VBIO News http://example.com VBIO News de Copyright Sat, 13 Dec 2025 11:59:08 +0100 Sat, 13 Dec 2025 11:59:08 +0100 TYPO3 news-35159 Fri, 12 Dec 2025 11:29:21 +0100 Ameisensäure im Fokus https://www.vbio.de/aktuelles/details/ameisensaeure-im-fokus Ein künstliches Schlüssel-Enzym eröffnet die Umwandlung von CO₂ über Ameisensäure zu Rohstoffen.Formiat, das Salz der Ameisensäure, gilt als wichtiger zukünftiger Drehpunkt nachhaltiger Biotechnologien. Ein Team am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie hat ein Enzym entwickelt, das Formiat effizient zu Formaldehyd umwandelt. Dies ist entscheidend für die nachhaltige Umwandlung von CO₂ in wertvolle Rohstoffe. Das neue Enzym, FAR, toleriert hohe Formiatkonzentrationen: eine wichtige Voraussetzung für industrielle Prozesse.  Für eine kohlenstoffneutrale Bioökonomie sind Verfahren erforderlich, die CO₂ effizient binden und in wertvolle Produkte umwandeln. Ameisensäure beziehungsweise ihr Salz Formiat gilt als vielversprechender Kandidat: Sie lässt sich aus CO₂ mittels erneuerbarem Strom herstellen, ist leicht transportierbar, ungiftig und vielseitig verwendbar. Die Forschung konzentriert sich unter anderem auf Mikroorganismen, die mit aus CO₂ erzeugter Ameisensäure „gefüttert“ werden und daraus Grundchemikalien oder Treibstoffe produzieren. 

Ein Team unter Leitung von Dr. Maren Nattermann am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie entwickelte ein maßgeschneidertes Enzym, das den zentralen Umwandlungsschritt präzise und stabil in einem einzigen enzymatischen Vorgang ausführt. 
Einbau eines synthetischen Stoffwechsel-Bypasses

Die enzymatische Lösung baut auf früheren Forschungsarbeiten auf, in denen das Team einen vollständig synthetischen Formylphosphat-Weg in Bakterien etablierte. Bislang konnten nur bestimmte Bakterien Ameisensäure verwerten. Natürliche Stoffwechselwege umgehen dabei das Zwischenprodukt Formaldehyd, das als wichtiger Ausgangspunkt für die Integration von CO₂ in den Zellstoffwechsel dient. Die Forschenden konstruierten eine künstliche Brücke: einen synthetischen Formylphosphat-Stoffwechselweg, den sie in lebenden E. coli-Bakterien einbauten. Kooperationspartner Dr. Sebastian Wenk (Universität Groningen) erklärt: „Unsere Arbeit zeigte, dass ein synthetischer Stoffwechselweg zur Verarbeitung von Formiat in lebenden Organismen funktioniert – ein bedeutender Schritt zur Entwicklung biotechnologisch nutzbarer Mikroorganismen, die aus CO₂ gewonnenes Formiat zur Herstellung von Lebensmitteln, Kraftstoffen und Materialien einsetzen können.“ Das Formaldehyd wird von der Zelle unmittelbar weiterverarbeitet und reichert sich nicht an. 

Allerdings muss die Verbindung zum Zellstoffwechsel robust sein – immerhin konkurriert sie mit dem eingespielten, in Millionen von Jahren evolvierten natürlichen Stoffwechsel. Bisher existierten nur komplexe und anfällige mehrstufige enzymatische Kaskaden, die empfindliche Zwischenprodukte wie Formylphosphat oder Formyl-CoA freisetzen – Moleküle, die leicht zerfallen oder unerwünschte Nebenreaktionen eingehen. Aus biotechnologischer Sicht ist das Ziel eine „Vollformiat-Diät“, bei der Bakterien ausschließlich mit Ameisensäure wachsen, ohne kostspielige Zusatzstoffe. 
Ein einziges Enzym führt den entscheidenden Schritt aus

Kürzlich gelang der Gruppe der entscheidende Durchbruch: ein maßgeschneidertes Formiat-Reduktase-Enzym, das präzise und robust Ameisensäure zu Formaldehyd umsetzt. Das FAR (Formiat-Reduktase) genannte Enzym basiert auf einer Carboxylsäure-Reduktase (CAR) aus dem Bakterium Mycobacteroides abscessus. Das CAR-Enzym wurde durch gezielte Mutagenese und Hochdurchsatz-Screening so verändert, dass es bevorzugt kleine Moleküle wie Formiat wählt. „Mit FAR haben wir erstmals ein einzelnes, robustes Enzym, das Formiat zuverlässig zu Formaldehyd reduziert – genau dort, wo viele biotechnologische Wege beginnen“, erklärt Max-Planck-Forschungsgruppenleiterin Dr. Maren Nattermann. „Damit schaffen wir einen fehlenden Baustein für künftige Biokonversionen, die direkt auf CO₂-basierten Rohstoffen beruhen.“ 

„Das Wichtigste ist, dass unser Enzym selbst hohe Formiatkonzentrationen toleriert – denn unter diesen Bedingungen versagten frühere Systeme nahezu vollständig.“, ergänzt Philipp Wichmann, Erstautor der Studie. Gerade diese Stabilität macht FAR für industrielle Prozesse attraktiv, in denen Formiat elektrochemisch in sehr hohen Konzentrationen erzeugt wird. 

Ohne den Einsatz von Hochdurchsatzmethoden wäre dieses Ergebnis in kurzer Zeit nicht erreichbar gewesen. „Nach dem Screening von etwa 4.000 Varianten erzielten wir eine fünffache Steigerung der Formaldehydproduktion“, erklärt Maren Nattermann. 

Mit FAR steht nun ein Enzym zur Verfügung, das sowohl in lebenden Zellen als auch in zellfreien Systemen oder elektrobiochemischen Produktionslinien eingesetzt werden kann. So könnten künftig Grundchemikalien, Biokunststoffe oder Treibstoffe aus CO₂-basiertem Formiat hergestellt werden. Die Forschenden planen bereits, FAR mit weiteren synthetischen Stoffwechselwegen zu kombinieren, beispielsweise zur Produktion energiereicher Moleküle.

Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie


Originalpublikation:

Wichmann, P.; Cox-Fermandois, C.; Küffner, A.M.; Linne, U.; Erb, T.; Nattermann, M.: Engineering a Formic Acid Reductase, ACS Catalysis 15, 20485–20495 (2025), pubs.acs.org/doi/10.1021/acscatal.5c04079

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Wissenschaft Biobusiness Hessen
news-35158 Fri, 12 Dec 2025 11:23:34 +0100 Säugetiere: Länger leben durch Kastration und Verhütung https://www.vbio.de/aktuelles/details/saeugetiere-laenger-leben-durch-kastration-und-verhuetung Ein internationales Forschungsteam, darunter Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, hat untersucht, wie sich verschiedene Formen der Fortpflanzungsunterbindung auf die Lebenserwartung von Säugetieren in Zoos auswirken. Grundlage waren Daten von 117 Arten, die weltweit in Zoos und Aquarien gehalten werden, ergänzt durch eine Metaanalyse von 71 bereits publizierten Studien. Das Ergebnis: Sowohl langfristige hormonelle Verhütung als auch dauerhafte chirurgische Sterilisation erhöhen die Lebensdauer, im Schnitt um zehn Prozent.  Warum werden manche Säugetiere sehr alt, während andere nur wenige Jahre leben? Eine Elefantenkuh kann bis zu 80 Jahre alt werden, bekommt aber im Laufe ihres Lebens meist nur wenige Junge. Eine Maus dagegen lebt höchstens ein paar Jahre, kann aber theoretisch mehr als Hundert Nachkommen zur Welt bringen.

