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Tiefbohrung im ältesten und artenreichsten See Europas liefert neue Erkenntnisse zur Evolution

Der Ohrid-See an der Grenze zwischen Albanien und Nordmazedonien
Der Ohrid-See an der Grenze zwischen Albanien und Nordmazedonien Foto: Thomas Wilke

Je älter und stabiler ein Ökosystem ist, umso langlebiger sind die dort lebenden Arten und umso beständiger die Artengemeinschaften. Diese neuen Erkenntnisse zur Evolution konnte ein internationales Forscherteam unter der Leitung der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Universität Köln mit Hilfe einer Tiefbohrung im Ohrid-See gewinnen und jetzt in der Fachzeitschrift „Science Advances“ veröffentlichen. Der 1,4 Millionen Jahre alte See an der Grenze zwischen Albanien und Nordmazedonien ist nicht nur der derzeit älteste, sondern mit mehr als 300 nur dort vorkommenden, sogenannten endemischen Spezies auch der artenreichste See in Europa.

Um die Evolutionsereignisse seit der Entstehung des Sees zu untersuchen, kombinierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Umwelt- und Klimadaten eines 568 Meter langen Sedimentkerns mit den darin enthaltenen Fossilbelegen von über 150 endemischen Kieselalgenarten. Dabei zeigte sich, dass kurz nach der Bildung des Sees neue Arten innerhalb von wenigen tausend Jahren entstanden. Viele von ihnen starben aber in dem verhältnismäßig kleinen und flachen See auch sehr schnell wieder aus. Das Forschungsteam erklärt dies damit, dass junge Seen von geringer Größe viele neue ökologische Möglichkeiten bieten, aber auch besonders sensibel auf Umwelteinflüsse wie Temperatur-, Seespiegel- und Nährstoffschwankungen reagieren.

Nachdem der See tiefer und größer wurde, verlangsamten sich die Artbildungs- und Aussterbeprozesse drastisch. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen dies darauf zurück, dass weniger neue Habitate entstanden, der Artenreichtum sich einer ökologischen Kapazitätsgrenze annäherte und der See die Umwelteinflüsse besser abfedern konnte. Die Erkenntnis, dass sich im Laufe der Entwicklung des Ohrid-Sees eine dynamische Ansammlung von evolutionär kurzlebigen Arten in eine stabile Gemeinschaft langlebiger Arten wandelt, liefert ein neues Verständnis der evolutionären Dynamik in Ökosystemen. Die Studie wird damit auch eine große Bedeutung für die künftige Biodiversitätsforschung haben.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Ökosysteme mit zunehmendem Alter und Größe stabiler werden und besser mit natürlichen Klimaschwankungen zurechtkommen können“, sagt der Leiter der Studie Prof. Dr. Thomas Wilke und warnt gleichzeitig: „Das heißt aber nicht, dass sie nicht kippen können.“ Mit Blick auf die drastischen und vom Menschen verursachten Umwelt- und Klimaveränderungen fügte er hinzu: „Nicht nur das einzigartige Ökosystem des Ohrid-Sees ist gefährdet, wenn die Umwelteinflüsse sich zu rasch und zu stark verändern.“

Universität Gießen


Originalpublikation:
Wilke et al.: Deep drilling reveals massive shifts in evolutionary dynamics after formation of ancient ecosystem, SCIENCE ADVANCES, 2020, 6, eabb2943.doi.10.1126/sciadv.abb2943

https://doi.org/10.1126/sciadv.abb2943