Überzählige B-Chromosomen sind im Gegensatz zu den A-(Standard-)Chromosomen für das normale Wachstum und die Entwicklung von Organismen nicht erforderlich. Sie sind jedoch weit verbreitet. So wurden B-Chromosomen bis heute in fast 3 000 Arten entdeckt. Die meisten B-Chromosomen haben in kleiner Zahl keine selektiven Folgen, eine höhere Anzahl kann jedoch zu phänotypischen Abweichungen und verminderter Fruchtbarkeit führen. Um ihre Eliminierung zu vermeiden, beeinflussen viele B-Chromosomen die Zellteilung zu ihren Gunsten und erhöhen dabei ihre Kopienzahl. Dieses Phänomen wird als „chromosome drive“ bezeichnet. Die „egoistischen“ B-Chromosomen werden also nur aktiv, wenn es um ihre Existenz geht und nicht aber um den Vorteil des Trägers.
Der B-Chromosomen „drive“ wurden bereits in vielen Arten mit verschiedenen Ansätzen untersucht, von der klassischen Genetik bis zur Zytogenetik. Doch obwohl sie ein idealer Testfall für die Untersuchung dieses Phänomens sind, konnte die B-Chromosomen-Forschung bis heute kaum vom technologischen Fortschritt im Bereich der Sequenzierung profitieren. Grund dafür ist die komplexe Zusammensetzung der B-Chromosomen Sequenz. Deshalb ist es sehr schwer, Einblick in die Prozesse zu bekommen, die den „chromosome drive“ steuern. Gene, die dieses Phänomen regulieren, wurden bisher nicht identifiziert.
Um die verantwortlichen Faktoren des Roggen-B-Chromosoms zu finden, identifizierte das internationale Forscherteam unter Leitung des IPK-Leibniz-Instituts zunächst die chromosomale Position der „drive“ Gene. Anschließend nutzten die Forscher lange DNA-Sequenzen und assemblierten das Roggen-B-Chromosom zu einem etwa 430 Mb langen Pseudomolekül, setzten es also neu zusammen. „Mit Hilfe dieses Pseudomoleküls haben wir fünf Kandidatengene identifiziert, deren Bedeutung für die Steuerung des ‚chromosome drive‘ auch durch weitere Studien unterstützt wird“, berichtet Jianyong Chen, Erstautor der Studie, die jetzt in der Fachzeitschrift "Nature Communications" veröffentlicht wurde. „Das DCR28-Gen stach dabei eindeutig heraus“, betont Prof. Andreas Houben, Leiter der IPK-Arbeitsgruppe „Chromosomenstruktur und -funktion“. Das Forschungsteam konnte zudem nachweisen, dass das B-Chromosom aus Fragmenten aller sieben Standard-A-Chromosomen entstanden ist.
Diese Erkenntnisse könnten auch für die Erforschung von Erbkrankheiten beim Menschen hilfreich sein, die auf einer ungleichen Verteilung von Chromosomen beruhen.
IPK-Leibniz-Institut
Originalpublikation:
Chen, J., Bartoš, J., Boudichevskaia, A. et al. The genetic mechanism of B chromosome drive in rye illuminated by chromosome-scale assembly. Nat Commun15, 9686 (2024). doi.org/10.1038/s41467-024-53799-w