Die Evolutionstheorie erklärt solche Unterschiede durch einen grundlegenden Kompromiss: Arten müssen Energie zwischen Fortpflanzung und Erhalt des eigenen Körpers blancieren. Eine neue Studie liefert nun deutliche Belege für diesen evolutionären Trade-off – und das über eine erstaunlich große Bandbreite von Säugetieren hinweg, einschließlich des Menschen.

Fortpflanzung und Überleben: Ein evolutionärer „Trade-off”

Fortpflanzung ist kostspielig. Schwangerschaft, Stillzeit, Spermienproduktion, Paarungsverhalten und elterliche Fürsorge erfordern alle viel Energie. Selbst wenn ein Tier sich nicht aktiv fortpflanzt, beeinflussen Sexualhormone wie Testosteron und Östrogen Wachstum, Verhalten und Alterungsprozesse und verbrauchen Ressourcen, die ansonsten für die Erhaltungung des Körpers zur Verfügung stünden. „Zoos bieten einen einzigartigen Rahmen, um diese Dynamiken zu untersuchen“, erklärt Johanna Stärk, eine der Autor:innen. „Die kontrollierte Fortpflanzung in einigen Individuen, zum Beispiel durch Kastration oder Sterilisation, ermöglicht natürliche Vergleichsgruppen innerhalb identischer Umgebungen.“

Lebensverlängernde Effekte fanden sich in vielen Säugetiergruppen – von Primaten über Beuteltiere bis hin zu Nagetieren. Besonders stark ausgeprägt war der Effekt zum Beispiel bei weiblichen Mantelpavianen, die unter hormoneller Verhütung im Schnitt 29 Prozent länger lebten, während die kastrierten Männchen 19 Prozent länger lebten. „Unsere Studie zeigt, dass Fortpflanzung messbare und mitunter deutliche Auswirkungen auf die Lebenserwartung von Säugetieren hat“, sagt Fernando Colchero, einer der leitenden Autoren. „Wenn weniger Energie in die Reproduktion fließt, steht mehr Energie für Prozesse der Langlebigkeit zur Verfügung.“

Beide Geschlechter leben länger – aber aus unterschiedlichen Gründen

Wird die Fortpflanzung unterbunden, steigt die Lebenserwartung sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Tieren – jedoch aus aus verschiedenen biologischen Gründen. Bei Männchen verlängert sich die Lebensdauer ausschließlich durch eine Kastration, nicht aber durch eine Vasektomie, wie Hauptautor Mike Garratt von der Universität Otago erläutert: „Das weist darauf hin, dass der lebensverlängernde Effekt mit dem Wegfall von Testosteron zusammenhängt. Besonders ausgeprägt war er, wenn die Kastration bereits früh im Leben erfolgte – also vor der Geschlechtsreife, in der viele testosterongesteuerte Prozesse einsetzen.“

Bei Weibchen verlängern verschiedene Formen der Verhütung oder Sterilisation das Leben, vermutlich weil die körperlich belastenden Fortpflanzungsprozesse, wie Schwangerschaft und Stillzeit entfallen. Auch die Entfernung der Eierstöcke, wodurch die Produktion von Eierstockhormonen unterbunden wird, zeigte positive Effekte.

Eine Meta-Analyse von Laborstudien zeigte jedoch, dass dies gesundheitliche Nachteile mit sich bringen kann – ein möglicher Erklärungsansatz für das „survival–health paradox“, nach dem Frauen nach den Wechseljahren zwar länger leben, jedoch häufiger gebrechlicher sind und häufiger an chronischen Krankheiten leiden als Männer. Zudem unterscheiden sich die Todesursachen: Kastrierte Männchen sterben seltener an aggressions- oder risikobasiertem Verhalten, während Weibchen mit unterbundener Fortpflanzung seltener an Infektionen sterben. Dies unterstützt die Annahme, dass die hohen Energiekosten der Schwangerschaft das Immunsystem der Mütter schwächen können.

Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen

Daten beim Menschen liegen nur begrenzt vor. Historische Aufzeichnungen, etwa von Eunuchen am königlichen Hof der Chosun-Dynastie in Korea, deuten darauf hin, dass kastrierte Männer im Durchschnitt rund 18 Prozent länger lebten als nicht kastrierte Männer. Diese Befunde müssen jedoch vorsichtig interpretiert werden, da die Genauigkeit der Aufzeichnungen unsicher ist. Bei Frauen zeigt sich, dass eine chirurgische Sterilisation aus nicht-krankheitsbedingten Gründen – etwa Hysterektomie oder Oophorektomie – nur minimal mit einer Verringerung der Lebenserwartung verbunden ist: etwa ein Prozent im Vergleich zu nicht sterilisierten Frauen. „Fortpflanzung ist von Natur aus kostspielig“, betonen die Autoren. „Beim Menschen können Faktoren wie Gesundheitsversorgung, Ernährung und soziale Unterstützung diese Kosten jedoch abfedern oder verändern.“

Die Studie macht deutlich, dass Fortpflanzung bei Säugetieren mit erheblichen biologischen Kosten einhergeht – ein grundlegender evolutionärer Trade-off zwischen Reproduktion und Überleben. Diese Kosten entstehen durch ein Zusammenspiel hormonell gesteuerter Prozesse sowie durch die vielfältigen Risiken und Belastungen, die mit der Fortpflanzung verbunden sind.

Welche Mechanismen dabei genau wirken, bleibt jedoch offen und verlangt weitere Forschung. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Kosten der Fortpflanzung bei einer Vielzahl von Säugetieren erheblich und messbar sind“, schlussfolgern die Autoren. „Das Verständnis dieser Trade-offs vertieft unser Verständis über die Evolution des Alterns und in die unterschiedliche Art und Weise, wie Geschlechter Überleben und Fortpflanzung ausbalancieren.“

Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie


Originalpublikation:

Garratt, M., Lagisz, M., Staerk, J. et al. Sterilization and contraception increase lifespan across vertebrates. Nature (2025). doi.org/10.1038/s41586-025-09836-9

