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Des Menschen bester Freund: Der Regenwurm

Regenwurm, Bild: PixabayCC0

Sie sind klein, unscheinbar und ziemlich bedeutend: Regenwürmer sind vermutlich stärker an der Entstehung der modernen Zivilisation beteiligt als bisher angenommen. Das legen Erkenntnisse aus einer Studie des Sonderforschungsbereiches (SFB) 1266 „TransformationsDimensionen – Mensch-Umwelt Wechselwirkungen in Prähistorischen und Archaischen Gesellschaften“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) nahe.

Ein Kieler Forschungsteam hatte die Böden an einer archäologischen Fundstelle in der Ukraine analysiert und festgestellt, dass tiefgrabende Regenwürmer von prähistorischer Landwirtschaft profitierten und im Gegenzug fruchtbare Böden schufen. Dies hat erhebliche Auswirkungen für die Rekonstruktion der für die Menschheit so entscheidenden „Agrarischen Revolution“, mit der sich Landwirtschaft und Viehhaltung weltweit verbreitete.

Bodenprofil-Analyse stützt These Darwins

Charles Darwin widmete dem Regenwurm 1881 ein Buch. Beobachtungen und Experimente führten ihn zu dem Schluss, dass die Würmer äußerst nützlich für den Ackerbau sind – entgegen der damaligen gesellschaftlichen Ächtung als Schädlinge. In den Fokus nahm Darwin auch die Entstehung der Ackerböden. Seine These: An ihrer Entstehung war der Regenwurm entscheidend beteiligt.

Das archäologisch-paläoökologische Kieler Forschungsteam hat sich die Untersuchung der fruchtbarsten Ackerböden vorgenommen, der humosen Schwarzerden Mittel- und Osteuropas. „Das natürliche Vorkommen dieses Bodentyps konzentriert sich normalerweise auf die vom Kontinentalklima geprägten Eurasischen Steppen zwischen der Ukraine und China. Ihr Vorkommen und ihre Entstehung in den gemäßigten Klimazonen Mittel- und Osteuropas war lange Zeit ein Rätsel“, sagt PD Dr. Stefan Dreibrodt als Geoarchäologie und Bodenkundler im Team. Er hat mit Charles Darwins Annahme im Hinterkopf die Bodengenese über archäologischen Fundstellen in der Zentralukraine erforscht, an denen die Schwarzerde zu finden ist.

Die kupferzeitliche Mega-Siedlung Maidanets’ke (3990–3640 v. Chr.) stand im Fokus der Untersuchungen. Sie gehört zu den frühen prähistorischen Großsiedlungen, in denen bereits zehntausende Menschen zusammenlebten. Für die Untersuchung wurden 34 Bodenprofile von verschiedenen Orten entnommen und später im Labor untersucht. Dabei zeigt sich: Zur Versorgung der großen Einwohnerschaft wurde die gesamte umliegende Landschaft verändert. Die dort siedelnden Menschen haben Wälder gerodet und landwirtschaftliche Nutzflächen angelegt. „Die nun vorhandene offene Agrarlandschaft veränderte abrupt die Bedingungen für alle Lebewesen. So auch für Regenwürmer. Die Böden waren fortan ausgeprägter Hitze und Trockenheit im Sommer und strengem Frost im Winter ausgesetzt“, erklärt Dreibrodt. Gleichzeitig stand in der geöffneten Landschaft ganzjährig mehr Nahrung für Regenwürmer zur Verfügung. Von dieser Kombination profitierten tiefgrabende Regenwürmer, die den Hitze- und Frostperioden dadurch entkommen können, dass sie sich tief in die Erde zurückziehen. Um ihre senkrechten Gänge offenzuhalten, transportieren solche tiefgrabenden Arten permanent Material nach oben. Dadurch häufen sie organisches Material an der Bodenoberfläche – wie es Charles Darwin beschrieben hatte. In 5.000 Jahren wurde so Schicht für Schicht die humusreiche Schwarzerde aufgebaut.

Regenwürmer als Teil der jungsteinzeitlichen Agrarischen Revolution

Im vorderasiatischen Fruchtbaren Halbmond – wie die Region zwischen der Türkei und der Arabischen Halbinsel auch genannt wird – wechselten die Menschen vor ca. 12.000 Jahren von wildbeuterischen Versorgungsstrategien zur sesshaften, agrarisch-produzierenden Lebensweise. Dieser historisch wichtige Schritt wird als Agrarische Revolution bezeichnet. Fortan lebten die Menschen ortsfester, züchteten Vieh, bauten Pflanzen gezielt an und produzierten Keramik (u.a. zur Verarbeitung und Speicherung der Ernte). Diese archäologisch nachweisbaren, mit der neuen jungsteinzeitlichen Lebensweise verbundenen Aktivitäten werden im sogenannten „Neolithischen Paket“ über viele Jahrhunderte von Anatolien über Südosteuropa bis nach Mitteleuropa verbreitet. Obwohl die klimatischen Verhältnisse entlang dieses Weges sehr variabel sind, bilden fruchtbare Schwarzerden in den jungsteinzeitlichen Kernzonen die dominierenden Böden, erklärt Prof. Dr. Eileen Eckmeier, Kieler Professorin für Geoarchäologie und Umweltrisiken.

Ihren Forschungsergebnissen aus der Ukraine folgend, sehen Protagonist Dreibrodt und die anderen Mitglieder des Teams in der neolithischen Landschaftstransformation den auslösenden Impuls zur Förderung tiefgrabender Regenwürmer. „Regenwürmer müssen zum Neolithischen Paket hinzugezählt werden“, sagt Professor Johannes Müller, Sprecher des Sonderforschungsbereichs 1266. „Tiefgrabende Regenwürmer bilden als Bestandteil des Neolithischen Pakets das ‚missing link‘ zwischen Mensch und Boden, das bislang unbekannt war. Ein Meilenstein für die archäologische Forschung. Und: eine Innovation, ohne die unsere moderne Zivilisation nicht entstanden wäre.“

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel


Originalpublikation:
Dreibrodt, S., Hofmann, R., Dal Corso, M., Bork, H.-R., Duttmann, R., Martini, S., Saggau, P., Schwark, L., Shatlio, L., Videiko, M., Nadeau, M.-J., Meiert Grootes, P., Kirleis, W., Müller, J. (2022). Earthworms, Darwin and prehistoric agriculture-Chernozem genesis reconsidered. Geoderma Volume 409, 2022. DOI: https://doi.org/10.1016/j.geoderma.2021.115607