vorteile. Daher haben sich auf solchen Inseln flugunfähige Vögel entwickelt, die größer waren als ihre Vorfahren. Sie haben für sich genau diejenigen Ressourcen erschlossen, die auf dem Festland bis heute von großen Säugetieren genutzt werden. So konnten sich die hervorragend angepassten flugunfähigen Vögel in ihren natürlichen Lebensräumen in vielen Hunderttausenden von Jahren gut behaupten. Doch letztlich wurden diese Arten flächendeckend zur leichten Beute der Menschen. Sie waren nicht an Feinde angepasst und lebten in vielen Fällen ohne Fluchtinstinkte. Eines der wohl berühmtesten Beispiele dafür ist der Dodo. Dieser etwa ein Meter große, flugunfähige Vogel wurde von Seefahrern auf der Insel Mauritius entdeckt und galt bis zu seiner Ausrottung als beliebtes Nahrungsmittel.

Gemeinsam mit Partnern an der Universität Göteborg, dem Institut für Zoologie in London und den Londoner Royal Botanic Gardens, Kew hat Prof. Dr. Manuel Steinbauer die aus verschiedensten Quellen stammenden Daten zum Verlust der Flugfähigkeit systematisch ausgewertet. Dabei bestätigte sich, dass es Hotspots dieses globalen Phänomens gab: So lebten auf Hawaii und Neuseeland jeweils mehr als 20 flugunfähig gewordene Vogelarten, darunter riesige Gänse bzw. Moa. „Insgesamt sind 581 Vogelarten nachweislich vom Menschen ausgerottet worden. Wenn man sie zu den heute noch lebenden Vogelarten addiert, steigt die Zahl der Vogelarten insgesamt nur um fünf Prozent. Doch der Anteil der flugunfähigen Vogelarten erhöht sich dadurch auf das Vierfache“, sagt Steinbauer.

Universität Bayreuth


Originalpublikation:

F. Sayol, M. J. Steinbauer et al.: Anthropogenic extinctions conceal widespread evolution of flightlessness in birds. Science Advances (2020), Vol 6, no. 49.

https://dx.doi.org/10.1126/sciadv.abb6095