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Wissenschaft Sachsen
news-35141 Fri, 12 Dec 2025 11:14:00 +0100 Bären: Konsumverhalten im Klimawandel https://www.vbio.de/aktuelles/details/baeren-konsumverhalten-im-klimawandel Bären sind wahre Allesfresser. Diese Flexibilität macht sie zu erfolgreichen Überlebenskünstlern in verschiedensten Lebensräumen. Ein internationales Forschungsteam hat nun erstmals in großem Umfang ökologische und paläoökologische Daten zu sieben Bärenarten ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten Bärenarten ihre Ernährung je nach Klima und Nahrungsangebot flexibel anpassen und damit auch ihre ökologische Funktion ändern. Das Forschungsteam zeigt in der neuen Studie, dass eine veränderte Rolle großer Raubtiere die Widerstandsfhigkeit von Ökosystemen gegenüber dem globalen Wandel stärken könnte.  Beeren, Wurzeln, Nüsse und Gräser, aber auch Insekten, Fische oder Säugetiere – der Speiseplan von Bären ist abwechslungsreich. Je nach Art und Jahreszeit variiert die Zusammensetzung ihrer Nahrung stark. So frisst der Braunbär im Sommer und Herbst vor allem Beeren oder Nüsse und im Frühjahr mehr Fleisch. Diese Anpassungsfähigkeit macht Bären zu erfolgreichen Überlebenskünstlern in verschiedensten Regionen der Erde, von arktischen Tundren bis zu dichten tropischen Wäldern. „Allesfresser, sogenannte Omnivoren, können in Ökosystemen eine dynamische und stabilisierende Rolle einnehmen, wenn sich Umweltbedingungen verändern. Obwohl es sie in nahezu allen Ökosystemen und Nahrungsnetz-Ebenen gibt, wissen wir bislang erstaunlich wenig darüber, wie sie in terrestrischen Lebensräumen auf Veränderungen reagieren“, erklärt Dr. Jörg Albrecht vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt.

In einer neuen Studie hat Albrecht gemeinsam mit einem internationalen Team aus 18 europäischen und kanadischen Forscher*innen erstmals umfangreiche ökologische und paläoökologische Daten zu sieben Bärenarten – den größten landlebenden Raubtieren – kombiniert. „Im Gegensatz zu den meisten anderen großen Raubtieren bevorzugen Bären eine vergleichsweise eiweißarme Ernährung. Die meisten Arten zeigen zudem deutlich weniger anatomische und physiologische Merkmale, die sie auf Fleischkonsum festlegen würden. Diese Flexibilität ermöglicht ihnen eine außergewöhnlich vielseitige Ernährung“, erläutert der Senckenberg-Forscher und fährt fort: „Dadurch übernehmen Bären viele ökologische Rollen zugleich: Sie jagen Beutetiere, fressen Aas, breiten Samen aus und ernähren sich von Pflanzen. Auf diese Weise beeinflussen sie Beutetierbestände, das Wachstum und die Verbreitung von Pflanzen, den Nährstoffkreislauf und den Energiefluss – sowohl in Land- als auch in Gewässerökosystemen.“

Durch die Kombination makroökologischer und paläoökologischer Methoden konnten die Forschenden zeigen, dass die meisten Bärenarten ihre Stellung im Nahrungsnetz flexibel an die Verfügbarkeit von Ressourcen und an das Klima anpassen. In Regionen mit geringem Nahrungsangebot und kurzen Vegetationsperioden ernähren sie sich stärker fleischbasiert, während sie in produktiven Gebieten mit langen Wachstumszeiten vor allem pflanzliche Nahrung bevorzugen. „Unsere Isotopenanalysen an fossilen Bärenknochen aus dem späten Pleistozän und Holozän zeigen zudem, dass der Europäische Braunbär im Zuge steigender Primärproduktion und längerer Vegetationsperioden nach der letzten Eiszeit vor circa 12.000 Jahren zunehmend auf pflanzliche Nahrung umstieg“, ergänzt Koautor Prof. Dr. Hervé Bocherens vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen. 

Die Studie unterstreicht den Wert naturhistorischer Sammlungen für die Forschung zu globalen Umweltveränderungen. Das Team untersuchte Knochenmaterial von Braunbären und Rothirschen, das in 14 naturhistorischen und paläontologischen Sammlungen in ganz Europa aufbewahrt wird. Rothirsche wurden einbezogen, da sie ausschließlich pflanzliche Nahrung zu sich nehmen und somit eine klare Referenz liefern, um zu bestimmen, ob Braunbären auf niedrigeren oder höheren Ebenen des Nahrungsnetzes fressen. „Die Arbeit mit den Sammlungsobjekten gleicht einer Detektivarbeit: Isotopenanalysen eröffnen ein Fenster in die Vergangenheit und ermöglichen es uns, zu rekonstruieren, was diese Tiere vor Tausenden von Jahren während der letzten Eiszeit gefressen haben – zu einer Zeit, als die Welt ganz anders war als heute“, so Seniorautorin Prof. Dr. Nuria Selva von der Doñana Biological Station (CSIC) in Spanien und dem Institut für Naturschutz der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN).

Die Ergebnisse zeigen einen bisher wenig beachteten Zusammenhang: Große Allesfresser verändern ihre Rolle im Ökosystem – das Forschungsteam spricht von einer „trophischen Neuverdrahtung“. „Unsere Ergebnisse heben die entscheidende Rolle der omnivoren Megafauna, zu der viele große Fleischfresser gehören, in Ökosystemen hervor. Sie können dazu beitragen, dass Nahrungsnetze trotz globaler Umweltveränderungen wie dem Klimawandel stabil bleiben. Auf diese Weise tragen große Fleischfresser zur Resilienz und Stabilität von Ökosystemen bei, was in einer sich schnell verändernden Welt von entscheidender Bedeutung ist“, sagt Selva.

Albrecht fasst zusammen: „Der globale Wandel verändert die Struktur von Nahrungsnetzen an Land und im Wasser grundlegend – mit teils drastischen Folgen für ganze Ökosysteme. Gerade große Allesfresser an der Spitze der Nahrungskette sind hier besonders interessant. Sie nutzen ein breites Spektrum an Nahrungsquellen, sind sehr anpassungsfähig und reagieren oft schnell auf Umweltveränderungen. Wenn sich ihre Rolle im Ökosystem – etwa von Räubern zu Pflanzenfressern – verschiebt, kann das die Struktur ganzer Nahrungsnetze verändern. Die Art und Weise, wie Allesfresser auf Umweltveränderungen reagieren, könnte daher ein empfindlicher Frühindikator für tiefgreifende Umbrüche in Ökosystemen sein.“

Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt


Originalpublikation:

Albrecht, J., Bocherens, H., Hobson, K.A. […] & Selva, N. (2025) Dynamic omnivory shapes the functional role of large carnivores under global change. Nature Communications 16:10896. https://doi.org/10.1038/s41467-025-65959-7

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Nachhaltigkeit/Klima Wissenschaft Hessen
news-35157 Fri, 12 Dec 2025 11:10:27 +0100 Amazonas-Regenwald: Gefahr durch Landnutzung und Klimawandel https://www.vbio.de/aktuelles/details/amazonas-regenwald-gefahr-durch-landnutzung-und-klimawandel Eine neue Studie schätzt, dass Landnutzungsänderungen in Verbindung mit einer Klimaerwärmung bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zum Verlust von bis zu 38 Prozent der Amazonas-Waldfläche führen könnten.  Der Amazonas ist der größte Regenwald der Welt. Seine 5,5 Millionen Quadratkilometer stellen einen Hotspot der Artenvielfalt dar, sind Lebensgrundlage für indigene Gemeinschaften und eine Stellschraube des Klimageschehens. In Biomasse und Böden speichert der Regenwald ein Zehntel des gesamten Kohlenstoffs der terrestrischen Ökosysteme. Über seine enorme Verdunstungsleistung zieht der Amazonaswald Feuchte vom Ozean ins Landesinnere, wo der Niederschlag immer wieder verdunstet und abgeregnet wird. Hierdurch hält sich der Wald selbst am Leben.

Dies ist jedoch auch der Grund, warum der Amazonas-Regenwald in Gefahr ist, wenn sich Ackerflächen und Viehzucht auf Kosten der Waldfläche ausdehnen oder die globale Erwärmung Dürren und Hitzewellen im Amazonasbecken verursacht. Beide Einflussfaktoren, Landnutzungsänderung und Klimawandel, hinterließen bereits in der Vergangenheit zunehmend Schäden. Dennoch fehlten bislang klare Aussagen dazu, wie beide Faktoren zusammenwirkten und vor allem, wie sich die Waldflächen in der Zukunft entwickeln würden. Besorgniserregend sind hier vor allem abrupte Übergänge von dichter Waldbedeckung zu einer savannenähnlichen offenen Landschaft. Geschieht dies großflächig, wäre ein “Kipppunkt” erreicht, an dem das Ökosystem möglicherweise unumkehrbar verloren ginge.

Ein Team um die LMU-Geographin Selma Bultan leitete nun die erste Analyse, die die Auswirkungen von Landnutzungsänderung und Klimawandel systematisch zusammen betrachtet. Die Ergebnisse wurden nun im Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) veröffentlicht. Unter Verwendung von Erdsystemmodellen mit dynamischer Vegetation analysierten die Forschenden den Waldrückgang im Amazonasbecken von 1950 bis 2014 und prognostizierten den zukünftigen Rückgang unter zwei verschiedenen Klimazenarien. “Unsere Analyse zeigt, dass Ende des Jahrhunderts bis zu 38 Prozent der 1950 vorhandenen Waldfläche verloren gehen könnten. Dabei sind 25 Prozent dieses Verlustes auf Landnutzungsänderungen und 13 Prozent auf steigende Temperaturen zurückzuführen.” erklärt Selma Bultan. “Damit würden wir den Schwellwert von 20 bis 25 Prozent erreichen, vor dem frühere Studien als Kipppunkt des Amazonaswaldes gewarnt haben.”

Und tatsächlich zeigen die Analysen des Teams, dass das Risiko eines abrupten statt eines allmählichen Rückgangs der Waldfläche bei einer Erwärmung von mehr als 2,3 °C erheblich ansteigt. "Mit den derzeitigen Politikmaßnahmen und gesicherten Klimaschutzversprechungen steuern wir auf eine Erderwärmung von mindestens 2,5 °C zu”, erklärt Koautorin Julia Pongratz, Professorin für Physische Geographie und Landnutzungssysteme an der LMU. “Positive Entwicklungen wie der auf der Klimakonferenz im Belém beschlossene verstärkte Regenwaldschutz müssen ausgebaut werden, während wir das Tempo beim Kampf gegen die Erderwärmung beschleunigen. Der Wert des Amazonaswaldes ist viel zu hoch, als dass wir seine Existenz aufs Spiel setzen könnten.”

Ludwig-Maximilians-Universität München


Originalpublikation:

S. Bultan,Y. Moustakis,S. Bathiany,N. Boers,R. Ganzenmüller,G. Gyuleva, & J. Pongratz, Amazon forest faces severe decline under the dual pressures of anthropogenic climate change and land-use change, Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS). U.S.A. 122 (50) e2418813122, https://doi.org/10.1073/pnas.2418813122 (2025)

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Nachhaltigkeit/Klima Wissenschaft Bayern
news-35156 Fri, 12 Dec 2025 11:00:07 +0100 Harnstoff: Überraschender Kraftstoff für Meeresmikroben https://www.vbio.de/aktuelles/details/harnstoff-ueberraschender-kraftstoff-fuer-meeresmikroben Harnstoff ist eine wesentliche Energiequelle für ammoniak-oxidierende Archaeen (AOA) im offenen Ozean. AOA in Küstengewässern hingegen bevorzugen Ammonium. eine aktuelle Studie von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Marine Mikrobiologie legt nahe, dass organischer Stickstoff viel wichtiger für die Produktivität der Ozeane ist als bisher vermutet.  Ammoniak-oxidierende Archaeen (AOA) gehören zu den häufigsten Mikroorganismen im Meer, sie spielen eine zentrale Rolle im Stickstoffkreislauf. Doch trotz ihrer weiten Verbreitung rätseln Forschende seit langem, wie diese Mikroorganismen im nährstoffarmen Wasser des offenen Ozeans wachsen können, wo ihre wichtigste Stickstoff- und Energiequelle, Ammonium, oft nur spärlich vorhanden ist.

Eine neue Studie unter der Leitung von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Marine Mikrobiologie in Bremen löst nun einen Knackpunkt dieses Rätsels: Einige AOA nutzen neben Ammonium auch Harnstoff, eine weit verbreitete organische Stickstoffverbindung, als Energie- und Stickstoffquelle.

Das Forschungsteam untersuchte die beiden wichtigsten AOA-Gruppen im Meer: Nitrosopumilus, die typischerweise in nährstoffreichen Küstengewässern leben, und Nitrosopelagicus, die im offenen Ozean vorherrschen. Die Studie nutzt Daten von Expeditionen in drei sehr unterschiedliche Meeresregionen: den Golf von Mexiko, wo reichlich Ammonium vorhanden ist, die offenen Gewässer des Angola-Wirbels, wo es fast gar kein Ammonium gibt, und das Schwarze Meer, das in tieferen Gewässern eine hohe Ammoniumkonzentration hat, in dessen flachen Teilen jedoch fast gar kein Ammonium zu finden ist. Die jetzt in Nature Communications veröffentlichten Ergebnisse zeigen, warum die verschiedenen AOA-Gruppen in diesen unterschiedlichen Meeresregionen leben.

Zwei Mikroorganismen, zwei Strategien

Die Max-Planck-Forschenden zeigen, dass die Küstengattung Nitrosopumilus am liebsten Ammonium nutzt. Harnstoff nutzt sie nur dann, wenn Ammonium knapp ist. „Nitrosopumilus wächst schnell, wenn Ammonium verfügbar ist. Damit ist die Gattung gut gerüstet für das Leben in ammoniumreichen Küstengewässern“, sagt Erstautorin Jördis Stührenberg.

Die im offenen Ozean vorkommende Gattung Nitrosopelagicus verhält sich ganz anders. Sie nutzt sowohl Ammonium als auch Harnstoff gleichermaßen gut und verwendet Harnstoff auch dann, wenn reichlich Ammonium vorhanden ist. Diese Gattung scheint perfekt an das Leben in nährstoffarmen Gewässern angepasst zu sein. „Nitrosopelagicus-Zellen haben mehr Möglichkeiten“, sagt Katharina Kitzinger, ebenfalls Erstautorin der Studie. „Wenn sowohl Ammonium als auch Harnstoff vorhanden sind, können sie ihre Wachstumsrate sogar verdoppeln, indem sie beides gleichzeitig nutzen.“

Die meisten vorliegenden Untersuchungen beschäftigen sich mit der Nitrifikation auf Basis von Ammonium. Die nun vorliegende Forschungsarbeit legt aber nahe, dass Harnstoff und möglicherweise auch andere organische Stickstoffverbindungen eine weitaus größere Rolle für die Produktivität der Ozeane spielen könnten als bisher angenommen. „Wir unterschätzen womöglich die Nitrifikationsraten in den ausgedehnten, nährstoffarmen Meeresgebieten“, sagt Mitautorin Hannah Marchant.

Einzelzell-Nachweis für unterschiedliche Lebensweisen

Um genau zu bestimmen, welche AOA welche Stickstoffquellen nutzen, mussten die Forschenden Nitrosopumilus und Nitrosopelagicus voneinander unterscheiden. Das war aber mit den vorhandenen molekularen Werkzeugen nicht zuverlässig möglich. Daher entwickelten sie neue, hochspezifische Sonden, um die beiden Gruppen unter dem Mikroskop visuell auseinanderhalten zu können. Mit diesen Sonden konnten die Forschenden mithilfe von NanoSIMS-Bildgebung verfolgen, wie die einzelnen Zellen einer Gruppe Stickstoff verwerten. „Mit den neuen Sonden konnten wir sehen, wer in gemischten Gemeinschaften wie denen im Schwarzen Meer welche Rolle spielte“, sagt Stuehrenberg. „In Kombination mit den NanoSIMS-Analysen zeigen wir, dass Nitrosopumilus hauptsächlich mit Ammonium wuchs, während Nitrosopelagicus sowohl Ammonium als auch Harnstoff nutzte und selbst dann noch Harnstoff verwendete, wenn es reichlich Ammonium gab.“

Bedeutung für den weltweiten Nährstoffkreislauf

AOA, insbesondere Nitrosopelagicus, gehören zu den am häufigsten vorkommenden Mikroorganismen in den Ozeanen. Dass sie Harnstoff und andere organische Stickstoffquellen nutzen können, beeinflusst vermutlich stark, wie Nährstoffe im Meer verfügbar sind und in weiterer Folge auch die Primärproduktion im offenen Ozean und den globalen Kohlenstoffkreislauf.

„Es ist sehr wichtig, dass wir verstehen, was diese Mikroorganismen antreibt“, sagt Marcel Kuypers, Letztautorl der Studie. „Sie spielen eine bedeutende Rolle im Stickstoffkreislauf, und ihre Aktivität trägt dazu bei, die Nährstoffverfügbarkeit im Ozean und die globale Kohlenstoffbilanz zu steuern.“

Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie


Originalpublikation:

Stuehrenberg, J., Kitzinger, K., von Arx, J.N. et al. Urea use drives niche separation between dominant marine ammonia oxidizing archaea. Nat Commun 16, 10946 (2025). doi.org/10.1038/s41467-025-67048-1

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Wissenschaft Bremen
news-35140 Thu, 11 Dec 2025 10:55:54 +0100 Schnurren verrät mehr als Miauen https://www.vbio.de/aktuelles/details/schnurren-verraet-mehr-als-miauen Das Schnurren von Hauskatzen verrät deutlich mehr über ihre persönliche Identität als ihr Miauen. Während Miaus sehr flexibel sind und sich je nach Situation stark verändern, bleibt das Schnurren von Katzen konstant und individuell erkennbar. Mit Methoden der automatischen Spracherkennung und unter Einsatz des Tierstimmenarchivs am Berliner Naturkundemuseum analysierte ein Forschungsteam Laute von Haus- und Wildkatzen und fand heraus, dass Domestikation vor allem die Variabilität des Miauens erhöht hat.  „Menschen achten vor allem auf das Miauen, weil Katzen diese Laute hauptsächlich gegenüber uns einsetzen“, erklärt der Erstautor der Studie, Danilo Russo. „Aber nachdem wir die akustische Struktur genau untersuchten, stellte sich das gleichmäßige Schnurren als das bessere Mittel zur Identifikation verschiedener Individuen heraus.“ Das Team, an dem auch die Bioakustikerin Mirjam Knörnschild aus dem Museum für Naturkunde Berlin beteiligt war, analysierte Miau- und Schnurrlaute von Hauskatzen mit Methoden, die ursprünglich für die automatische Spracherkennung beim Menschen entwickelt wurden, und stellte eine einfache Frage: Wie zuverlässig kann ein Computer allein anhand des Klangs jede Lautäußerung dem richtigen Individuum zuordnen? Schnurren und Miauen erwiesen sich beide als individuell unterscheidbar – aber Schnurrlaute lagen klar vorn.

„Jede Katze in unserer Studie hatte ihr eigenes, charakteristisches Schnurren“, sagt Co-Autorin Anja Schild. „Schnurren tritt häufig in entspannten Situationen auf, etwa beim Streicheln oder engem Kontakt mit einer vertrauten Person. Auch dient es schon kurz nach der Geburt der Kommunikation zwischen Katzenmutter und Kitten. Miauen hingegen ist berühmt für seine Vielseitigkeit.“ Katzen miauen in unterschiedlichsten Situationen, vor allem in der Kommunikation mit Menschen – beim Betteln um Futter, beim Einfordern von Aufmerksamkeit oder sogar beim ‚Beschweren‘. Diese Flexibilität spiegelt sich in den akustischen Daten wider: Miaus zeigten deutlich größere Variation innerhalb einzelner Individuen.

Um die Ergebnisse in einen evolutionären Kontext einzuordnen, verglichen die Forschenden außerdem die Miaus von fünf Wildkatzenarten – Falbkatze, Europäische Wildkatze, Rohrkatze, Gepard und Puma – mit jenen der Hauskatzen und nutzten dabei die umfangreiche Sammlung von Lautäußerungen im Tierstimmenarchiv des Museums für Naturkunde. Die Miaus der Hauskatzen wiesen eine viel höhere Variabilität auf als die ihrer wilden Verwandten.

„Das Leben mit Menschen, die sich in Routinen, Erwartungen und Reaktionen stark unterscheiden, hat vermutlich Katzen begünstigt, die ihre Miaus flexibel anpassen konnten. Unsere Ergebnisse stützen die Idee, dass sich Miaus zu einem hochgradig anpassungsfähigen Werkzeug entwickelt haben, um das Leben in einer vom Menschen geprägten Welt auszuhandeln,“ sagt Seniorautorin Mirjam Knörnschild.

Die Studie zeichnet ein differenziertes Bild der vokalen Kommunikation von Katzen und zeigt, wie die Domestikation vermutlich vokale Flexibilität begünstigt hat: Schnurrlaute, stereotyp und niederfrequent, dienen als verlässliche Identitätsmerkmale, die – Katzen wie Menschen – helfen können, vertraute Individuen im nahen sozialen Kontakt wiederzuerkennen. Miaus hingegen setzen auf Flexibilität statt Wiedererkennbarkeit, sodass Katzen unterschiedliche Bedürfnisse und Emotionen gegenüber ihren menschlichen Bezugspersonen ausdrücken können.

Museum für Naturkunde - Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung


Originalpublikation: 

Russo D, Schild AB, Knörnschild M (2025) Meows encode less individual information than purrs and show greater variability in domestic than in wild cats. Scientific Reports, https://rdcu.be/eT01v

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Wissenschaft Berlin
news-35139 Thu, 11 Dec 2025 10:47:15 +0100 Wie Fehler im „Zellskelett“ zu einem kleineren Gehirn führen https://www.vbio.de/aktuelles/details/wie-fehler-im-zellskelett-zu-einem-kleineren-gehirn-fuehren Forschende modellieren eine seltene Entwicklungsstörung mit menschlichen Hirn-Organoiden  Warum entwickeln einige Kinder ein zu kleines Gehirn (Mikrozephalie)? Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Deutschen Primatenzentrums – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ), der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik hat mithilfe menschlicher Hirn-Organoide untersucht, wie Veränderungen in wichtigen Strukturproteinen der Zelle zu dieser schweren Entwicklungsstörung führen.

Mutationen in Aktin-Genen verändern die Art und Weise, wie sich frühe Vorläuferzellen im Gehirn teilen. Dadurch sinkt die Zahl dieser Zellen, was dazu führt, dass das Gehirn weniger wächst und kleiner bleibt. „Unsere Erkenntnisse liefern erstmals eine zelluläre Erklärung für die Mikrozephalie bei Menschen mit dem seltenen Baraitser-Winter-Syndrom“, sagt Indra Niehaus, Erstautorin der Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Eine Störung im „inneren Zellgerüst“ verändert die Gehirnentwicklung

Aktin ist ein Grundbaustein des Zellskeletts, also der inneren Stütz- und Transportstruktur jeder Zelle. Menschen mit Baraitser-Winter-Syndrom tragen eine einzelne Genveränderung in einem von zwei zentralen Aktin-Genen. Um die Wirkung dieser Mutationen zu untersuchen, erzeugten die Forschenden aus Hautzellen von Baraitser-Winter-Syndrom Patient*innen induzierte pluripotente Stammzellen. Daraus bildeten sie dreidimensionale Hirn-Organoide, die wichtige Schritte der frühen menschlichen Gehirnentwicklung nachstellen.
Die Ergebnisse waren deutlich: Nach dreißig Tagen Wachstumszeit waren die Patient*innen-Organoide rund ein Viertel kleiner als die Kontroll-Organoide von gesunden Spender*innen. Auch die inneren Ventrikel-ähnlichen Strukturen, in denen sich die Vorläuferzellen befinden und frühe Nervenzellen bilden – waren deutlich kleiner.

Weniger Stammzellen im frühen Gehirn

Ein genauer Blick auf die Zelltypen in den Organoiden zeigte eine Verschiebung: Der Anteil der apikalen Vorläuferzellen, also der zentralen Vorläuferzellpopulation der Großhirnrinde, war deutlich verringert. Gleichzeitig bildeten sich vermehrt basale Vorläuferzellen, eine Tochterzellart, die normalerweise erst später in der Entwicklung vermehrt auftritt. 

Zellteilungen kippen in die falsche Richtung

Mit hochauflösender Mikroskopie analysierte das Team die Teilung der apikalen Vorläuferzellen. Normalerweise teilen sich diese Zellen überwiegend senkrecht zur Oberfläche der Ventrikelzone. Nur so werden die Zellbestandteile gleichmäßig verteilt, und zwei neue apikale Vorläuferzellen entstehen. In den Patient*innen-Organoiden war genau dieser Prozess gestört: Der Anteil der senkrechten Teilungen war massiv verringert. Stattdessen teilten sich die Mehrheit der Zellen waagerecht oder in schrägen Winkeln. Diese veränderte Orientierung führte dazu, dass sich die apikalen Vorläuferzellen seltener selbst erneuerten, häufiger aus der Ventrikelzone herauslösten und sich in basale Vorläuferzellen umwandelten.

„Unsere Analysen zeigen sehr klar, dass eine veränderte Teilungsausrichtung der Vorläuferzellen der entscheidende Auslöser für die verringerte Gehirngröße ist“, sagt Michael Heide, Gruppenleiter am Deutschen Primatenzentrum und Letztautor der Studie. „Eine einzelne Veränderung im Zellskelett reicht aus, um den Ablauf der frühen Gehirnentwicklung entscheidend zu verändern.“

Feinste strukturelle Abweichungen mit großen Folgen

Elektronenmikroskopische Aufnahmen zeigten weitere Auffälligkeiten: Die Zellformen im Bereich der Ventrikelzone waren unregelmäßig. Es fanden sich mehr Ausstülpungen zwischen benachbarten Zellen. Zudem lag an den Zellverbindungen ungewöhnlich viel Tubulin vor, ein anderer Baustein des Zellskeletts, der eine wichtige Rolle bei der Zellteilung spielt. Obwohl die grundlegende Zellarchitektur noch erkennbar war, könnten diese Veränderungen ausreichen, um die Teilungsausrichtung dauerhaft zu stören.

Genetischer Beweis: Eine einzelne Mutation genügt

Um auszuschließen, dass Unterschiede zwischen Patient*innen- und Kontroll-Organoiden auf andere genetische Faktoren zurückzuführen sind, führte das Team ein Kontrollexperiment durch: Die gesunde Stammzelllinie wurde mit CRISPR/Cas9 so verändert, dass sie exakt dieselbe Mutation trug wie eine der Baraitser-Winter-Syndrom Patient*innen. Das Ergebnis: Die so erzeugten Hirn-Organoide zeigten die gleichen Fehlentwicklungen wie die patientenabgeleiteten Organoide – ein Beleg, dass die Mutation selbst die Ursache ist.

Was bedeutet das für Medizin und Forschung?

„Unsere Ergebnisse helfen zu verstehen, wie seltene genetische Erkrankungen komplexe Hirnfehlbildungen hervorrufen können und sie zeigen, welches Potenzial Hirn-Organoide für die biomedizinische Forschung haben“, sagt Michael Heide. 
„Das therapeutische Potential dieser Studie liegt einmal in der Diagnostik, da unsere Daten helfen, genetische Befunde bei Patient*innen besser einzuordnen. Da bei der Erkrankung frühe fötale Entwicklungsprozesse betroffen sind, wären Eingriffe beim Menschen komplex. Neue Medikamente, die das Zusammenspiel von Aktin und Mikrotubuli beeinflussen, könnten jedoch langfristig neue Ansätze eröffnen“, so Nataliya Di Donato, Direktorin des Instituts für Humangenetik an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Deutsches Primatenzentrum GmbH - Leibniz-Institut für Primatenforschung


Originalpublikation:

Niehaus, I., Wilsch-Bräuninger, M., Mora-Bermúdez, F. et al. Cerebral organoids expressing mutant actin genes reveal cellular mechanism underlying microcephaly. EMBO Rep (2025). doi.org/10.1038/s44319-025-00647-7

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Wissenschaft Niedersachsen
news-35138 Thu, 11 Dec 2025 10:33:38 +0100 Hitzestress im Flussbett: Studie untersucht Fluss-Mikrobiom https://www.vbio.de/aktuelles/details/hitzestress-im-flussbett-studie-untersucht-fluss-mikrobiom Ob Mississippi oder Quellbach – im Sediment halten Mikroben unermüdlich zentrale Stoffkreisläufe im Gleichgewicht. Doch mit steigenden Temperaturen arbeiten sie vermehrt im Stressmodus. Das zeigt eine internationale Studie unter Leitung der Universität Duisburg-Essen, für die Erbgut und mRNA aus über 20 nordamerikanischen Flüssen untersucht wurden. Die Ergebnisse bestätigen Muster, die auch in europäischen Gewässern beobachtet wurden.  Viele verbinden den Begriff Mikrobiom mit dem menschlichen Körper. Doch auch in Flüssen und Bächen existieren komplexe mikrobielle Lebensgemeinschaften, die für stabile Ökosysteme unverzichtbar sind. „Im Sediment, dort wo Grund- und Flusswasser aufeinandertreffen, sorgen unzählige Mikroben dafür, dass Stickstoff- und Schwefelkreisläufe funktionieren“, erklärt Alexander Probst, Professor für Environmental Metagenomics an der Universität Duisburg-Essen (UDE) sowie Forschungsprofessor am Research Center One Health Ruhr der Universitätsallianz Ruhr. 

Um diese Gemeinschaften besser zu verstehen, untersuchte sein Team Wasserproben und die oberste Sedimentschicht aus 23 nordamerikanischen Flüssen. Eingebettet in ein groß angelegtes Citizen-Science-Projekt der Colorado State University entstanden so umfassende Datensätze aus 363 Proben. Mit einer Kombination aus Metagenomik, die das genetische Potenzial einer Gemeinschaft sichtbar macht, und mRNA-Analysen, die zeigen, welche Gene tatsächlich aktiv sind, konnten die Forschenden das Funktionsspektrum der Mikroben präzise erfassen. 

Dabei offenbarte sich ein klarer Unterschied: Während Mikroben in Wasser und Sediment ähnliche genetische Eigenschaften besitzen und vergleichbare Stoffwechselfunktionen übernehmen, stehen die Sedimentgemeinschaften dauerhaft unter Stress. „Sie sind intensiv mit der Umwandlung von Schwefel- und Stickstoffverbindungen beschäftigt und aktivieren dabei auffallend viele Stress-Gene – darunter solche, mit denen sie Hitzeschutz-Proteine aufbauen“, so Dr. Lennard Stach, Erstautor der Studie. „Natürlich reagieren Mikroben immer wieder auf Temperaturschwankungen. Aber wir sehen über ganz Nordamerika hinweg eine ähnliche Stressantwort, unabhängig vom Standort.“

„Die Fluss-Mikrobiome sind zwar hochgradig anpassungsfähig“, resümiert Probst. „Mit steigenden Temperaturen und häufigeren Extremereignissen im Zuge des Klimawandels wächst dieser Anpassungsdruck – mit möglichen Folgen für die Stabilität ganzer Ökosysteme.“

Um Flüsse anderer Kontinente in den an der UDE angesiedelten Sonderforschungsbereich RESIST (SFB 1439) einzubinden, absolvierte Dr. Lennard Stach einen Forschungsaufenthalt an der Colorado State University. Die Kooperation machte deutlich: Die in nordamerikanischen Flüssen beobachteten Muster stimmen mit Ergebnissen aus Deutschland überein. Dort hatten UDE-Wasserexpert:innen in künstlich angelegten Mini-Flussökosystemen gezielt Stressfaktoren wie Hitze oder Salz untersucht – mit ähnlichen Reaktionen der Mikroben.

Universität Duisburg-Essen


Originalpublikation:

Stach, T.L., Starke, J., Bouderka, F. et al. Conserved environmental adaptations of stream microbiomes in the hyporheic zone across North America. Microbiome 13, 253 (2025). doi.org/10.1186/s40168-025-02236-1

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Wissenschaft Nordrhein-Westfalen
news-35137 Thu, 11 Dec 2025 10:29:16 +0100 Tropische Wirbelstürme und der Kohlenstoffkreislauf: Neue Erkenntnisse aus einer Modellsimulation https://www.vbio.de/aktuelles/details/tropische-wirbelstuerme-und-der-kohlenstoffkreislauf-neue-erkenntnisse-aus-einer-modellsimulation Zum ersten Mal haben Forschende extrem starke tropische Wirbelstürme und deren Auswirkungen auf den Kohlenstoffkreislauf im Ozean in einem globalen Erdsystemmodell untersucht. Anhand von zwei Hurrikanen der Kategorie 4 im Nordatlantik zeigt die Studie eine Kaskade physikalisch-biogeochemischer Effekte auf, darunter die Aufnahme von Kohlendioxid in den Ozean sowie eine regionale Blüte von Phytoplankton.  Die Kraft tropischer Wirbelstürme ist gewaltig: Wo sie vorbeiziehen, hinterlassen die zerstörerischen Windgeschwindigkeiten, heftigen Böen und starken Regenfälle deutliche Spuren. Auch der Ozean bleibt von Wirbelstürmen nicht unberührt. Durch das Aufwirbeln der Wasseroberfläche vermischen sich Wassermassen, und Wärme und Kohlenstoff werden mit der Atmosphäre ausgetauscht. Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Meteorologie und der Universität Hamburg haben diese Wechselwirkungen erstmals in einem globalen, sturm- und wirbelauflösenden Erdsystemmodell dargestellt und damit die Kaskade physikalisch-biogeochemischer Mechanismen nachvollzogen, die durch tropische Wirbelstürme ausgelöst wird.

„Klassische Erdsystemmodelle haben einen groben Gitterabstand von 100 bis 200 Kilometern, wodurch sie sehr intensive tropische Wirbelstürme, insbesondere Wirbelstürme der Kategorien 4 und 5, nicht realistisch darstellen können“, erklärt David Nielsen, Erstautor der Studie. „Mit einer horizontalen Auflösung von fünf Kilometern im ICON-Modell und unter Einbeziehung der Ozean-Biogeochemie-Komponente HAMOCC konnten wir tropische Wirbelstürme der Kategorie 4 in der Simulation sehen und ihre Auswirkungen auf den Kohlenstoffkreislauf untersuchen.“ Konkret betrachtete das Team zwei Hurrikane im Nordatlantik mit Windgeschwindigkeiten von über 200 Kilometern pro Stunde, die in der einjährigen Simulation im September 2020 im Abstand von etwa einer Woche auftraten.

Auswirkungen auf Kohlenstoff und Phytoplankton

Die Wissenschaftler*innen zeigten, dass durch die Hurrikane große Mengen von Kohlendioxid aus dem Ozean in die Atmosphäre gelangten, etwa 20- bis 40-mal mehr als unter normalen Wetterbedingungen. Die Hurrikane kühlten jedoch auch die Meeresoberfläche ab, wodurch der Ozean für mehrere Wochen nach dem Sturm mehr Kohlendioxid aufnehmen konnte. In Kombination führten diese beiden gegensätzlichen Effekte – sofortige Freisetzung und langfristige Aufnahme – zu einer geringen Nettoaufnahme.

Ein weiterer auffälliger Effekt der Hurrikane war, dass sie eine Durchmischung der oberen Wasserschicht bewirkten, wodurch Nährstoffe an die Oberfläche gelangten. Das Wachstum des Phytoplanktons verzehnfachte sich daraufhin. Die Blüte hielt nach dem Durchzug der Hurrikane noch einige Wochen an und beschränkte sich nicht nur auf deren Zugbahn: Lokale Strömungen, die teilweise durch die Stürme verstärkt wurden, verteilten die Biomasse über weite Teile des westlichen Nordatlantiks. „Es war spannend zu sehen, dass die Hurrikane dadurch auch die Menge an organischem Kohlenstoff erhöhten, der im Ozean versank, und so zur langfristigen Speicherung von Kohlenstoff in tieferen Schichten des Ozeans beitrugen“, so Tatiana Ilyina, Gruppenleiterin und Ko-Autorin der Studie.
Bisher lagen Forschenden Beobachtungen zu einigen dieser Prozesse vor. „Diese Simulation ermöglicht es uns jedoch, sie im Detail zu untersuchen und mit dem globalen Maßstab in Verbindung zu bringen. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie tropische Wirbelstürme auf die globale Erwärmung reagieren und unser Klima beeinflussen könnten“, sagt Nielsen. Als nächstes wird das Team auch andere Prozesse im Kilometermaßstab und deren Auswirkungen auf den Kohlenstoffkreislauf im Ozean untersuchen – beispielsweise die Wechselwirkungen zwischen Stürmen und Ozeanwirbeln, nicht nur in den Tropen, sondern auch in den Polarregionen.

Max-Planck-Institut für Meteorologie


Originalpublikation:

Nielsen, D., Chegini, F., Serra, N., Kumar, A., Brüggemann, N., Hohenegger, C., and Ilyina, T. (2025) Resolved tropical cyclones trigger CO2 uptake and phytoplankton bloom in an Earth system model simulation. PNAS, Vol. 120, No. 0, e2506103122, https://doi.org/10.1073/pnas.2506103122

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Nachhaltigkeit/Klima Hamburg
news-35135 Thu, 11 Dec 2025 09:38:15 +0100 Wie verändert der Mensch den Arktischen Ozean? https://www.vbio.de/aktuelles/details/wie-veraendert-der-mensch-den-arktischen-ozean Im Rahmen des EU-Projekts ECOTIP hat ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Helmholtz-Zentrums Hereon das Meer vor Grönland so umfassend analysiert wie selten zuvor. Die Kernfrage: Wie entwickelt sich das Gebiet angesichts von Klimawandel und Umweltverschmutzung? Die Ergebnisse sind erstaunlich - und besorgniserregend. Das Meer enthält beispielsweise auch heute noch Blei aus Zusatzstoffen im Benzin, obwohl diese seit rund 30 Jahren verboten sind. In den Ozeanen bilden Nährstoffe, gelöstes Kohlendioxid und Spurenelemente die Nahrungsgrundlage und sind essenziell für viele natürliche Prozesse. Der menschengemachte Klimawandel beeinflusst diese Meereschemie erheblich. So gelangen zum Beispiel überschüssige Nährstoffe von Äckern über Flüsse ins Meer und auch die Industrie setzt neuartige, teils giftige Stoffe frei. Das kann gefährliche Folgen für Ökosysteme weltweit haben.

Messungen in aller Tiefe

Um herauszufinden, wie stark der Mensch diese Grundlage des Lebens in den Ozeanen verändert, hat ein Team aus internationalen Forschenden in dem EU-Projekt ECOTIP das Meer vor der Westküste Grönlands intensiv untersucht. ECOTIP steht für „Arctic biodiversity change and its consequences: Assessing, monitoring, and predicting the effects of ecosystem tipping cascades on marine ecosystem services and dependent human systems“. Die Expedition wurde vom National Institute of Aquatic Resources der Technical University of Denmark (DTU Aqua) organisiert und mit dem dänischen Forschungsschiff „Dana” umgesetzt. Viele internationale Projektpartner waren daran beteiligt.

Die Arktis steht besonders im Fokus, wenn es um die Folgen des Klimawandels geht, denn sie erwärmt sich deutlich schneller als der Rest der Erde. Das Team nahm an über 30 Standorten Wasserproben von der Oberfläche bis in mehrere Hundert Meter Tiefe. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Hereon-Institut für Kohlenstoff-Kreisläufe analysierten Hunderte dieser Proben auf das Vorhandensein chemischer Stoffe. Sie nutzten Methoden, die selbst feinste Spuren bestimmter Substanzen nachweisen können. 

Das Erbe der Blei-Ära

Unter den gemessenen Schadstoffen fiel Blei besonders auf. Blei wurde bis in die 1990er-Jahre Benzin beigemischt und gelangte so in großen Mengen in die Umwelt. Mit Luftströmungen wanderte es aus den dichtbesiedelten Regionen der Erde bis in die Arktis. Wie die Ergebnisse zeigen, lässt es sich dort immer noch in hohen Konzentrationen nachweisen – vor allem im Süden Grönlands, das näher an den USA und Europa liegt. „Wir haben festgestellt, dass es auch weiter im Norden zu finden ist“, sagt die Hereon-Wissenschaftlerin und Erstautorin Claudia Elena Schmidt. „Es gelangt über Meeresströmungen aus dem Süden dorthin. An diesem Beispiel kann man sehr gut sehen, wie lange solche Schwermetalle in der Natur verbleiben“ – eine Warnung für die Zukunft und den Umgang mit heutigen Problemstoffen.

Fortschreitende Versauerung 

Auch die Zunahme des Klimagases Kohlendioxid (CO2) wirkt sich auf das Meer aus. CO2 aus der Atmosphäre löst sich im Wasser und bildet dort – stark vereinfacht – Kohlensäure. Es trägt so zur Versauerung des Ozeans bei. Letztlich stößt es eine chemische Kettenreaktion an, die die Konzentration von Kalziumkarbonat im Wasser senkt. Muscheln und Schnecken benötigen Kalziumkarbonat zum Bau ihrer Schalen und Gehäuse. Je weniger davon im Wasser vorhanden ist, desto mehr Energie müssen die Tiere aufbringen, um es aus dem Meer zu filtern. Sollte die Versauerung weiter fortschreiten, kann das zunehmend den Bau ihrer Kalkschalen, ihr Wachstum und ihre Fortpflanzung negativ beeinträchtigen. Die Daten zeigen, dass es in den arktischen Gewässern einen deutlich sichtbaren Versauerungstrend gibt.

Momentaufnahme mit Seltenheitswert

Die Ergebnisse der Studie liefern eine umfassende Momentaufnahme vom Zustand des Meeres vor Grönland und helfen, den Einfluss des Klimawandels auf die Meereschemie zu verstehen. „Damit ist es uns gelungen, Wissenslücken zu schließen, weil viele Stoffe dort seit Jahrzehnten nicht mehr gemessen worden sind“, betont Claudia Elena Schmidt. „Die Metalle zum Beispiel wurden zuletzt in den 1990er-Jahren genauer untersucht.“

Helmholtz-Zentrum Hereon


Originalpublikation:

Schmidt, C. E., Zimmermann, T., Koziorowska, K., Pröfrock, D., and Thomas, H.: Influences on chemical distribution patterns across the west Greenland shelf: the roles of ocean currents, sea ice melt, and freshwater runoff, Biogeosciences, 22, 7053–7078, doi.org/10.5194/bg-22-7053-2025, 2025

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Nachhaltigkeit/Klima Schleswig-Holstein